Karen Kaye: Die Illusion von Kompetenz
Die amerikanische
Bloggerin Karen Kaye schreibt
bemerkenswerte Texte – nicht nur zum Tango. Einige davon habe ich schon
übersetzt (siehe „Gastbeiträge“). Zum folgenden Artikel meinte mein Berliner
Kollege Thomas Kröter: „Vielleicht
sollte man eine Reproduktion des Textes an die Tür der einen oder anderen Milonga
heften...“.
Na, wenn schon, dann
an alle!
Der Vorzug der
Autorin ist es wohl, sich nicht nur mit Tango, sondern ebenfalls mit anderen Tänzen zu
beschäftigen und auch sonst über ein weites Feld von Interessen zu verfügen.
Dies bewahrt sie vor dem (oft männlichen) Tunnelblick, mit dem viele Vertreter
des „heiligen und unvergleichlichen Tango“ stundenlang in den Kühlschrank
glotzen, ohne die Butter zu sehen…
Doch tun wir die nun bei die Fische:
Karen Kaye: Die
Illusion von Kompetenz
Vor
ein paar Jahren begann ich mit dem argentinischen Tango. Beim Lernen dieses
hoch komplexen Tanzes fand ich es frustrierend und wenig erfüllend, selber zu
tanzen. Bis ich Joe traf. Meine Tänze mit Joe waren entzückend! Jedes
Mal verließ ich seine Umarmung wie die eleganteste, talentierteste Tänzerin im
Raum. Ich dachte: „Wow – Tango ist leichter, als ich es dachte!“
Meine
Tänze mit Joe, einem professionellen Tangotänzer, waren einmalig wegen seines Levels an Fähigkeiten – nicht wegen
meinem. Ein gewandter Tänzer kompensiert alles, was eine ungeschickte
Person falsch macht. Wenn ich mit Joe tanze und aus dem Rhythmus komme, kriegt
er mich wieder hinein. Auf dem falschen Fuß? Joe bekommt auch das hin. Wenn
mein Rahmen oder meine Verbindung schwach oder meine Musikalität dahin ist, hat
Joe das alles auszugleichen. Währenddessen bin ich völlig ahnungslos, habe eine
fantastische Zeit und genieße meine gefühlten Fähigkeiten. Joe aber muss besonders
hart arbeiten, um diesen Tanz akzeptabel, angenehm und nicht als öffentliche
Blamage zu gestalten.
Viele
denken, der Tanz mit fortgeschrittenen Partnern macht aus ihnen bessere Tänzer.
Wirklich? Wenn jemand all Ihre Fehler
ausbügelt – wie sollen Sie dann jemals etwas lernen? Wie sollen Sie es je hinkriegen,
im korrekten Tempo zu bleiben, die eigenen Impulse zu beherrschen, das eigene Gewicht
auszubalancieren und die Verbindung zu halten? Wollen Sie im Gleichgewicht
bleiben? Dann tanzen Sie viel mit jemandem, der Sie ständig aus der Balance
bringt! Sie erhalten so die Fähigkeit, Ihr Gleichgewicht zu halten, egal, was
passiert.
DIES
ist das Können eines fortgeschrittenen Tänzers.
Zwei
Jahre weiter: Letzte Nacht tanzte ich mit einem totalen Anfänger, der sich jedes
Mal dafür entschuldigte, wenn er mich auf den falschen Fuß stellte oder mich
aus der Balance holte. Später erklärte ich ihm, dass diese Dinge mir
tatsächlich helfen, eine bessere Tänzerin zu werden – es ist eine gute Übung
und Entwicklung meiner Fertigkeiten, zu lernen, wie ich solche Situationen
flüssig und mit Anmut handhaben kann.
Ein
wirklich erfahrener Tänzer weiß, wie er mit schwierigen Verschiebungen des
Gleichgewichts, Stehen auf dem falschen Fuß oder rhythmischen Problemen umgehen
kann. Jeder kann ein toller Tänzer sein, wenn er einen perfekten Partner hat – aber
für mich ist die Summe der Fähigkeiten, die jemand wirklich zu einem
Fortgeschrittenen macht, dass er genauso gut mit einem Profi wie mit einem
Anfänger tanzen kann. Wenn wir davon
abhängen, einen „guten Partner“ zu haben, sind wir nicht wirklich sehr gute
Tänzer.
Wenn
ich mit einem Anfänger tanze, bekomme ich die Chance, an Fähigkeiten zu
arbeiten, die ich selten mit einem erfahrenen Führenden üben kann – etwa an
meinem Gleichgewicht oder daran, in der Achse zu bleiben (trotz allem!), und
lange Pausen oder einen freien Raum mit Verzierungen zu füllen.
Ein
wahrhaft Fortgeschrittener kehrt immer wieder zu seinen Basisfähigkeiten
zurück, denn wir erleben diese unterschiedlich im Lauf unserer Entwicklung.
Obwohl ich immer noch weitgehend eine Anfängerin bin, versuche ich, nicht auf
meine eingebildeten Fähigkeiten hereinzufallen. Ich würde lieber wissen, wie ich tanzen soll, statt zu glauben, ich
wüsste es.
Ich halte diese
Sichtweise nicht nur für richtig, sondern für zentral bedeutsam. Das sowieso nicht
kleine Elend im heutigen Tango wird dadurch verstärkt, dass für routinierte
Tänzer (tatsächliche oder selber gefühlte) die meisten Anfänger unsichtbar
sind. Die sollen es erstmal gescheit lernen, dann kann man sich immer noch mit
ihnen befassen!
Fragt sich halt, bei
wem und wie…
Ebenso ist es am
unteren Rand des Spektrums: Welcher Anfänger wagt es, eine sehr gute Tänzerin
aufzufordern? (Der umgekehrte Fall gar ist so gut wie nicht existent.) Er kann
ihr ja nichts bieten… Dabei wäre das Risiko eines Korbes eher gering, und
zumindest der männliche Beginner käme wohl sogar um Belehrungen auf dem Parkett
herum!
Nein, stattdessen ist
der Tango inzwischen strukturiert wie die indische Kastengesellschaft: Jeder in
seiner (gefühlten) Leistungs-Liga!
Ich erinnere mich mit
Schmunzeln an manche Situationen, welche der „reinen Lehre“ der „Tango-Liga“
heftig widersprechen, beispielsweise, wenn ich eine Anfängerin sogar bei
schwieriger Musik zum Tanz bitte: Eitlerweise gestehe ich, dabei durchaus auch Seitenblicke
auf die sitzenden Beobachter zu werfen und mich an deren heruntergeklappten
Unterkiefern zu weiden, wenn ich mit der Dame dann zu einer flotten Milonga
candombe übers Parkett pese oder einen heftigen Pugliese-Tango interpretiere.
Es macht eben einen
Riesenspaß, Regeln zu verletzen und feste Gewohnheiten so allgemein sichtbar
auf den Kopf zu stellen… Manchmal wird die Dame dann sogar hinterher von
anderen aufgefordert, weil sie wohl doch mehr kann als zunächst befürchtet. Die
Panik beim anschließenden Erkennen des Irrtums ist für mich sodann des
Amüsements zweiter Teil…
Wie ich dennoch einen
passablen Tanz hinbekomme? Nun, das meiste hat Karen Kaye ja schon verraten.
Vielleicht zur Ergänzung: Ich tanze das mit, was sie macht!
In einem anderen Text
(„The unchosen man“) beschreibt die Autorin ein dazu passendes Erlebnis bei
einer Seminarveranstaltung, die wohl gar nichts mit Tango zu tun hatte. Man
sollte zu irgendeiner Musik Paare bilden und tanzen. Sie war etwas langsam und
stellte dann fest, dass noch ein einziger Mann frei war, der mit einer ziemlich
distanzierten Haltung in der Ecke stand. Weiter schreibt sie:
Ich
preschte wie eine Verrückte auf ihn zu, huschte um Paare herum und sprang über
Kissen, ehe ich mit lieblichem Blick vor ihm landete. Ich sagte gar nichts,
aber alles an der Art meiner Ankunft vermittelte die beabsichtigte Botschaft: ICH WÄHLE DICH.
Ich
wollte ihm das Gefühl geben, integriert und geschätzt zu sein, zu fühlen, dass
er hierher gehörte. Ich wählte ihn nicht zum Partner, weil er der letzte freie
Mann war, ich schnappte ihn mir, weil ich
einen Menschen sah, der es zutiefst brauchte, daran erinnert zu werden, dass er
etwas bedeutete – dass er es wert war, gewählt zu werden.
Wenn
schon, dann sollte man das auch noch an jede Milongatür nageln!
P.S. Hier die
Originaltexte:
https://karenkaye.net/2015/10/11/the-unchosen-man/
Karen Kaye hat sowas von recht. Mit einer deutlich besseren Partnerin (gilt natürlich für beide Rollen) zu tanzen, ist ein Extrabonus, ein Geschenk. Daher das Folgende nur ergänzend. Keine Frage, daß solche Geschenke, in beide Richtungen, wichtig für die Motivation sind. Und um eigene Skills zu entwickeln, kann es auch hilfreich sein, wenn das Gegenüber "ideal" ist und nicht weitere Komplexität erzeugt.
AntwortenLöschenKlar, gehört auch dazu.
LöschenEs wäre ja schon ein Fortschritt, wenn Tango-VIPs sich wenigstens gelegentlich einmal dazu herabließen, "Nachwuchsförderung" zu betreiben (möglichst mit nicht allzu gönnerhaftem Ausdruck)!