Reiner Showtango?
Es gibt einen bedingten Reflex beim Tango, der so zuverlässig funktioniert wie der des Physiologen und Nobelpreisträgers Iwan Pawlow, den wir bei der Klassischen Konditionierung alle mal in der Schule lernen mussten: Nur sondern wir beim Musikbeginn keinen Speichel ab wie der Hund beim Dressurexperiment, sondern vollführen eingelernte Schritte.
https://de.wikipedia.org/wiki/Pawlowscher_Hund
Im speziellen Fall kommt beim Vorschlag schwierigerer Musik oder komplizierteren Tanzens der Satz, das sei ja aber nun „Showtango“ (oder gar „Tango escenario“) – klassisch konditioniert.
Offenbar muss man beim Tango alles – Vorsicht Modewort – „einordnen".
Auf meiner Facebookseite, wo ich aktuell auf meinen Artikel „Eng oder offen tanzen?“ hinwies, liest sich die Speichel-Sekretion wie folgt:
„Wechsel der Haltung: D'accord!
Showtanz: ist was anderes als Milonga social! Um die Show-Elemente zu zeigen, braucht es Platz – oder Platz, damit man die sieht.
Und: Showtänzer tanzen selten auf Verbindung untereinander, die connecten mit dem Publikum – und das geht eng-umschlungen und innig im Paar nun mal nicht.
Von daher bietet der Tango escenario kaum einen guten Vergleich.“
Sätze wie diese kommen zuverlässig, wenn man es riskiert, für schwierigere Musik oder anspruchsvolleres Tanzen zu werben. Vielleicht sogar behauptet, dass es Spaß machen könnte: Oh nein, das wäre ja Showtango...
Und wenn man den Vorführenden die auch emotionale Verbindung untereinander nicht ansieht, wirkt das Ganze halt steril und auswendig gelernt. Und das ist wahrlich nicht selten, auch bei Profis!
Showtango, so wird reflexhaft behauptet, habe ja mit „sozialem Tanzen“ nichts zu tun. Gerne lautet ein Zusatzargument, das gehe normalerweise schon wegen der „überfüllten Pisten“ nicht. Wie schade…
Seltsam – ich hatte in einem Vierteljahrhundert Tango kaum ein Problem damit, Milongas mit viel Platz auf dem Parkett zu finden. Die waren halt oft nicht so „angesagt“. Inzwischen habe ich den Eindruck, Tangoabende müssten abgesagt werden, wenn das Gedränge auf dem Parkett ausbleibt. Klar – wirtschaftlich gesehen ist es von Vorteil, wenn der Laden so voll ist, dass man auf der Tanzfläche kaum eine Flosse rühren kann. Aber müssen wir dem alles unterordnen?
Für mich ist Tanzen ein Ausdruck von Freiheit und nicht der Beweis sozialer Unterordnung. Hinter dem vorderen Paar herzudackeln ist für mich das Gegenteil tänzerischer Interpretation.
Für mich haben solche Darlegungen Ausreden-Funktion: Man darf ja als Laie gar nicht besser und fantasievoller tanzen, da dies den Profis bei Shows vorbehalten bleibt. Und dann noch die vollen Tanzflächen...
Seltsam, dass Fußball-Knirpse versuchen, wie Thomas Müller, Harry Kane oder Joshua Kimmich gegen den Ball zu treten, ohne dass man sie belehrt, dies sei „reiner Show-Fußball“. Ein solcher Quatsch ist offenbar dem Tango vorbehalten.
In einem früheren Artikel habe ich den Tangolehrer Yannik Vanhove zitiert, der die Sache – eine Ausnahmeerscheinung – ziemlich anders sieht:
„Tango ist Tango. Traditioneller Tango ist Tango, Tango de Salon ist Tango, Tango Milonguero ist Tango, Tango Nuevo ist Tango, Tango Escenario ist Tango, Wettbewerbs-Tango ist Tango. Wir tanzen einen Tanz, der jung ist, immer noch sehr lebendig und sich weiter entwickelnd. Wir sind alle hier, um den Tanz zu genießen, den wir lieben, egal, welchen Stil. Des Tangos Schönheit liegt in seiner Vielfalt. Wir respektieren alles, denn alles davon ist Tango.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/05/tango-ist-tango.html
Ist das nun „reiner Bühnentango“, was Liz und Yannik Vanhove hier vortanzen? Ich meine, es könnte für uns alle eine Anregung bedeuten – was ja nicht bedeuten muss, dass es uns in dieser Perfektion gelingt:
https://www.youtube.com/watch?v=dnJUcKxVEDk
Klar, die Geschmäcker und Ansprüche sind verschieden. Es bringt nur nichts, alles, was man selber nicht kann, als „Bühnentango“ abzutun.
Wie heißt es in Shakespeares „As you like it“ so schön:
„All the world's a stage,
And all the men and women merely players“
Das passt auch zum folgenden Video. Gelegentlich gibt es im Tango auch „Showtanz-Kurse“ – welche in der Regel die Teilnehmenden zu bezahlen haben (sonst wäre es ja kein Unterricht). Ich finde den Auftritt mutig, allerdings wirkt er schon ziemlich auswendig gelernt. Aber das ist bei Profis manchmal nicht anders!
Viel Spaß:
https://www.youtube.com/watch?v=In6SuTdcPHQ
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