Bleiben wir beim Sie!
„Ich plädiere übrigens mit Nachdruck für die Beibehaltung des Unterschiedes zwischen dem Du und dem Sie. Zwei Gründe! Erstens: Die Amerikaner kennen ihn nicht. Zweitens: Die Genossen duzen sich aus Weltanschauung.“ (Werner Schneyder: „Schon wieder nüchtern?“, 1990)
Man entkommt heute kaum noch den Attacken, mit denen man von Hinz und Kunz niedergeduzt wird: Auf dem Dorf haben selbst Polizeibeamte kaum noch die Chance, dieser persönlichen Anrede zu entkommen – zumindest ab einer bestimmten Promillezahl.
Streng genommen ist das jedoch nicht empfehlenswert und könnte als Beleidigung einige hundert Euro kosten. Fragt sich halt, wie lange noch...
Im Tango dagegen wird man wohl bald Strafe bezahlen müssen, wenn man beim „Sie“ bleibt. Selbst ein Tangolehrer, welcher sonst kein gutes Haar an mir lässt, reagierte beinahe gerührt, als ich ihn – aus Satiregründen – einmal mit seinem (leicht verballhornten) Vornamen ansprach. Na ja, inzwischen sind wir wieder beim „Sie“ – Gott sei Dank!
Ansonsten wird man auf den Milongas – auch wenn man einander nicht die Bohne kennt – gnadenlos ins Du-Joch gezwungen und abgeküsst, als wäre man seit früher Kindheit miteinander vertraut.
„Du kommst als Fremder und gehst als Freund“ – dieses Puff-Motto gilt auch im Tango. Verlogen ist es meist in beiden Bereichen. Schon deshalb, weil man hier wie dort nicht existierende Gefühle vortäuscht.
Kann man mit einer Frau, mit der man Brust an Brust zugange ist (ich meine jetzt den Tango) beim „Sie“ bleiben? Ich gestehe, dass mir dies zu meinen Tango-Anfängerzeiten komisch erschien. Inzwischen hätte ich, da mir der menschliche Hintergrund bewusst ist, damit keine Probleme mehr.
Selbst Friedrich Merz hat inzwischen seinem Kollegen Klingbeil erfolgreich das „Du“ angeboten. Ein besseres Beispiel für die Entwertung einer Anrede fällt mir nicht ein.
Wahrscheinlich meide ich SPD-Versammlungen schon deshalb, um dem „Genossen-Du" zu entkommen!
Selber bin ich mit dem „Du“ mehr als heikel. Privat dauert es bei mir oft Jahre, bis ich mich endlich aufraffe, meinem Gegenüber die vertrauliche Anrede vorzuschlagen – gerade bei Frauen.
Mir fällt ein Beispiel dazu ein, wo ich wohl zehn Jahre dazu benötigte. Einige Zeit später ging unsere Freundschaft in die Brüche. Wohl vor allem deshalb, weil ich darunter litt, dass die Realität wohl doch nicht der Anrede entsprach.
Ich finde, die reflexartige Duzerei ist in den meisten Fällen reine Chimäre. Warum müssen wir einen sprachlich eigentlich wunderbaren Unterschied planieren? Früher siezten einander sogar Eheleute. Möglicherweise hat das die eine oder andere Trennung verhindert!
Mir fällt dazu der geniale Witz ein, in dem ein quengelndes Kind von seinem Vater fordert: „Ich will ein Eis, du Arschloch!" Vom pädagogisch gebildeten Vater kommt die Antwort: „Aber wir haben doch vereinbart, dass du ‚Hans-Jürgen' zu mir sagst!"
„Gut: Das intime ‚Du‘ schafft Wärme, schafft Vertrautheit, schafft Nähe. Aber ich würde mir gerade deshalb doch gerne selbst aussuchen, wem gegenüber ich diese Gefühle ausdrücke und von wem ich in den Kreis engster Buddies aufgenommen werden möchte. Das ‚Du‘ ist und bleibt für mich eine Währung, die durch inflationären Gebrauch nur allzu schnell ihren Wert verliert.“ (Uwe Bork, Deutschlandfunk)
https://www.deutschlandfunkkultur.de/duzen-siezen-anrede-100.html
Kollege Wendel berichtet in einem seiner Texte von einem befreundeten Paar, mit dem seine Partnerin und er zahlreiche Tangounternehmungen teilten. Eines Tages verschwanden die beiden aus der Szene. Als er sie nach einiger Zeit einmal anrief, war die Freude groß: Er sei der erste Mensch aus dem Tangobereich, der sich bei ihnen mal erkundigt hätte!
Wendel spricht völlig zu Recht von der „Oberflächlichkeit einer Szene, die sich doch gerade über Nähe definiert“.
https://www.tangocompas.co/naehe-als-marke-ueber-poesie-produkte-und-projektionen-in-der-tangowelt/
Na ja, selber bin ich dieser Oberflächlichkeit wohl entronnen, indem ich zur meistgehassten Figur in der Szene mutierte. Immerhin etwas sehr Persönliches!
Lassen wir dazu noch einmal den von mir sehr bewunderten Werner Schneyder zu Wort kommen:
„Sagen Sie nicht Du zu mir,
bleiben wir beim Sie –
denn was mir ein Du bedeutet,
das erfühl’n Sie nie!
Du heißt ziemlich nah am Hemd sein –
doch das sind Sie nie.
Lassen wir es doch beim Fremdsein –
bleiben wir beim Sie!
Zum Schluss noch eines der besten Kabarettprogramme des Autors – glücklicherweise noch auf YouTube zu sehen! Schneyder spielt darin eine Doppelrolle als Kabarettist und Tourneeleiter:
https://www.youtube.com/watch?v=tlTeoWaDW2g
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