Niño bien
Wider
Erwarten scheint es doch ein Interesse an Tangotexten
zu geben! Der Beitrag „Nunca tuvo novio“
liegt hinsichtlich der Zugriffszahlen nun schon auf Platz 9 von bislang 379
Blogartikeln – und „Tango – Worüber singen die eigentlich?“ wurde in den letzten 30 Tagen am zweithäufigsten
angeklickt.
Müssen
Tangoverse stets tieftraurig oder melodramatisch sein? Ich habe ein schönes Gegenbeispiel herausgesucht:
Niño bien (1927)
Text: Víctor Soliño, Roberto
Fontaina
Musik: Juan Antonio Collazo
Die
drei Autoren stammen bezeichnenderweise nicht aus Argentinien, sondern aus
Uruguay und waren Mitglieder der studentischen “Troupe ateniense”, die von 1922 bis 1930 Sketche, Theaterstücke
und musikalische Komödien für ihre Kommilitonen aufführte. Erklärtes Ziel war
die Satire auf allzu schwülstige
Tangos dieser Zeit. (Ihr Studienfach Jura sorgte offenbar auch für die
sarkastische Grundausstattung.)
Der
Titel (wörtlich: „Guter Junge“) ist schwer übersetzbar – er karikiert wohl die
erste am Rio de la Plata geborene Generation von Auswanderer-Söhnen, die durch
besonders protzige Aufmachung „argentinischer als jeder Argentinier“
daherkommen wollten, während der italienische Vater Pizzas auslieferte. Einwanderer
hatten damals keinen hohen sozialen Status – daher wollten deren Kinder ihre
Herkunft vertuschen. (Eine Parallele zur heutigen Tangoszene verkneife ich mir
heldenhaft…)
Offenbar
hat es in 90 Jahren niemand hinbekommen, den herrlichen Text ins Deutsche zu
übersetzen – mein Versuch fußt auf einer englischen Version, die ich mit meinen
bescheidenen Sprachkenntnissen bearbeitet habe. (Korrekturen von
Spanisch-Muttersprachlern werden demütig angenommen!)
Nun
aber zum Text:
Der Junge aus gutem Haus
Verwöhnter Bengel,
protzig und eingebildet,
dich treibt der Wahn
des Angebers;
neureicher Fratz, du
schreibst dich mit Bindestrich-Familiennamen,
und nutzt die
„Richmond Bar“ als deinen Schreibtisch.
Selbstgefällig
heuchelst du Vornehmheit,
erzählst ständig von
der Farm deines Vaters,
während dein Alter,
damit er euch ernähren kann,
tagein, tagaus
Pizzabrot ausliefert.
So, wie du über dich
sprichst,
englischen Tabak
rauchst, khakifarbene Handschuhe benützt
und deine Koteletten
wie Rodolfo rasierst,
glaubst du von dir,
ein Playboy zu sein.
Weil du eine
karminrote Krawatte trägst und drüben im „Chantecler“
dich als Tänzer
ausgibst und dir Pomade ins Haar schmierst,
meinst du richtig
cool zu sein,
aber du bist nur ein
armer Depp!
Kleiner Angeber, du
wurdest in der Vorstadt geboren,
in einer Bude, die
von Kerosinlampen erleuchtet war,
du hast einen
reichlich bewölkten Stammbaum
und sagst, du seist
aus bester Familie.
Merkst du nicht, wenn
du dein wahres Gesicht zeigst
und mit dieser
Siegerpose herumstolzierst,
es völlig klar wird,
dass du eine Menge Klasse hast,
um sie hinter einem
Schalter zu zeigen?
Den
spanischen Originaltext und eine englische Übersetzung findet man hier:
Anmerkungen:
Mit
„Richmond Bar“ ist wohl die bekannte „Confitería Richmond“ in Buenos Aires (1917-2011)
gemeint, die früher als Treffpunkt der Intellektuellen galt und für ihre feinen
Speisen und Getränke berühmt war.
„Rodolfo“ ist wohl eine
Anspielung auf den legendären Schauspieler Rudolph
Valentino (1895-1926), der (nicht nur) damals als männliches
Schönheitsideal galt.
Das
„Chantecler“ (1924-1960) war ein
bekanntes Kabarett in der argentinischen Metropole, in dem viele
Tangomusik-Größen auftraten.
Die
Aussage des Textes unterstreicht auch der Sänger Hugo del Carril, der sich
in einem Film so einen Schnösel satirisch zur Brust nimmt.
Auf dessen Frage, ob das Lied für ihn sei, antwortet del Carril mit einem deutlichen „Ja, für dich“ – und da es damals noch kein Internet gab, wurde der folgende Shitstorm mit Fäusten ausgetragen. Ja, ja, unser „sozialer Tango“…
Die Argentinier sind heute weit weniger pusselig: Bis 2013 gab es in Buenos Aires eine berühmte Traditionsmilonga dieses Namens. In einer Tourismus-Information wird der Charakter dieses Stückes allerdings bis zur Unkenntlichkeit verfälscht:
“It is among the most traditional milongas in the city, it has the name
of a tango that refers to the high-class milonga habitué. The dance floor is
for experts only, novices have no room.”
Na
ja, wenn der „hochklassige
Milonga-Stammgast” einen aufgeblasenen Angeber darstellt, läge man ja gar
nicht so falsch…
Aber auch „Tango-Novizen“ sollten in dem
Gedränge mit ein paar Trippelschrittchen durchgekommen sein:Die Schauspielerin und Sängerin Tita Merello (1904-2002, also sowas von „EdO“) hat eine ganze Reihe von Tangostücken gesungen (u.a. das berühmte „Se dice de mí“) – und das mit einer Lebendigkeit, der man das Alter dieser Aufnahmen nicht anhört. Ich habe sie daher für das musikalische „Special“ unserer nächsten „Wohnzimmer-Milonga“ ausgewählt!
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