Liquid Lead – flüssige Führung
Das
Video am Ende dieses Beitrags halte ich für sensationell: Zwei professionelle
Tänzer und Schauspieler, Trevor Copp
und Jeff Fox, brechen mit dem „Allerheiligsten“
des Paartanzes, den zementierten Geschlechterrollen. Da ich zunächst nur die
englische Untertitelung fand und nicht weiß, wie lange es das Bildmaterial im
Netz gibt, veröffentliche ich die (von mir etwas bearbeitete) deutsche
Übersetzung des Textes:
(Die beiden
demonstrieren zusammen mit Alida Esmail
eine Salsa in ständig abwechselnden Rollen)
Trevor Copp:
Als „Let’s dance“
erstmals ins Fernsehen kam, sah es noch anders aus. Jeff und ich waren
Vollzeit-Lehrer für Gesellschaftstanz, als das große
TV-Gesellschaftstanz-Revival übertragen wurde. Und das war unglaublich. An
einem Tag sagten wir noch „Foxtrott“, und die Leute fragten: „Wie? Füchse
trotten?“ Doch schon am nächsten Tag erzählten sie uns über die feinen Aspekte
eines guten Federschritts.
Und dies haute uns
echt um. All die Standardtänzer wurden zu Nerds, so wie wir, wenn es darum
geht, warum Salsa anders funktioniert als die Turnier-Rumba, und warum man sich
beim Walzer anders bewegt als beim Tango. Über all das machten sich die Leute
jetzt Gedanken, und das veränderte alles.
Aber gleichzeitig mit
dieser Erregung, der Aufgeregtheit, dass wir nun plötzlich cool waren, gab es
auch Vorbehalte: Warum dies und warum jetzt?
Jeff Fox:
Wenn Jeff und ich uns
zu Schulungsseminaren treffen oder auch nur zum Spaß, schleudern wir uns
gegenseitig umher, wechseln uns ab, sodass jeder von uns mal führt. Wir haben
ein System zum Wechsel von Führen und Folgen beim Tanzen entwickelt, bei dem
wir uns abwechseln und fair sind. Erst als wir das System als Teil einer
Darbietung auf einem kleinen Festival vorführten, bekamen wir einen wichtigen
Schulterklopfer:
Lisa O’Connell, Dramaturgin
und Leiterin eines Theaterzentrums, nahm uns nach der Show zur Seite und sagte:
„Wissen Sie eigentlich, wie politisch das gerade war?“ So begann eine
achtjährige Zusammenarbeit, um ein Stück zu schaffen. Dabei entwickelten wir
unser Wechselsystem weiter und befassten uns mit der Wirkung, in einer einzigen
Rolle festzustecken – schlimmer noch: über diese Rolle definiert zu werden.
Trevor Copp:
Denn natürlich sind
die klassischen Standard- und Lateinamerikanischen Tänze nicht nur einfach eine
Art zu tanzen – sie sind eine Denkweise, ein Lebensstil, ein Verhältnis
zueinander, welches die Werte einer ganzen Zeit erfasst. Eine Sache jedoch ist
gleich geblieben: Der Mann führt, und die Frau folgt. Ob Street Salsa,
Turniertango, es ist immer das Gleiche: Er führt, sie folgt. Das war
Geschlechterrollen-Training.
Man hat nicht nur
Tanzen gelernt, man hat den Inbegriff des Mannes und der Frau eingeübt. Es ist
ein Relikt. Und Relikte wirft man nicht weg, aber man muss wissen: Das ist
Vergangenheit. Es ist nicht die Gegenwart. Es ist wie bei Shakespeare: Respekt,
Wiederbelebung – großartig. Aber das ist Geschichte. Das repräsentiert nicht
unsere heutige Denkweise.
So fragten wir uns:
Wenn man mal alles andere weglässt – was ist eigentlich der Kern des
Paartanzes?
Jeff Fox:
Das Kernprinzip des
Paartanzes ist, dass eine Person führt und die andere folgt. Das funktioniert,
egal, wer welche Rolle übernimmt. Die Körperbewegungen geben einen Dreck auf
Ihr Geschlecht. Würden wir die bestehende Form aktualisieren, würden wir sie
repräsentativer gestalten, also so, wie wir heutzutage – 2015 – miteinander
umgehen. Wenn Sie Gesellschaftstanz beobachten, gucken Sie nicht nur, was da
ist – schauen Sie, was fehlt.
Das Paar besteht
immer nur aus einem Mann und einer Frau – zusammen. Nur. Immer.
Gleichgeschlechtliche oder gendermäßig unangepasste Paare verschwinden einfach.
In den meisten etablierten internationalen Turniertanzwettbewerben werden
gleichgeschlechtliche Paare auf dem Parkett selten anerkannt, und in vielen
Fällen verbieten es die Regeln ganz.
Trevor Copp:
Googeln Sie mal
„Bilder von professionellen Latein-Tänzern“ und suchen Sie nach einem
richtigen Latino. Da brauchen Sie Tage. Sie werden Seite um Seite weiße,
heterosexuelle russische Paare finden, durch Sprüh-Bräuner mahagonifarben
getönt. Es gibt keine Schwarzen, keine Asiaten, keine rassisch gemischten
Paare. Was also nicht „weiß“ ist, gibt es im Grunde nicht. Selbst innerhalb
dieses Paradigmas von „nur-weiß-hetero“ darf sie nicht größer, er nicht
kleiner, sie nicht kräftiger und er nicht schmächtiger sein.
Nähme man
Gesellschaftstanz und wandelte ihn in einen Filmdialog um, würden wir das als
Kultur nicht dulden. Er diktiert, sie reagiert. Keine Beziehung, homo- oder
heterosexuell oder irgendwas, das wir auch nur im Entferntesten als gesund oder
funktional erachten, sieht so aus, und doch bringen wir es zur besten
Sendezeit, klatschen etwas Makeup drauf, fügen Glitzer hinzu – alles in
Bewegung, nicht als Text – und wir, als Kultur, schalten ein und klatschen.
Wir applaudieren
unserer eigenen Abwesenheit. Zu viele Menschen sind vom Paartanz verschwunden.
(Jeff und Trevor
demonstrieren eine Rumba mit verteilten Rollen.)
Trevor Copp:
Wir wollen das aus
einer ganz anderen Perspektive betrachten. Was, wenn wir das Prinzip von Führen
und Folgen beibehalten, aber die Idee von den Geschlechterrollen über Bord
werfen? Was, wenn wir zudem die Partner führen und folgen lassen und dann diese
Rollen tauschen? Und dann wieder zurücktauschen? Was, wenn es wie ein Gespräch
sein könnte, jeder hört abwechselnd zu und spricht, wie im realen Leben? Was,
wenn wir so tanzen könnten? Wir nennen es „Liquid Lead Dancing“ (flüssige
Führung).
(Demonstration des
Rollenwechsels bei der Salsa und beim Langsamen Walzer)
Jeff Fox:
Das Geheimnis liegt
darin, was Lisa in unserer ersten Vorführung als „politisch“ erachtete: Wir
wechseln uns nicht nur im Führen und Folgen ab, wir blieben auch in unserem Dasein,
unserer Persönlichkeit und unserer Energie beständig – egal, welche Rolle wir
einnahmen. Wir waren immer noch wir.
Und darin liegt die
wahre Freiheit – nicht nur die Freiheit, die Rollen zu tauschen, sondern auch
die Freiheit zu haben, über welche Rolle man definiert wird, die Freiheit, sich
stets selbst treu zu bleiben. Vergessen Sie, wie das Führen auszusehen hat oder
das Folgen, ein männliches Führen oder ein weibliches Folgen. Seien Sie einfach
Sie selbst.
Das gilt ja auch
außerhalb der Tanzfläche, aber auf ihr gibt es uns die ideale Gelegenheit, ein
altes Paradigma zu aktualisieren, ein altes Relikt wiederzubeleben und es mehr
an unsere Zeit, unsere Lebensweise anzupassen.
Trevor Copp:
Jeff und ich tanzen
schon immer mit Frauen und Männern, und wir lieben es. Aber wir tanzen in dem
Bewusstsein, dass dies eine Historie hat, die Stillschweigen und Unsichtbarkeit
über ein weites Spektrum von Identitäten erzeugen kann, das wir heute haben.
Wir erfanden „Liquid Lead“ als einen Weg, all die Konzepte zu entfernen, die
nicht zu uns gehören, und holen den Paartanz wieder zu dem zurück, was er einmal
war: die schöne Kunst, aufeinander zu achten.
Was
sagt uns das im Tango argentino?
Selbst wenn es die ganzen Konventionen im traditionellen Sektor nicht gäbe,
sollten wir uns bewusst werden, dass wir mit der strengen Rollenverteilung einen
historischen Tanz aufführen. Würde
ein zumindest gelegentliches Aufbrechen nicht besser zu den heutigen Vorstellungen
von Männern und Frauen „auf Augenhöhe“ passen?
Persönlich
tanze ich gelegentlich in abwechselnden Rollen, ohne hierbei große Künste
vorweisen zu können (oder zu wollen). Ich meine aber, dass jeder Paartänzer
einmal erfahren sollte, wie sich die
andere Rolle anfühlt. Es würde das Verständnis für den Tanzpartner sehr
fördern – und dazu führen, der Folgenden mehr Freiheiten einzuräumen, den Tanz
als Dialog zu begreifen.
Warum
gehören solche Übungen nicht längst zum normalen
Kursprogramm? Wegen der Befürchtung der Tangolehrer, einige homophobe
Hansel könnten aus dem Unterricht rennen? Man könnte immerhin – mit mehr Recht
als bei anderen „Traditionen“ – einmal auf die Frühgeschichte des Tango hinweisen: Dort war das Erlernen dieses
Tanzes mit gleichgeschlechtlichen Partnern die Regel – damals hauptsächlich wegen
der prüden Moralvorstellungen. Heute
haben wir andere Ideen vom Verhältnis der Geschlechter – höchste Zeit, sie auch
in den Tango einzubringen!
Den dynamischen Rollenwechsel habe ich vor einiger Zeit erlebt. Ein Riesenspaß, trotz meiner äußerst überschaubaren Fähigkeiten im Folgen. Davon mehr zu lernen steht definitiv auf der ToDo-Liste 2018.
AntwortenLöschenDas geht mir ganz ähnlich - wobei meine eher kleinen Partnerinnen beim Führen unter meinem Arm durchsehen müssen, um den rechten Weg zu finden.
LöschenIch finde es immer wieder sehr wichtig die Rollen zu tauschen, immer wieder zu erleben wie es sich anfühlen soll oder kann. Bei vielen, die das erste mal die Rolle tauschen, sehe ich ein großes Staunen, wenn sie das erste mal erleben, wie schwer es für die anderen Rolle eigentlich ist. Den dynamischen Rollenwechsel habe ich mir als todo für die nächsten Tänze eingetragen.
AntwortenLöschenLieber Kurt Kieselbach,
Löschenja, das Gefühl kenne ich. Als Lerneffekt sehr zu empfehlen!
Danke für den Beitrag und beste Grüße
Gerhard Riedl
Ich mag nicht mit Männern tanzen!
AntwortenLöschenDer Gedanke, einen Tango mit einem Mann Wange an Wange zu tanzen, dass ist mir unangenehm, sehr unangenehm!
Ich tanze mit Frauen, nur mit Frauen!
Ich habe ein klares Führungssystem: Ich Tarzan, du Jane.
Michael Pohle aus Hamburg
Macht ja nichts. Tango eignet sich auch für Menschen mit persönlichen Problemen.
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