Von Essstörungen und dem Cabeceo-Training

Eine interessante Geschichte hat mir meine Kollegin Manuela Bößel zukommen lassen: Es geht um ein Interview, das Sebastian Dalkowski von der „Rheinischen Post“ mit einer ehemaligen Veganerin führte.

Die Dame, welche sich nach meinem Eindruck ziemlich viel mit ihrer eigenen Ernährung befasst, konnte dem Essen von Fleisch noch nie Besonderes abgewinnen. Sie verschrieb sich der Makrobiotik, und als ihr Fisch auch nicht mehr zusagte, wurde sie Veganerin.

Inzwischen ist sie nun aber wieder zu einem gemischten Speisenplan zurückgekehrt, da sie bei der veganen Ernährung mit starken Mangelerscheinungen zu kämpfen hatte.

Der Journalist führte das Gespräch mit ihr nicht, um zu zeigen, dass die tierfreie Kost sinnlos oder gar gefährlich sei – er fand es lediglich interessant, dass es auch Veganer gab, welche diese Ernährungsweise wieder aufgegeben hatten.

Die letzte Frage des Interviews war: „Was empfehlen Sie Leuten, die Veganer werden wollen?“ Antwort: „Sie sollen es machen, aber ganz stark auf die Signale ihres Körpers achten und sich Wissen aneignen.“

Sobald der Artikel im Internet zu lesen war, hagelte es aus der fleischlosen Abteilung Beschimpfungen gegen den Autor und seine Gesprächspartnerin:

„Journalismus zum in die tonne treten."

„Die Frau hat leider Gottes wohl eine Essstörung."

„Ich denke sogar das Ganze ist ein kompletter Fake. Da will jemand nur Reaktionen provozieren."

„Und jetzt ratet mal von welcher lobby das wohl gesteuert wurde?!"

„Ich will es erst gar nicht lesen. Es riecht schon sehr streng nach Haufen Scheisse"

„Ist ein Versuch der fleischlobby aber wir haben Herz und klären weiter auf...."

Ein wiederholtes Argument besagte auch, die Dame sei gar keine „richtige“ Veganerin.

Der Journalist wurde dadurch auf eine 11000 Mitglieder starke vegane Facebook-Gruppe aufmerksam, welcher er beitrat. Als sein Name als Urheber des inkriminierten Artikels ruchbar wurde, gab es auch dort Saures:

„Raus mit ihm, sage ich, und zwar so schnell wie moeglich."

„Ich nehme kein Blatt vor dem Mund, deswegen bedank ich mich ganz herzlich beim riesen Arschloch Sebastian, dafür, dass er den deutschen Fleischessern neuen Mut gebracht hat und ein gutes Gewissen, (...) du bist einfach nur Abschaum."

„Was mich am meisten ankotzt: Kein wenig Einsicht, keine Entschuldigung, Nichts! Während dessen kursiert sein mit Lügen vollgepacktes Schwachmaten-Interview durch die virtuelle Welt der hirngeschädigten Speziesisten.“

(Da mir die Wortschöpfung auch neu war: Speziesismus bezeichnet die Denkweise, ethische Unterschiede zwischen Mensch und Tier zu machen, beispielsweise, dass man zwar keine Menschen töten dürfe, Tiere aber schon. https://de.wikipedia.org/wiki/Speziesismus)

Ein Administrator legte Sebastian Dalkowski nahe, die Gruppe zu verlassen – wegen der Unruhe, die er erzeugt habe. Der Journalist tat dies nicht, sondern forschte weiter – mit kabarettreifen Ergebnissen:

Darf man Zecken töten, nachdem man sie aus der Haut gedreht hat? (Als Biologe vermute ich: Den Griff mit der Pinzette dürften die kleinen Sauger eh nicht überleben!)

Gibt es „veganes Reiten“? (Ich nehme an, auf einem hölzernen Schaukelpferd schon!)

Interessant fand er es auch, in diesen Kreisen eine solide Wissenschafts-Feindlichkeit auszumachen: „Sich komplett und ausschließlich nur auf wissenschaftliche Fakten blind zu verlassen, ist töricht. Du bist dir durchaus bewusst, wer die Wissenschaft lenkt und in der Hand hat?“

Es gab auch besonnene Stimmen, die sich aber seltener und weniger auffällig äußerten. Insgesamt stellt Sebastian Dalkowski fest:

„Wenn aber dann eine radikale Minderheit für alle verbindlich festlegen möchte, was richtiger und was falscher Veganismus ist. Wenn sich manche in Diskussionen aufführen, als dürften sie sich alles erlauben, nur weil sie auf der ‚richtigen‘ Seite stehen. Wenn es ihnen bloß darum geht, das letzte Wort zu haben — dann ist auch eine so gute Idee wie der Veganismus in Gefahr. Dann ist es ziemlich leicht, sich über die Vertreter des Veganismus aufzuregen oder sich über sie lustig zu machen. Dann geht auch schnell jegliches Interesse am Veganismus wieder verloren. Brüllen hat noch niemanden überzeugt.“

Quelle:

https://rp-online.de/leben/gesundheit/ernaehrung/veganismus-wie-einige-radikale-eine-gute-idee-gefaehrden_aid-19211387

Na ja, da bin ich mir – auch in der Politik – nicht ganz sicher…

Hier das Interview mit der Ex-Veganerin:

https://rp-online.de/leben/gesundheit/ernaehrung/interview-mit-ex-veganerin-warum-sie-nach-7-jahren-wieder-fleisch-isst_aid-9537759

Der Journalist hat mit ihr ein weiteres Gespräch geführt, in dem sie sagt:

„Mein Erfahrungsbericht hat mehrere Dogmen in Frage gestellt. Zum Beispiel habe ich gesagt, dass ich als Mensch das Recht habe, ein Tier zu töten und zu essen. Dann habe ich das Dogma in Frage gestellt, dass vegane Ernährung für alle und jeden die optimale Ernährung ist, und damit verbunden die Behauptung, dass, wer es nicht schafft, persönlich versagt. Das heißt, wenn jemand mit dieser Ernährung nicht zurechtkommt, liegt der Fehler einzig und allein bei der Person und niemals an dem Ernährungskonzept selbst, denn das ist ja ‚optimal‘.“

https://rp-online.de/leben/gesundheit/ernaehrung/ex-veganerin-wehrt-sich-gegen-vorwuerfe_aid-9537779

In FB-Tangokreisen habe ich einmal erlebt, wie man sich mit einem Veranstalter kloppte, der es gewagt hatte, ein Foodie mit einem Schinken-Brotzeitbrettl nebst einem Flachwitz über Veganer zu veröffentlichen. Die anschließende Moralpauke ging über mehrere Seiten.

Für mich sind die Parallelen zwischen Hardcore-Veganern und eisernen Verfechtern der „Tangotraditionen“ unübersehbar. Beide Bereiche sind ein hervorragendes Biotop für Ideologen. Als Gemeinsamkeiten sehe ich:

·       Den jeweiligen Herrschaften fehlen sogar homöopathische Dosen von Humor. Mal über sich selber lachen zu können ist nicht drin.

·       Stattdessen verliert man sich in einem komplizierten Regelwerk, welches letztlich nur dazu dient, die Bretter vorm Kopf festzuklopfen. Der Tango wird in einer Überdosis Gehirnschmalz zu Tode frittiert:

„Meiner Meinung nach wäre es für Anfänger im Führen angemessen, auf der inneren Spur zu tanzen, aus Rücksicht auf den Tanzfluss der Außenspur, und gerade, um die beschriebene Situation zu vermeiden, in der man als nachfolgendes Paar den ständigen Spurenwechsel des Vordermannes kompensieren muss. Ich persönlich finde es aus Sicht des nachfolgenden Führenden nicht rücksichtslos, den Platz einzunehmen, der vor ihm frei gemacht wurde, unabhängig davon, ob der (ehemalige) Vordermann den Platz bewusst freigemacht hat oder es sich durch Ecken abkürzen und dergleichen ergeben hat. Sobald ein Tanzpaar (mit normalem Körperbau) neben/rechts vorbei tanzen kann, sind es deutlich mehr als 30 cm, die man sich von der Außenspur wegbewegt hat, und man sollte damit rechnen, dass dies als Wechsel in die Innenspur ausgelegt werden kann.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/10/ronda-fur-fortschreitende.html

·        Genauestens wird festgelegt, was denn nun der „richtige“ Veganismus oder der „authentische“ Tango sei. Abweichler werden sofort ausgegrenzt.

·        Jede Kritik am Detail interpretiert man sofort als Angriff aufs Ganze. Man kann nur das Gesamtpaket erwerben.

·        Wer mit den komplizierten Reglements (wie „Tanzspur-Verordnungen“ oder der „Blinzel-Auforderung“) nicht zurechtkommt, ist stets selber schuld. Am genialen System kann es nicht liegen.

·        Mit Skeptikern führt man keine sachlichen Diskussionen, sondern greift sie persönlich mit oft unterirdischer Wortwahl an. Ich kann mich noch gut an die Beschimpfungen erinnern, als ich es einmal wagte, ein „Cabeceo-Training“ zu verblödeln:

 

https://www.youtube.com/watch?v=F63Yx_Dag6M

Bemerkenswert finde ich, was Nicole Nau kürzlich in einem Interview mit Lea Martin sagte:

Die bahnbrechende Show ‚Tango Argentino‘ (…) ist der Grund, warum wir alle heute Tango machen. Diese Show hat den Boom losgetreten. Luis sagt, das war ein Segen für den Tango Argentino einerseits, und ein Fluch andererseits. Weil dieser Boom auch dafür gesorgt hat, dass aus allen Ecken alle möglichen Quacksalber kamen und viel Schindluder getrieben wird. Eine Weltmeisterschaft tut einem Volkstanz nicht gut, weil man letztendlich Regeln tanzt. Das kennen wir aus dem ADTV. Man muss Regeln erfüllen, und das heißt, du nimmst das weg, was das Volk an natürlicher Freiheit hatte. Du stellst Regeln auf, die wenig tänzerisch sind, wenig Kunst. Du musst sie ja bewerten können. Du musst das und das erfüllen, sonst wirst du disqualifiziert.“

https://www.tangosociety.de/post/tanzen-im-supermarkt

Tja, wo sie recht hat… Ich finde, man sieht heute auf den Milongas vor allem „veganen Tango“: Viel Tofu, wenig Leidenschaft, brav und regelkonform, gluten- und lactosefrei. Da sehne ich mich nach einem bisschen mehr Fleisch an den Knochen!  

P.S. Eine ähnliche Geschichte:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2020/12/extremisten-unerwunscht.html

 

Kommentare

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