Erkenne dich selbst wie deinen Nächsten
„Ich glaube, dass die
meisten Menschen besser von andern gekannt werden, als sie sich selbst kennen.“
(Georg Christoph
Lichtenberg)
Ich
muss gestehen, dass ich nach manchem Blogartikel nicht besonders gut schlief.
Bekanntlich versuche ich, meine Kritik
nicht auf reale Personen zu richten
– es sei denn, diese hätten irgendeinen Unsinn bereits selber veröffentlicht:
Dann erlaube ich mir gelegentlich, diesen per „Copy & Paste“ auf meine
Seite herüberzuholen – aber auch dann nur in extremen Fällen unter Nennung des realen Namens.
Grund
dafür ist nicht eine besonders hochstehende Moral, sondern schlichte Vernunft:
Probleme löst man nicht, indem man eine spezielle Person heruntermacht und die
es einem mit massiver Feindschaft dankt, während alle anderen, die es ähnlich
beträfe, erleichtert feststellen, dass sie ja nicht gemeint seien.
Normalerweise
versuche ich daher, Geschichten so zu verfremden,
dass sich selbst der Betroffene kaum noch wiedererkennt. Speziell Gastautoren sind oft sehr besorgt, dass
sie in ihrer heimischen Szene sonst der Verachtung anheimfallen könnten.
Das
Dumme ist halt, dass die Anonymisierung
Grenzen hat: Etlichen Personen ist eben bekannt, welche Milongas ich
kürzlich besuchte, haben vielleicht sogar die eine oder andere Anspielung von
mir live mitbekommen. Es steht zu befürchten, dass sie dies im Rahmen des
üblichen Milonga-Tratsches nicht für
sich behalten. Schlimmer noch: Manche Satiren
sind halt nur witzig, wenn sie ziemlich nah an der Wirklichkeit bleiben – und damit steigt die Erkennungsgefahr.
Den
einen oder anderen Artikel habe ich daher unterlassen, die Mehrzahl jedoch
unter erheblichem Bauchgrimmen
veröffentlicht – in banger Erwartung, wie sich denn die betreffende Person,
wenn ich ihr das nächste Mal analog begegnete, mir gegenüber verhalten werde:
heftige Kritik oder „nur“ das tangoübliche Stilmittel des totalen Ignorierens?
Meine
sensationelle Erfahrung nach bald zehn Jahren Schreiberei:
Ich habe Solches in
der Realität noch nie erlebt!
Und
auch von Gastautoren ist mir
Entsprechendes nie zu Ohren gekommen. Im Gegenteil: Gerade „Tango-Offizielle“,
welche früher oft grußlos an mir vorbei liefen, nehmen mich in den letzten
Jahren – oft sogar sehr freundlich – zur Kenntnis (obgleich gerade sie nicht
selten zu den „Betroffenen“ gehören).
Die
einfachste Erklärung ist natürlich:
Nicht alle lesen meine Texte. Nun gut, derzeit sind es an die 500 Zugriffe
täglich, aber das stellt natürlich nur einen Bruchteil der Tangoszene dar. Von
etlichen Betroffenen weiß ich jedoch, dass sie es oft genug tun, zumindest im
speziellen Zusammenhang!
Können
sich die Gemeinten so gut verstellen,
dass sie freundlich tun, obwohl sie mir gerne den Kopf abreißen würden?
Fallweise erscheint das möglich, jedoch wäre es Tangolehren und Veranstaltern
ja ein Leichtes, mich so zu behandeln wie früher – und andere glaube ich gut
genug zu kennen, dass mir dieses Manöver auffallen würde.
Oder
haben sie die Größe, mir meine Frechheiten nachzusehen und sie mit Humor zu nehmen? Kann gelegentlich
schon sein – aber ich kenne „Gemeinte“, welche über diese schöne Eigenschaft
nachweislich nicht verfügen.
Ich
fürchte, die Erklärung ist häufig
ebenso simpel wie ernüchternd: Sie erkennen sich nicht wieder, da ihr Selbstbild von der Fremdeinschätzung Lichtjahre entfernt ist!
Dies
ist mir neulich auf einer Milonga wieder einmal eindrucksvoll klar geworden –
und ich gebe mir nun aufrichtige Mühe, nicht zu deutlich und damit persönlich
zu werden:
Bekanntlich
wurde neulich in der FB-Gruppe „Tango
München“ dringendst gefordert, endlich eine strenge „Rondadisziplin“ per „Guerilla-Aktion“ umzusetzen –
mittels eines Handzettels, welcher die „Spur-Verordnung“ bildlich
veranschaulichte:
Resultat:
Heftigste Zustimmung der Münchner Ronda-Freunde (an die 40 „Gefällt mir“-Angaben,
die Mehrzahl der Kommentare hymnisch lobend), einige Dissidenten wie Peter
Ripota und meine Wenigkeit wurden routiniert gedisst.
Nebenbei:
In Deutschland gibt es zirka 500 verschiedene Verkehrsschilder (Gesamtzahl 20
Millionen, also alle 28 Straßenmeter eines; Kosten pro Stück um die 150 €).
Dennoch gab es 2016 über 2,5 Millionen Verkehrsunfälle, davon mehr als 300000
mit Personenschaden.
Kurz
danach lief mir bei einer Tangoveranstaltung ein Hauptakteur (geschlechtsneutral formuliert) des obigen Geweses über
den Weg – und was war? Freundlichste Begrüßung plus dem Bekenntnis, es sei ja „sehr
lustig“ gewesen, was ich geschrieben hätte – und man habe mit einer derart
heftigen Debatte gar nie nicht gerechnet – kurz: Friede, Freude, Eierkuchen!
Im
weiteren Verlauf zeigte diese Person, da wohl alkoholmäßig nicht ganz
unbeeinflusst – ein äußerst zwangloses
Verhalten, welches ich aus Diskretionsgründen nicht in allen Einzelheiten
schildern kann. Nur so viel: Füße auf dem Stuhl und lautes Gekreische auf dem
Parkett (zur laufenden Musik) gehörten dazu.
Aha,
das sollte nun also als Vorbild des
mit Feuer und Schwert propagierten „rücksichtsvollen
Verhaltens“ dienen?
Ein
extremes Beispiel für meine These, dass solche Bemühungen (welche ja grundsätzlich von mir unterstützt werden) ins Leere laufen. Gerade diejenigen,
welche es beträfe, fühlen sich mit Sicherheit nicht gemeint – und jene, welche eh
schon über adäquates Benehmen verfügen, fühlen sich durch die ganze
Schulmeisterei bevormundet.
Weil
man bei dem Thema so gerne die Regeln des Straßenverkehrs
zitiert: Natürlich sind diese den Autofahrern bekannt. Aber genau jene, die sich
am lautesten über Verstöße beklagen, beachten sie am wenigsten. Stets sind „die anderen“ schuld, welche so „rücksichtslos“
fahren. Und das betrifft nicht nur im Tango vor allem die Männer (welche sich an derartigen Diskussionen ja besonders häufig beteiligen):
Eine
Untersuchung des ADAC ergab: Während sich
nur zwölf Prozent der Autofahrerinnen für besser als die anderen Autofahrer
hielten, bewerteten sich fast die Hälfte der Männer als besser oder gar viel
besser. Die nackten Tatsachen sprechen allerdings eine andere Sprache: In der
Realität waren 42 Prozent der Männer schlechter als ihre Selbsteinschätzung.
Bei den Frauen waren das lediglich 29 Prozent.
Ähnliche
Untersuchungen existieren auch für das Berufs- oder Liebesleben: Stets liegen
vor allem bei den Herren Innen- und Außenansicht weiter auseinander.
Der
Psychiater Dr. Raphael Bonelli sagt
dazu:
„Ich habe häufig
Frauen in meiner Praxis, die klagen, dass ihre Männer nicht den geringsten
Fehler zugeben können, sich für perfekt halten und Unzulänglichkeiten immer nur
beim anderen sehen. Das ist eine partnerschaftliche Katastrophe.“
Schlimm
könne es auch werden, wenn „ein
Selbstüberschätzer, der keinerlei Empathie besitzt, Psychologie studiert und
dann auf seine Klienten losgelassen wird.“ Auch das sollte man bedenken…
Noch
eines wurde mir durch die Erfahrungen in der letzten Zeit schonungslos klar:
Ich kann eigentlich tun und schreiben, was ich will. Viele sehen oder lesen halt, was sie erwarten bzw. befürchten. So
wird man von bestimmter Seite weiterhin hören, ich wolle beim Tanzen „Anarchie“
(oder wenigstens „keine Regeln“). Am ehesten verstummen solche Anwürfe, wenn
ich um ein Zitat aus meinen Texten
bitte, welches solche Behauptungen belegt.
Nein, dann müsste man sich ja aus seiner eigenen Vorstellungswelt in die
Realität gegeben…
Bei
einem Zusammentreffen in der analogen
Welt gibt sich dann vieles: So war ich längere Zeit gern gesehener Gast auf
einer Milonga, deren Veranstalter mich vorher im Internet als „Stinkstiefel“ apostrophiert hatte.
Und
vielleicht würde auch ein Facebook-Schreiber, welcher bei Erwähnung meines
Namens gerne grüne Erbsensuppe spuckt, bei einer realen Begegnung umdenken.
Noch konnte er unter dem Pseudonym „Tröt Trallatrööt“ mit Blick auf mich
Folgendes von sich geben:
„Die einen glänzen
nach 20 Jahren Tango mit nahezu perfekter Technik und die anderen mit - nix.
Gerhard, bleib beim Schreiben,
dein Tango wird nichts mehr und den Beweis hast du ja selbst auf YouTube
veröffentlicht...
Deine Interpretation
von Biagi war ein Witz.“
Nun gut, die Geschmäcker sind verschieden. Ich wäre
neugierig, was er zum folgenden Tanzstil
gesagt hätte:
Wahrscheinlich hätte er ihn bewundert – falls ihm bekannt
gewesen wäre, dass es sich hier um das berühmte Tanzpaar Carmencita Calderón und El
Cachafaz handelt. Tja – wenn die das so tanzen, muss es toll sein (oder
zumindest originell).
Und hoffentlich akzeptieren die mir freundlich Gesonnenen weiterhin, dass ich so objektiv und ehrlich wie möglich sein möchte. Lobhudeleien bzw. Verrisse nur nach Fraktionen zu vergeben ist meine Sache nicht.
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