Die Pandemie der Ungebildeten
Seit einiger Zeit bin ich ein Fan der Gesprächsreihe „Missverstehen Sie mich richtig“ des Linken-Urgesteins Gregor Gysi. Im Berliner „Tränenpalast“ spricht er jeweils zirka anderthalb Stunden mit einem Gast aus den Bereichen Journalismus, Kunst oder Politik. Man hat inzwischen die Auswahl zwischen einer großen Menge Videos:
https://www.youtube.com/c/MISSVERSTEHENSIEMICHRICHTIG
Was mir bei vielen Gesprächen auffiel: Gysi fragt anfangs meist nach der Schule – welche Fächer man mochte und mit welchen man gar nichts anfangen konnte. In vielen Fällen bekennen die Prominenten, dass ihnen die Naturwissenschaften – vor allem Physik und Chemie – große Probleme bereitet hätten.
Nun, diesen Gegenständen kann man heute bequem ausweichen: Ich habe gegen Ende meiner Berufstätigkeit noch miterlebt, wie man gerade beim Übergang zum achtjährigen Gymnasium die Naturwissenschaften regelrecht kleingekriegt hatte. In der zweijährigen Oberstufe konnte man Physik und Chemie vollständig, Biologie teilweise eliminieren.
Auf der anderen Seite habe ich erlebt, dass sich das menschliche Wissen in diesen Bereichen sicherlich alle zehn Jahre verdoppelt. Viele Jahre durfte ich – zusammen mit einem Uni-Professor – im Staatsexamen Lehramtskandidaten vor allem in Genetik prüfen. Beim Protokollieren der Fragen des Hochschullehrers war ich froh, wenn mir überhaupt noch ungefähr klar war, worum es grundsätzlich ging. Bei den Details hätte ich oft kläglich versagt!
Nach alledem ist es kein Wunder, dass gerade Jüngere heute extreme Defizite auf diesen Gebieten zeigen. Und es geht ja nicht um akademische Details, sehr wohl aber um Grundlagen naturwissenschaftlichen Denkens. Ich fürchte, diese Mängel bilden eine wichtige Ursache für den unglaublichen Blödsinn, der heute bei einer Pandemie verzapft wird, die halt die Bedeutung dieser Wissensbereiche drastisch vor Augen führt.
Und das gilt ja nicht nur fürs „gemeine Volk“, sondern auch für Meinungsbildner, die dann fröhlich Talkshows zum Thema Corona moderieren, obwohl man sich in der Schule heftig bemüht hat, den entsprechenden Fachbereichen zu entkommen. Klar, Maischberger, Illner & Co. lesen sich fleißig in die Materie ein – was dann aber oft dabei herauskommt, klingt eher nach Wartezimmergesprächen auf der Basis der „Apotheken-Rundschau“.
Ich möchte das an einigen Beispielen verdeutlichen:
Es beginnt schon damit, dass man als Argument ernsthaft einen Wissenschaftler zitiert, der mal was zu Corona gesagt oder geschrieben hat – möglichst noch Monate zuvor. Schon dabei möchte ich mich schwer atmend auf dem Teppich wälzen. Naturwissenschaftliche Ergebnisse sind stets das Ergebnis tausender Forschender, die in Einzelbeiträgen ein kleines Stück zu Wahrheit beitragen. Wenn, dann muss man nach dem „Stand der Wissenschaft“ insgesamt fragen. Dass akademische Außenseiter es so gut wie immer völlig anders sehen, gehört zum Geschäft. Und klar, in sehr seltenen Fällen stellt sich Jahre später heraus, dass genau die recht hatten. Meist aber wird die Mehrheitssicht bestätigt.
Und dass ein Forschender vor Monaten noch was anderes erzählt hat, wollen wir hoffen: Deshalb macht er ja seine Arbeit – um alte Annahmen auch mal zu verwerfen und zu neuen und genaueren Erkenntnissen zu kommen. Noch schlimmer wäre es, wenn er eine Meinung hat. Sein Job ist es nämlich, die Ergebnisse von Experimenten und Studien vorzulegen. Die darf er vorsichtig interpretieren. Den Rest besorgt die wissenschaftliche Gemeinschaft, welche die Deutungen und Folgerungen kritisch diskutiert und zu einer Gesamteinschätzung kommt.
Deshalb darf man den Wissenschaftlern auch nicht die
Verantwortung für politische
Entscheidungen aufbürden. Sie können beraten – mehr nicht. Und Politiker scheuen harte Maßnahmen –
sie befürchten zu Recht, dann nicht wiedergewählt zu werden. Aber der Bürger könnte ja eigenverantwortlich und vorsichtig handeln...
Bei all den medizinischen „Kronzeugen“, welche die Verschwörerfront gegen die wissenschaftlichen Erkenntnisse aufmarschieren lässt, kapiert man schon mal eines nicht: Wie groß die Spezialisierung gerade in Medizin und Naturwissenschaften inzwischen geworden ist. Der Titel „Medizinprofessor“ sagt wenig über die Kompetenz in Sachen Coronaviren aus.
Für den Insider ist es beispielsweise lächerlich, allein auf die Aussagen eines Medizinischen Mikrobiologen zum momentanen Thema zu vertrauen. Ein Bakterium ist mit einem Virus ungefähr so verwandt wie ein Elefant mit einem Schimmelpilz. Und selbst innerhalb der Virologie gehorchen Retroviren wie Corona oder HIV anderen Gesetzmäßigkeiten. Noch schlimmer: Wer mit den AIDS-Verursachern gearbeitet hat, ist kein absoluter Experte für die Covid 19-Erreger. So speziell ist das!
Keine Frau würde mit gynäkologischen Problemen einen Augenarzt aufsuchen. Aber sie glaubt daran, durch eine Impfung unfruchtbar zu werden, weil sie das im Internet gelesen hat…
Wenn ich dann in den sozialen Medien die Kurz- oder gar Langreferate von Hobby-Virologen lese, die sich gegenseitig mit Statistiken bepfeffern, frage ich mich: Warum bieten diese Leute nicht gleich eine Gebärmutter-Entfernung an? Doch man weiß ja in der Medizin: Die Schwierigkeiten beginnen in der Praxis…
Was mich ebenfalls immer wieder schwerstens beeindruckt: Der naturwissenschaftliche Laie fragt gerne nach ja oder nein. Mein Idiotie-Hit von 2020 war: „Helfen denn Masken, oder nicht?“ Oder aktueller: „Schützt denn eine Impfung davor, das Virus weiterzugeben?“
Leider sind naturwissenschaftliche Erkenntnisse oft mit ziemlich komplizierten Zahlenwerten ausgestattet. Lebewesen arbeiten nämlich selten nach dem Ja/Nein-Schema. In meinem Studium hatte ich das Vergnügen, einen Biostatistik-Schein zu benötigen, und auch in meiner Zulassungsarbeit durfte ich meine Versuchsergebnisse statistisch auswerten.
Das Kleine Einmaleins dazu: Die Ergebnisse biologischer Experimente sind häufig Dosis-Effekt-Kurven. Das heißt: Man untersucht durch Variation eines Parameters (Außeneinflusses) die quantitative Reaktion des Lebewesens. Das Problem ist nur: Dann muss man alle anderen Parameter konstant halten. Aber welche sind das genau? Die Gefahr ist groß, dass man mindestens einen übersieht. Dann sind die Ergebnisse inkonsistent und nicht reproduzierbar.
In meinem Fall waren das Bewegungsweisen einer Art von begeißelten Grünalgen, die sich durch das Wasser schrauben. Nach einigen Monaten entdeckte ich: Die Dinger haben eine Innere Uhr. Ich hätte die Kulturen also einem regelmäßigen Tag-Nacht-Rhythmus aussetzen und die Versuchszeiten entsprechend anpassen müssen. Inzwischen ist die circumdiane Rhythmik von Einzellern biologisches Allgemeingut.
Wenn ich dann lese, wie fern jeglichen Problembewusstseins von naturwissenschaftlichen Laien Studien interpretiert oder gar verglichen werden, weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll – na ja, meist entscheide ich mich für die Heiterkeit.
Wenn ich im Titel von einer „Pandemie der Ungebildeten“ spreche, heißt das nicht, dass ich mich für einen Fachmann halte. Mit einem Biologiestudium ist man auch nicht mehr als ein „besserer Laie“ mit einem überschaubaren Basiswissen. Dennoch habe ich in zwei Artikeln versucht, ein wenig Sachaufklärung zu betreiben:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2020/04/quiz-viren.html
https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2020/11/rna-impfstoffe.html
Vor allem aber weiß ich beim
Thema Virologie, ab welchem Punkt
ich lieber den Mund halte, weil ich
davon zu wenig verstehe. Auch das gehört zum naturwissenschaftlichen Denken. Nur sollte der Klügere nicht nachgeben - sonst bestimmen die Deppen, wo es lang geht.
P.S. Es wird niemanden überraschen, dass der gelernte Diplomphysiker Vince Ebert zu meinen Lieblings-Kabarettisten gehört. Von ihm stammt eine der schönsten Beschreibungen von Forschung: „Wir irren uns nach oben.“
Im folgenden Programmausschnitt erklärt er den wichtigen Unterschied zwischen Naturwissenschaft, Theologie und Esoterik:
https://www.youtube.com/watch?v=QOUn5Idfnck
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