Weichzeichner-Tango


The smiles which illuminate faces, eyes plunged into the pleasure of another world.”
Das Lächeln, das die Gesichter erleuchtet, die Blicke versunken in die Freude einer anderen Welt.“
(aus der Video-Beschreibung)

Den folgenden Film fand ich, bereits gelikt und geherzt, auf Facebook. Es zeigt Bilder des diesjährigen Frankfurt Tango Marathon (FTM). Gedreht hat das Ganze Sivis’Art Tango Filmmaker” (http://sivisart.com/.).

Zu sehen sind schöne, eher jüngere Menschen, verträumte bis strahlende Tango-Gesichter, pferdegeschwänzte Frisuren, gebartete Männlichkeit, Tatoos, Flatterkleidchen – ja sogar ein Tränchen wird kurz weggewischt und ein Trägerchen rutscht. Daneben natürlich die Grundelemente des sittsamen Tanzes: gepflegte Rondas plus fein säuberlich aufgereiht sitzende Tangueras, das Ganze (was ich in dem Metier überhaupt nicht verstehe) in leichter Zeitlupe.

Die Originalmusik (vielleicht sogar Tango überhaupt) würde hier zweifellos stören, drum hat man die Soul-Pop-Nummer „Kissing you“ der britischen Sängerin Des’ree (Desiree Annette Weeks) druntergelegt. Sie diente 1997 als Filmmusik des Streifens „Romeo+Juliet“ und verschönte die Szene, in welcher die beiden Liebenden (Leonardo DiCaprio und Claire Danes) sich erstmals bei einem Ball der Capulets trafen. Dann hätten wir ja alles beisammen:


Obwohl mir klar ist, dass beim Betrachten des Videos diverse Hormonspiegel gestiegen sind, muss ich mich doch als „Ovulationshemmer“ betätigen: Auch musikalisch erinnert mich dieser monströse Kitsch an das Weichzeichner-Lolita-Epos „Bilitis“ von David Hamilton (1977):



Zweifellos: Tango ist zur Branche geworden, in der Anmutungen wie Jugend, Erotik, Schönheit, Romantik und Träumerei verramscht werden – seit einiger Zeit zunehmend von der Garde der Tango-Fotografen und -Filmer. Verkauft wird nicht ein Tanz, sondern Glück. Die hier verwendeten Features ähneln frappierend der legendären Bacardi-Werbung:



Die Tango-Normalität dürfte (auch in „Äppelwoi-City“) eher so aussehen:




Na gut, Rentnertango, die Musik spielt nur eine kleine Rolle – so man sie denn bei dem Gequatsche überhaupt hört. Aber dennoch: Wenigstens normale Menschen, unspektakulär, bodenständig.

Wie war das vor hundert Jahren, als die „Migranten“ (heute wie damals gesellschaftlich verachtet) zu den Klängen einer Fidel, einer Gitarre oder eines Bandoneóns in staubigen Hinterhöfen ihre Runden drehten? In der Musik ihre Sehnsüchte, ihre geplatzten Träume wiederfanden? „Bacardi Feeling“?

Be, what you wanna be, taking things the way, they come,
nothing is as nice as finding paradise and
Sippin' on Bacardi Rum.
Living life the easy way,
got your way to let it run,
nothing is as cool as drifting in the sun light,
Sippin' on Bacardi Rum.

Für das „Frankfurt Tango Marathon 2019“ kann man sich bald anmelden. Hier die Ausschreibung:

„130 leaders & 130 followers, 7 superb international DJs, 38 hours of hugs and tango, 300 SQM of wooden floor, 1500 SQM of garden to chill out, 2 espresso coffee machines, 1 Ice Cream Cart, 50 litres of Aperol Spritz, 350 Kg of oranges for your fresh orange juice, superb Italian catering, quality red and white wine available during meals, fruit, cakes, sweet, salty snacks, soft drinks etc.
Price: 125 EUR including the after-party”

Ich fürchte, man darf die 350 kg Orangen ohne mich auspressen – trotz „Black Friday“. Mein Tango liegt eher da:

Y ahora que estoy frente a ti
parecemos, ya ves, dos extraños...
Lección que por fin aprendí:
¡cómo cambian las cosas los años!
Angustia de saber muertas ya
la ilusión y la fe...
Perdón si me ves lagrimear...
¡Los recuerdos me han hecho mal!

Und jetzt, wo ich vor dir stehe,
erscheinen wir, du siehst es, wie zwei Fremde.
Die Lektion, welche ich endlich gelernt habe:
Wie doch die Jahre die Dinge verändern können!
Die Angst, zu wissen, dass sie schon tot sind,
die Illusion und der Glaube ...
Vergib mir, wenn du mich weinen siehst...
die Erinnerungen haben mich verletzt!

(Pedro Laurenz / José María Contursi: Como dos extraños, 1940)

Den lasse ich mir von Roberto Goyeneche vorsingen. Und das Bild gefällt mir auch…


Kommentare

  1. Gerade erreichte mich ein Kommentar der Münchner Tangolehrerin und Veranstalterin Sonja Armisén:

    Tja zufällig (oder auch nicht ?) bin ich auf diesen Blog gekommen und ich finde das wirklich super, was du hier über die Vermarktung schreibst, das sehe ich auch genauso.....Aber beteilige mich in gewissem Maße auch an dieser Art der Vermarktung..., damit meine Veranstaltungen nicht leer bleiben....

    Das tolle an den Neotangoveranstaltungen (oder mixed Veranstaltungen) ist drum für mich, dass man da sogar auf so ne schöööön schnulzige Musik, wie sie hier eben nur zum Erzeugen von Emotionen genommen wird, auch wirklich tanzen darf !!!!

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    1. Oh, eine Tangolehrerin, die mein Blog offiziell zur Kenntnis nimmt, ja sogar etwas zum Loben findet… herzlichen Dank!

      Ich sehe das Dilemma mit der Werbung durchaus. Und es bestätigt mich in meinen Zweifeln, ob man Tango unter kommerziellen Bedingungen betreiben sollte. Dennoch billige ich der PR schon ein gewisses Maß an Übertreibung zu. Erst wenn sie den Tango bis zur Unkenntlichkeit verschandelt, äußere ich mich gelegentlich.

      Und ja – Schnulzen gehören aus meiner Sicht in jede Playlist, unbedingt!

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