Tango argentino ohne den ganzen Ballast
Neulich
bin ich in einem Forum unter diesem Titel auf eine Diskussion gestoßen, die
mich sehr amüsiert hat. Da fragt ein Standardtänzer, der wohl einmal in unseren
„authentischen Tango“ reingeschnuppert hat, ob man das Ganze eigentlich
unbedingt so ernst nehmen müsse, wie es in selbiger Szene offenbar üblich sei.
Ausschnitte
der Antworten habe ich ebenfalls dokumentiert. Die Zitate wurden von mir zur
besseren Lesbarkeit orthografisch und stilistisch leicht bearbeitet. Viel Spaß!
Wir haben die letzten
Male im Training (Breitensport) auch mal, auf Wunsch der Gruppe und zur
Abwechslung, in den Tango Argentino reingeschnuppert. Das heißt Grundschritt
und Ochos, mehr noch nicht. (Wobei hier wohl schon wieder unterschiedliche
Denkschulen existieren, ob es überhaupt einen Grundschritt gibt? Jedenfalls
finde ich ausreichend Beschreibungen und Videos im Web, die dem mir Vermittelten
soweit ähneln, dass es sowas mit diesem Namen doch scheinbar weit verbreitet
gibt.)
Ich fand‘s jedenfalls
sehr spannend, weil es nicht nur mal was ganz anderes war als das bisher
Gewohnte, sondern ich auch merke, dass das deutlich mehr Anforderungen bzgl.
Führung stellt. Bin ich mir selber mal über einen Schritt nicht sicher und
stehe schief / zwischen den Füßen in der Gegend rum, ist das Feedback unmittelbar,
und es klemmt sofort.
Mir war schon in der
Vergangenheit immer mal wieder aufgefallen, dass die Tango Argentino Tänzer (…)
entweder sehr stark um Herausstellung ihrer Abgrenzung bemüht sind oder auch
sonst nach meinem Empfinden sehr zu Übertreibungen neigen. (Betonung, dass das
doch das wahre Tanzen sei, alles andere sei nur Schritte ablaufen. Betonung,
wie furchtbar authentisch das doch sei etc. – Woanders tanzt man gerne oder
liebt das Tanzen, dem TA muss man scheinbar gleich „verfallen" sein, um
einen mehrfach aufgefallenen Ausdruck herauszupicken.)
Die ganze Werbung,
die den Tanz nach außen immer in die erotische, leidenschaftliche Ecke stellt
und das markant nach außen kommuniziert. Ich breite ja auch nicht jedes Mal
episch aus, dass die jetzt folgende Rumba eigentlich das Anbaggern meiner
Tanzpartnerin darstellt ;-)
Ich muss da jetzt
dran denken, wie der ADTV andere Tänze charakterisiert, z.B. „Der Cha Cha Cha
ist ein munterer kesser Tanz – ein Flirt. Der Charakter des Tanzes ist frech,
lebhaft, spritzig und fröhlich."
Darf ich Cha Cha nun
auch tanzen, wenn es mir nicht so gut geht und ich einen Hang zur Depri habe? Wird
der Tanzlehrer mich niedermachen, wenn ich traurig gucke? *Muss* ich flirten –
auch wenn ich mit einer Frau tanze, die mir überhaupt nicht gefällt? Habe ich –
so wie ich Cha Cha tanze – überhaupt Chancen auf einem Turnier?
Nun meine Frage: Kann
man eigentlich (ohne beispielsweise von den Verfechtern irgendeiner reinen
Lehre gleich wegen JEHOVA-Rufen verfolgt zu werden) auch einfach sagen, dass
man TA tanzt, weil man ihn spannend findet, oder interessant oder was auch
immer?
Oder muss man ihm
gleich „verfallen" sein, zu seiner Tanzpartnerin eine innige erotische
Atmosphäre aufbauen und natürlich auch wissen, wie der Tango nun genau in den
Bordellen oder woher-er-auch-kommen-mag laut dem eigenen Tanzlehrer (der
vermutlich selber nicht die letzten Jahrzehnte die Entwicklung vor Ort
miterlebt hat und nur Gehörtes wiederkäut) in Südamerika entstanden ist?
Darf man einfach Spaß
daran und dabei haben, oder ist man dann ein Atheist, ohne Chance, jemals von
der "Szene" aufgenommen zu werden? Kann man am TA einfach Spaß haben,
ohne gleich den geschichtlichen, erotischen, philosophischen, südamerikanischen
Ballast mitkaufen zu müssen?
***
*Solche*
Charakterisierungen, Festlegungen gibt es für den Tango gar nicht. Wozu auch?
Tango ist alles Mögliche und für jeden was anderes.
Wer sollte denn die
Unverfrorenheit begehen, seine persönlichen Vorlieben im TA zum Standard zu
erklären? Ja, ja, ich weiß, es gibt da einen in Berlin und neuerdings noch
einen aus dem Süden zugezogenen Neuberliner, die aufgrund ihres Egos beide
sofort bereit wären, diesen Standard zu definieren. Nur, was hilft ein
Standard, wenn sich keiner dran hält?
Aber dass Leute von
ihrem Hobby schwärmen, und einige davon kein anderes gelten lassen wollen
oder gar ‘ne Art „Privatreligion" draus machen, ist doch zutiefst menschlich
(und Derartiges zieht sich z.B. doch durchs gesamte Usenet).
Kurz meine Meinung: Wenn sich jemand als „Vertreter der reinen Lehre" im Tango gebärdet, dann
kannst den getrost in die Schublade „engstirniger Trottel" einordnen. ;-)
Es gibt viele
verschiedene „Szenen". Es gibt bestimmt welche, wo du damit gleich als
Paria gezeichnet bist. Aber es gibt auch keinen Grund, diese Leute zum Maßstab
zu nehmen.
Wart mal, bis du in
Diskussionen gerätst, welche Musik zulässig ist. Ob die Tangos zwingend von vor
1950 sein müssen oder ob sogar „Tango Nuevo", „Elektrotangos" oder
gar „Non-Tangos" zum Tanzen geeignet seien ;-)))
Und dann gibt‘s noch
das Thema „Codigos", d.h. wie man sich beim Tango „richtig" (also
argentinischer als die Argentinier selber ;-)) verhalten muss.
Ich tanze doch für
meine Partnerin und mit ihr, und nicht für die Meinung von Tanz-Philosophen
oder anderen. Schaue Dir doch nur mal die Paare bei den üblichen Tanzpartys an,
Du wirst erstaunt sein, wie oft Paare technisch nicht so brillant und neben dem
Takt unterwegs sind. Und schau in ihre Gesichter, in der Regel haben sie
einfach Spaß zusammen, und darum geht es primär.
Ja, und man kann auch
Spaß haben, wenn man den Tango Argentino als Tango Argentino bezeichnet und
nicht als Tango Archentino. Was hier in der Gegend langsam auch schon
snobistische Ausmaße annimmt. Solange Du keinen bei einer Milonga über den
Haufen tanzt, kann es jedem egal sein, mit welcher Motivation Du und Deine
Partnerin tanzt.
***
Sollten
Ihnen diese Gedanken ziemlich anachronistisch vorkommen, haben Sie recht: Die Beiträge sind neun Jahre alt.
Damals
begannen einige von uns, die ganze Entwicklung reichlich suspekt zu finden.
Inzwischen ist all das eingetroffen, was wir einst für unmöglich hielten: Der
ganze Ballast ist uns längst auf die Füße gefallen.
Viele
der damaligen Schreiber sind wohl inzwischen bei anderen Tänzen gelandet. Für
den Rest (so er noch zu den früheren Ansichten steht) bleibt lediglich
Nostalgie.
Immerhin
ein häufiges Tango-Thema.
P.S.
Den ganzen Diskussionsstrang kann man hier nachlesen:
http://de.rec.tanz.narkive.com/0jaafi64/tango-argentino-ohne-den-ganzen-ballast#post1
Ts, damals war ich offenbar noch im Usenet aktiv ;-)
AntwortenLöschenSowas, keinerlei Weiterentwicklung bei mir. ;-)
AntwortenLöschenSteh immer noch hinter dem, was ich damals zusammengeschreibselt hab ...
Hatte mich sehr amüsiert, Deinen Namen unter den Autoren zu finden.
LöschenHast recht, auf gewisse "Weiterentwicklungen" sollte man verzichten!
Soso, hat jemand eine meiner ersten Begegnungen mit dem Tango Argentino wieder ausgegraben.
AntwortenLöschenTja, aus heutiger Sicht, nach dem Tod des Usenet und dem Aufkommen der Blogs, würde ich vielleicht noch das Aufkommen von und gegenseitig sich befehdender Blogs als Beispiel für mein Befremden anfuhren.
Zwischnzeitlich habe ich in der Tat anderthalb Jahre einen an sich guten Kurs gemacht, aber nicht nur die "komischen Leute", sondern auch die für mich schwerer zu verstehende Musik plus das "Stehkuscheln", das sich mit meinem Bewegungsdrang als S/L Tänzer nicht verträgt, waren dann Gründe, aufzugeben.
Christian Bartsch
Lieber Gerhard
LöschenDer Mann spricht mir aus der Seele: ....das "Stehkuscheln", das sich mit meinem Bewegungsdrang als.....Tänzer nicht verträgt...."
Mit Kuscheln bin ich ausreichend eingedeckt, beim Tanzen will ich tanzen und meine Bewegungsenergie und die Verbindung zu geeigneter Musik ausleben. Aufrecht oder waagrecht mit beliebigen Frauen auszuruhen (wenn sie auch noch so schön und interessant wären und das sind sie alle) verstehe ich nicht unter "Tanzen". Grüße aus dem Salzkammergut, Peter.
Darf ich so blöd fragen: was bedeutet hier S/L ?
Lieber Peter,
Löschenna ja, machmal schließen sich ja das Ausleben von Bewegung und Kuscheln nicht aus...
Lieber Christian Bartsch,
AntwortenLöschenschön zu hören, dass es die Leute von "damals" noch gibt - weniger schön, dass sie sich nicht viel lauter zu Wort melden!
Das "Stehkuscheln" seltsamer Menschen ist zwar verbreitet, aber weiterhin nur ein Bereich des Tango. Dass es genug Gäste gibt, die selbst einen (fast) ganzen Abend Piazzolla goutieren, habe ich ja gerade dokumentiert.
Fehden gibt es übrigens genauso im S/L-Bereich. Ich empfehle hierzu z.B. die Lektüre der entsprechenden Themengebiete auf www.tanzmitmir.net!
Und auch das Sterben beschränkt sich im Internet nicht nur auf das Usenet...
Herzlichen Dank für das Lebenszeichen!
Gerhard Riedl
Ahhhhhh S/L Standard Latein, als Balltänzer kenn ich die Insiderkürzel nicht.
AntwortenLöschenGenau! Wie sich da auf Foren die Herren Turniertänzer gegenseitig fetzen, ist ganz eindrucksvoll.
LöschenÜbrigens gibt es zwei rivalisierende Welt-Tanzsportverbände, die teilweise Sperren verhängen, wenn ein Paar bei Wettbewerben der Konkurrenz antritt!