Gefühlen folgen oder Fehler vermeiden?

Ich finde es schön, dass mein Artikel über das legendäre Tanzpaar Fred Astaire und Ginger Rogers den Kollegen Wendel zu einem eigenen Beitrag animiert hat. Der Grund: Auch er sei von Jugend an fasziniert von den Musicals dieser Ausnahmetänzer. Heimlich habe er die Sequenzen sogar nachgetanzt.

Über das „Geheimnis der tänzerischen Wirkung“ kommt dann eine Passage, bei der ich mir mehrfach die Augen reiben musste:

Es gibt Tänzer, die alles richtig machen – technisch sauber, im Takt, präzise. Und doch bleibt etwas aus. Kein Funke springt über. Die Bewegungen wirken wie korrekt gesetzte Buchstaben ohne Satzmelodie – verständlich, aber ohne Poesie. Dazu gehöre leider auch ich. 
Was fehlt? Oft sind es Esprit, Präsenz, Ausdruck – jene unsichtbaren Ingredienzen, die auch einfache Schritte wie ein Feuerwerk erscheinen lassen.“

https://www.tangocompas.co/aesthetisches-empfinden-und-tanztechnik/ 

Ich will Wendel wegen dieser ehrlichen Selbsteinschätzung durchaus Mut attestieren. Genau um diesen Aspekt geht es mir in vielen Artikeln. Ich glaube nur, man muss dazu nicht mal „alles richtig machen“. Wer von uns kann das schon?

Im Gegenteil: Ich halte diese ständige Fixierung auf „Vorgeschriebenes“ beim Erlernen des Tango für völlig kontraproduktiv.

Als wir vor fast zehn Jahren unsere beiden Pörnbacher Musikerinnen in einem kleinen Video vorstellen wollten, kam meiner Tanzpartnerin und mir die Idee, zu einem der Titel auch zu tanzen – mit „El Choclo“ noch dazu eine der Neuerungen völlig unverdächtige Komposition:

https://www.youtube.com/watch?v=fX4SXOPa4cY

Im Begleittext schrieb ich, wir hätten vor Beginn unserer „Wohnzimmer-Milonga“ im kleinen Kreis schon „viel Spaß“ gehabt. Und das entspricht den Tatsachen. Kein Wort davon, wir seien stolz auf unsere Darbietung oder hielten sie gar für einen Ausweis besonders guten Tanzens.

Seither taucht dieses Video regelmäßig auf, wenn irgendein gehässiger Volltrottel wieder mal meint, mir einen mitgeben zu sollen. Dazu dürfen wir dann solche Beiträge lesen:

„Hallo Herr Riedl! Es ist einfach nur peinlich, wie sie sich hier darstellen! Sie sind eine Schande für den argentinischen Tango!“

„Das Video ist nichts anderes als reiner Dreck. Schämen Sie sich, Herr Riedel samt Bößel. Schlimmer geht’s wohl wirklich nimmer.“

„Der Tanz ist ein Albtraum! Der Tänzer hat überhaupt kein Gefühl für seinen Körper und die Musik. Jegliche für den Tango spezifische Verbindung zur Partnerin fehlt. Es verursacht körperliche Schmerzen, das Video zu betrachten.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/05/zu-besagtem-video.html

Na, immerhin hat das Gedöns dem Video an die 4000 Zugriffe beschert! 

Auch Kollege Wendel hat Tanzvideos von uns öfters in „fachmännischer“ Schärfe zerlegt.

Später wurde ich dann belehrt, um die Qualität des Gebotenen gehe es ja gar nicht – vielmehr kritisiere man, weil ich so ein böser Blogger sei. Es lebe die Objektivität!

Meine Partnerin Manuela hat auf die Anwürfe so geantwortet:

„Ich war dabei. Ja, richtig, eine 'Partnerin' wurde ja erwähnt. Und ich bin diejenige, die mit Gerhard getanzt hat. Und wissen Sie, warum ich das tat? Ganz einfach: Ich hatte Lust darauf! Wunderschöne Musik von meinen Lieblingsmusikerinnen, Teppich aufgerollt und einen wunderbaren Tänzer griffbereit. Was will man (also ich) mehr?

Die drolligen Beschreibungen der angeblich fehlenden 'Verbindung' haben mich sehr amüsiert. Wer kann denn eine Verbindung am besten beurteilen? Richtig, die beiden Menschen, zwischen denen die Verbindung besteht." 

Wir alle tun gut daran, uns nicht mit Profi-Tanzpaaren zu vergleichen. Aber auch bei denen sieht man Darbietungen, die routiniert, aber steril wirken – und andere, welche Emotionen ausleben (nicht: darstellen). Und wer beim obigen Video unsere Gesten und Gesichter betrachtet, dürfte erkennen, dass wir wirklich Freude an dem hatten, was da mit uns passierte.

Bei vielen, auch professionellen Tangoszenen sehe ich eher Fehlervermeidung als Vergnügen.

Mit meiner damaligen Tanzpartnerin diskutiere ich öfters solche Fragen. Dabei fiel von ihr ein Satz, über den ich länger nachdenken musste:

„Beim Tango darf man keine Angst davor haben, dass es scheiße aussehen könnte.“

Um es etwas netter auszudrücken: Man muss sich vom Gedanken lösen, dass man „Experten“ etwas vorführt, was nachher streng bewertet wird. (Im Turniertanz hatten wir das zur Genüge.) Wenn ich auf vielen Milongas die leeren Gesichter, die lustlosen Aktionen der Tänzer sehe, möchte ich ihnen zurufen: „Mann, du hast gerade eine wunderschöne Frau im Arm, die sich alle Mühe gibt, sich auf deinen Kram einzulassen! Freut dich das denn gar nicht? Mach halt was draus!“

Bei Frauen sehe ich entsprechende Mienen häufiger – wenn sie nicht gerade gezwungen sind, mit ihrer Nase im Hemdkrägen ihres Partners abzutauchen.

Aber die Jungs begreifen ihre Bestimmung ja eher darin, sich im Netz über die Feinheiten des Ocho adelante zu verbreiten. Es ist ein Trauerspiel!

Kollege Wendel sagt völlig zu Recht, dass Esprit, Präsenz und Ausdruck Ingredienzien seien, die auch einfache Schritte wie ein Feuerwerk erscheinen ließen.

Nur: In welchem Kurs kann man das lernen? Wahrscheinlich in keinem. Stattdessen wird man darauf hingewiesen, was alles falsch sein könnte.

In meiner Tango-Frühzeit habe ich noch mehr Tanzpaare erlebt, die es bei Vorführungen richtig krachen ließen. Ich habe mich aber nie bemüht, ihnen Schritte und Figuren abzuschauen. Stattdessen versuchte ich herauszukriegen: Was fühlen die in solchen Momenten? Und dieses Gefühl versuchte ich selber auf dem Parkett nachzuvollziehen. Dabei gelangen mir öfters Bewegungen, die ich keinem Tangounterricht verdanke.

Fühlen statt führen… ich glaube, damit kommt man in unserem Tanz an das Wesentliche.

P.S. Wenn ich mich recht erinnere, zeigt das Schlussbild der „Asterix und Obelix“-Geschichten stets eine Feier, bei welcher die Gallier ums Lagerfeuer sitzen. Den Barden Troubadix, der geistreiche Gesänge darbieten wollte, hat man gefesselt und geknebelt in einen Baum gehängt. Man genießt lieber Wildschwein und Bier.

Diese Einstellung könnte auch den Tango weiterbringen!

Kommentare

  1. Lieber Herr Riedl,
    hervorragender Artikel, eine völlig neue Sicht auf meinen Artikel, den ich aus Sicht Ihrer klugen Interpretation noch garnicht betrachtet hatte.
    Und bei dem zitierten Satz –
    „Beim Tango darf man keine Angst davor haben, dass es scheiße aussehen könnte.“
    – über den Sie länger nachdenken mussten, habe ich erst jetzt Ihr Video verstanden und es mit ganz neuen Augen betrachtet. Das ist ein völlig neuer Aspekt in der Bewertung von Tanzdarbietungen, der den Jurys in der Mundial völlig fehlt. Danke für den Hinweis.
    Das wäre ein neuer Impuls, um noch mehr Teilnehmer in den Wettbewerb aufzunehmen, würde die Zahl der Bewerber in unermessliche Höhen treiben und könnte einen wirtschaftlichen Aufschwung der Tomatenhändler bewirken, die ihre Restbestände endlich mit Gewinn loswerden könnten. Ein neuer Input, für die dahinsiechende Tango-Szene. Und was die "Fesselung von Troubadix" angeht, kommen Sie wohl so langsam dahinter, was Ihre Kritiker alle meinen. Ein kleiner Lichtblick!
    Mit freundlichen Grüßen
    Klaus Wendel
    PS. Falls Sie es noch nicht bemerkt haben: Ich kann auch Satire!

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    1. Leider nein. Aber wenn Sie's sagen...

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