Unbewegtes Vorspiel
Leider
höre ich seit einigen Jahren nur noch wenig Live-Musik beim Tango. Und das,
obwohl mich viele der zeitgenössischen Ensembles stark beeindrucken: Häufig
werden die alten Titel mit sehr viel Engagement und Elan in modernen
Arrangements dargeboten – und manchmal gibt es sogar neue Kompositionen, die
mir gut gefallen.
Zweifellos
hätten die oft sehr jungen und ambitionierten Gruppen mein Eintrittsgeld
verdient, aber dennoch besuche ich solche Veranstaltungen eher nicht.
Der
Grund ist sehr einfach: Ich darf dort
auf die schönsten Stücke nicht tanzen!
Die
Tango-Gastgeber hängen ja heute mehr denn je am Tropf der sich ausbreitenden „traditionellen
Ideologie“ – wer da nicht mit den Wölfen heult, kann sich einen Wolf
veranstalten und hat dennoch kaum eine Chance auf zumindest kostendeckende
Aktivitäten. (Zumindest in Großstädten bliebe noch die Chance, „alternativen
Tango“ anzubieten – jedoch erwartet diese viel kleinere Szene dann vorwiegend
Popmusik…)
Seit
Jahren beobachte ich den Eiertanz im „Tango-Mainstream" hinsichtlich moderner Musik (in diesem Umfeld ja Aufnahmen spätestens nach 1960). Die
konservativen Zeitgenossen des damaligen Tango nuevo befanden, diese Musik sei
überhaupt kein Tango – was sich musiktheoretisch nicht ganz halten ließ… In der
Folge versuchte man diese Klänge als musikalisch minderwertig hinzustellen („Piazzolla-Karaoke“). Offenbar ließ
sich auch diese Sichtweise aber trotz bestehender ideologischer Verblendung nicht
durchhalten – immerhin gilt Astor Piazzolla (neben Carlos Gardel) weltweit als
der berühmteste argentinische Kulturschaffende. Auch dem Argument, der
Komponist selber habe diese Musik als nicht zum Tanzen geeignet hingestellt,
fehlte irgendwie die Durchschlagskraft…
Inzwischen
gilt als offizielle Parteilinie, es gäbe zwar schon auch qualitativ
hochstehende modernere Tangomusik, jedoch fehle eben die „einmalige Symbiose“
der Musiker mit den Tanzenden, wie sie eben nur in der EdO vorgeherrscht habe.
(Die Existenz reiner Studio-Ensembles wie dem „Orquesta Tipica Victor“
übersieht man dabei großzügig.)
Doch
der fulminante Erfolg von heutigen Ensembles wie dem „Sexteto Milonguero“
erzwang wohl ein erneutes Umdenken: Nur mit Museumsmusik kann man zwar
Hardcore-Traditionalisten anlocken, aber die werden längst in der
Encuentro-Szene finanziell erleichtert und lassen so die Kassen örtlicher
Tangoveranstalter eher ungefüllt.
Was
also tun? Den Milongagästen doch wieder eine „untanzbare“ Mixtur verschiedenster
Musikstile zumuten wie noch vor 15 Jahren? Das würde nur zum Konflikt mit
Traditionalisten führen, welche des festen Glaubens sind, die Musik habe sich
ihrem Tanzstil anzupassen und nicht umgekehrt.
Die
immer mehr um sich greifende Kompromisslösung: Tangoveranstaltungen werden
zweigeteilt. Im ersten Abschnitt dürfen die jungen Musiker mal so richtig
kreativ loslegen, inklusive Piazzolla & Co. – wie schön! Der
Wermutstropfen: Da diese Musik ja als konzertant gilt, gibt es ein reines
Konzert: Bewegung dazu verboten! Auch so kann man die „Symbiose" von Musikern und Tänzern einschränken...
Nach
entsprechendem Tischerücken wird anschließend eine Tanzfläche geschaffen,
welche allerdings mit braverer Musik von der Konserve beschallt wird. Und
selbstverständlich gibt es noch ein, zwei Sets mit den Livemusikern von vorher,
welche sich nun allerdings einer disziplinierteren Vortragsweise zu befleißigen
haben, auf dass die Tänzer nicht überfordert werden.
Ich
habe mich neulich doch wieder einmal einem solchen Konzept ausgesetzt – mit einem
Ensemble, das ich seit langer Zeit sehr schätze: Die Interpretation von
Tangotiteln (nicht nur Piazzolla) im Konzert-Teil war teilweise phänomenal –
was hätte ich dafür gegeben, darauf tanzen zu dürfen… War aber nicht vorgesehen.
Was
die Gruppe dann im Milonga-Teil ablieferte, glich abgestandenem Champagner: Man
schmeckte die Qualität schon noch, aber das Prickeln fehlte. Und der sehr gute
DJ tat sein Möglichstes, um die Tanzenden mit abwechslungsreicher Musik zu
versorgen. Dennoch: Wäre mir eine Wahl geblieben, hätte ich lieber im zweiten
Teil gesessen!
Wäre
es eigentlich so schlimm, schon während des „Konzerts“ das Parkett offen zu
halten, auf dass diejenigen, welche können und wollen, auf diese Klänge tanzen
dürfen (und zusätzlich würde man sich den Umbau ersparen)? Denkt man diese
Frage zu Ende, wird es nicht eben tröstlicher: Dann würden ja alle sehen, dass
man auf anspruchsvoll interpretierte Musik durchaus tanzen kann, und wie! Eines muss
ein Veranstalter natürlich unbedingt vermeiden: Dass ein Teil seiner Gäste sich
blöd vorkommt…
Daher:
Zuerst Abitur zum Zugucken, dann Förderschule zum Mitmachen!
Aber
so ist halt die Tangoszene von heute – und darum wehre ich mich tapfer gegen
die Metaphern, welche sich mir vergleichend aufdrängen, zum Beispiel, ob durch
Verzicht auf Bewegungen im Vorspiel spätere Höhepunkte erreichbar werden...
Was
würden wir von einem Fernsehkoch halten, der uns zunächst die Zubereitung eines
Filets Stroganoff erklärt und uns anschließend Griespampe mit Himbeersirup auftischt?
Aber
wir Tangomenschen sind ja heute, um es mit Tucholsky zu sagen, „Griesbreifresser“ – und daher verdienen
wir es halt auch nicht besser!
P.S. Demnächst wird es auf unserer „Wohnzimmer-Milonga“ wieder Live-Musik geben. Unsere Musikerinnen legen Wert auf die Feststellung, dass sie – wie die „Gran Orquestas“ der EdO – von Anfang an zum Tanz spielen!
Hm, diese Zweiteilung habe ich noch nicht erlebt.
AntwortenLöschenAllerdings wurde mir schon mal gesagt, dass man zum ersten Stück nicht tanze, das würde man in Argentinien auch nicht...
Ja, dann...
LöschenAber im Ernst: Von mir aus nicht zum ersten Stück, aber doch nicht den halben Abend!
Hallo Gerhard,
AntwortenLöschendas habe ich bisher ganz anders erlebt. Oft gibt es Veranstaltungen, wo viele Tänzer sind und der Platz trozdem nicht immer so gestaltet ist, dass es eine Tanzfläche gibt. Bisher habe ich dann immer ein Plätzchen zum Tanzen gefunden. (Vor der Bühne, ganz hinten oder zwischen den Sitzgelegenheiten. Ich wurde dabei noch die rausgeschmissen, im Gegenteil, andere haben anerkennend geschaut und sich teilweise dem Tanzen angeschlossen und auch mal etwas Platz zum Tanzen gemacht.
Viele Grüße
Jürgen Engel
Lieber Jürgen Engel,
LöschenKompliment, sehr gut! Eine solche Eigeninitiative habe nun wiederum ich noch nie erlebt.
Auch schon mal in München probiert? Da wäre des Chance des Rausschmisses auf etlichen Veranstaltungen ziemlich groß. Aber vielleicht sind das spezifisch bayerische Probleme.
Jedenfalls aber schade, dass die Veranstalter diese Option nicht von vornherein anbieten!
Beste Grüße
Gerhard Riedl