I walk the line


„Cuius enim panem manduco, carmina canto.”
„Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.”
(Egbert von Lüttich, entstanden 1022–1024)

„Wenn Sie sich in die Zeit zurückversetzen, als es Minnesänger gab (…) Die hatten also tatsächlich selten eine feste Anstellung und mussten von Hof zu Hof ziehen. Dort hat man Lieder gesungen. Dieses Liedersingen – das waren nicht ‚alle meine Entchen‘, sondern sehr oft handelte es sich um richtige Gesänge, die einen Herrscher, einen Grafen, einen Fürsten priesen und Geschichten von seinen Heldentaten erzählten.
Der Sänger musste den Ruhm dieses Adligen in seinen Liedern verewigen und dafür bekam er dann etwas Geld, eine Unterkunft, eine Ehrengabe, vielleicht auch einen schönen Ring oder so etwas.“

Zweifellos kann man speziell im Tango DJs durchaus mit den fahrenden Belustigungs-Spezialisten des Mittelalters vergleichen: Ihre Bezahlung ist alles andere als opulent, und wenn sie nicht zu der Herrschenden Zufriedenheit auflegten, wären sie schneller aus dem Tempel draußen, als sie reingekommen sind.

Wes Brot ich ess, des Lied ich aufleg..."

Klar, der Platten-Jockey ist auch Dienstleister – wenn er für einen Veranstalter tätig wird, hat er sich an dessen Direktiven zu halten oder (was aber praktisch kaum vorkommt) den Job halt abzulehnen.

Weshalb jedoch sogar Scheibenreiter, welche auf ihrer eigenen Milonga auflegen, von Achselnässe nicht verschont bleiben, ist schon schwerer zu kapieren. Aber da herrscht wohl wiederum die Furcht, die Gästezahl könnte zurückgehen, weil irgendwelche Autoritäten" die Veranstaltung als nicht lege artis erklären. Oder es gibt Deals mit anderen Organisatoren oder Tangolehrern, welche die Auffüllung der Bude versprechen.

Immer wieder einmal erlebe ich daher Events, auf denen bei ansonsten sehr breit aufgestellte DJs, welche eigentlich keinerlei Berührungsängste mit der Moderne haben, die Hasenfüßigkeit – nicht nur zu Ostern – hörbar aus dem Lautsprecher zittert.

„Alles EdO“ wird plötzlich zum Prinzip; nur selten wird eine Tanda eines modernen Cover-Orchesters reingeschmuggelt (auf dass es hoffentlich keiner merke) – und kurz vor Mitternacht gibt es eine seltsam unambitionierte Alibi-Tanda Neotango.

Klar weiß ich nicht sicher, ob solche Erlebnisse wirklich auf die mangelnde Courage des DJ zurückgehen. Aber der Eindruck ist schon knüppeldick – und auch ich muss meine Artikel daran messen lassen, wie sie wirken – und nicht, wie ich sie vielleicht gemeint habe…

Da ich in solchen Situationen eh nicht so viel tanzen mag, überlege ich mir manchmal ein – natürlich fiktivesGespräch zwischen dem DJ und einem gastierenden Tangolehrer im Vorfeld eines solchen Events:

„Und was die Milonga am Abend betrifft… da sind ja dann auch meine ganzen Schüler dabei.“

„Sehr gerne natürlich – und von meinen Stammgästen werden bestimmt auch viele kommen.“

„Äh, klar… nur… wie du weißt, unterrichte ich ja den authentischen Salon-Tango aus Buenos Aires…“

„Sicher, kein Problem…“

„Mmhh… selbstverständlich auf der Grundlage des bestens tanzbaren EdO-Kernrepertoires.“

„Wie schön, aber…“

„Und du bist ja, ahem, eher dafür bekannt, nun auch viel von diesem ganzen modernen Zeugs zu spielen.“

„Was aber meist ganz leicht zu tanzen ist. Und traditionelle Titel spiele ich ebenso häufig.“

„Schon, aber ich fürchte halt, meine Leute können mit zeitgenössischen Stücken wenig anfangen.“

„Das erweitert doch nur ihren Horizont…“

„Schau, ich möchte ganz ehrlich sein: Ich sehe die Gefahr, dass mir Schüler abspringen oder sich zumindest im nächsten Jahr nicht mehr zu dem Seminar anmelden…“

„Übertreibst du da nicht…“

„Ob es uns passt oder nicht – Tango hat eben auch eine ökonomische Seite! Ihr profitiert ja auch vom gastronomischen Bereich, wenn ich euch meine Schüler schicke. Wäre doch schade für uns alle, wenn das den Bach runtergeht. Und, offen gesagt, meine Coaching-Praxis läuft im Moment gar nicht gut.“

„Oh, das wusste ich nicht – wenn das so ist…“

„Also, sind wir uns einig? Du kannst ja am späteren Abend mal eine moderne Runde spielen – dann sind meine Leute eh schon im Bett.“

Wie gesagt: Das Gespräch habe ich mir selber ausgedacht. Ob es so stattfindet, ist sehr die Frage. Wahrscheinlich dauert es gar nicht so lange – eine kurze Andeutung reicht wohl schon…

Wie sagte neulich eine Tangofreundin zu mir?

„Ich kapiere das nicht – in vielen Gesprächen mit dem Gästen höre ich immer wieder, man möchte nicht immer wieder dasselbe alte Zeug hören, mehr Abwechslung wäre gut. Hat das alles denn gar keine Auswirkungen?“

Meine Antwort:

„Schon, aber die paar, denen es nicht passen würde, wenn es anders wäre, sind einfach lauter.“

Nun gut, ich überstehe auch solche Milongas – im Bewusstsein, dass ich weder bezahlte Milongas, Kurse, Tangoreisen, Tanzfummel oder Schühchen verscherbeln muss, sondern mir einen unabhängigen Standpunkt leisten und solche Artikel schreiben kann!

Ansonsten aber, so fürchte ich, werden die Minnedienste unentwegt weitergehen…



Krise und Happy End:

Heute zog es uns tangohalber zum Schlossfest in Grünau bei Neuburg. Als wir uns nach der Milonga ziemlich verschwitzt im Schlosshof noch einen Kaffee gönnten, sang dort ein Gitarrist – und ich war vom ersten Augenblick an elektrisiert: Da trat jemand auf, der voll von seiner Sache überzeugt war – und der sich überhaupt nicht darum kümmerte, wer das nun gut fand oder nicht. So klang nicht nur sein wunderbarer Gesang, sondern auch seine hervorragende Moderation.

„Leaving on a jet plane“ und „16 tons” sowie – mit seligem Angedenken an Johnny Cash - „I walk the line” waren die schönsten Musikstücke, die ich an Ostern hörte. „Ich bleibe auf dem geraden Weg“: Welch eine Botschaft nach diesen Tagen!

 

Kommentare

  1. Carsten Buchholz schrieb mir dazu:

    Ein kleiner Komentar zu "I walk the line "

    Es gibt auch andere Milongas / DJs - und die hier kommt gut an:
    http://neunmalsechs.blogsport.eu/2019/playlist-milonga-tango-armonico-am-24-maerz-2019/

    Natürlich gibt es Diskussionen über die Musik, aber es ist immer voll
    und die Milonga finanziert sich rein über Spenden - im an
    Tango-Veranstaltungen reichen Rhein-Main-Neckar-Gebiet. Und immer wieder
    hören wir Feedback, das uns für die Abwechslung an Musik dankt.

    Mit sonnigen Grüßen
    Carsten Buchholz

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    1. Lieber Carsten Buchholz,

      ich bin über jeden einzelnen DJ glücklich, der wirklich nach seiner Überzeugung und persönlichen Linie auflegt!
      Leider kann ich in den Kommentaren nicht verlinken. Aber Interessierte werden deine Playlists über die obige Adresse sicher finden.
      Eine Besprechung von mir gibt es ja schon:
      http://milongafuehrer.blogspot.com/2019/01/gar-nicht-so-harmonisch-tango-armonico.html

      Weiterhin viel Spaß und Erfolg!
      Gerhard Riedl

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