Platz da?!

 

Mein hauptamtlicher Chef-Kritiker Klaus Wendel hat in einer interessanten Diskussion ein Argument exhumiert, das mir schon in verschiedenen Versionen begegnete: Das Tanzen auf engstem Raum:

„Wenn jemand gern komplex und raumgreifend tanzen möchte, muss er/sie erstmal eine(n) passenden Partner(in) dazu finden. Und man braucht Platz dazu und geht deshalb nicht (zu früh) in eine überfüllte Milonga.“

„Raumgreifendes Tanzen, (‚Tanz braucht Raum‘ Zitat Nicole) ist auf gefüllten Tanzpisten, z. B. mit ‚Giros‘, nur mit viel Übung möglich. Die wenigsten Tänzer können sie tanzen, schon mal gar nicht in dieser intimen Umarmung ‚Kopf an Kopf‘. Und ohne Rücksicht und ein wenig Ordnung auf der Piste gäbe es nur Chaos.“

„Gut organisierte, aber ‚rappelvolle‘, Milongas, wie z.B. Eric Joerissens ‚Chained Salon‘ (ohne Eintritt) in Nijmegen mit klaren Ronda-Regeln, verschaffen mir ein entspanntes, komplexes Tanzen auf engstem Raum. Ebenso - das oft volle - Tango8 in Köln. Weil sich alle an die Ronda, an die Abstände, an den Tanzfluss halten, und - weil ich gut drehen und auf kleinstem Raum komplex tanzen kann.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2024/01/was-ihnen-ihr-tangolehrer-manchmal-doch.html?showComment=1706268874447#c1597263969078791980

Nahezu jede schwachsinnige Regel im Tango wird damit begründet, sie sei wegen des Gedränges auf der Piste unumgänglich:

·       Abweichen von der Ronda? Zu gefährlich wegen der überfüllten Piste!

·       Hohe Beinaktionen? Siehe oben!

·       Mal die enge Umarmung auflösen? Kein Platz!

·       Fantasievoller tanzen? Funktioniert nicht im dichten Gewusel!

·       Sich zu moderner, „schwieriger“ Musik bewegen? Gäbe in der Enge nur Chaos!

Dennoch behauptet Wendel, auf einem vollgestopften Parkett „entspannt und komplex“ tanzen zu können. Vor solcher Meisterschaft kann ich nur niederknien (falls Platz ist)!

Ich jedenfalls, so seine Diagnose, könne es wohl nicht:

„Mein Verdacht: Sie würden dort glatt scheitern, weil ‚Lücken-suchen-Tango‘ dort gar nicht möglich ist. (Luis & Nicole vielleicht auch – meine Vermutung). Vermutlich meiden Sie doch solche Milongas genau aus diesem Grund: weil sie's nicht können oder sich weigern, es zu lernen.“

Obwohl ich bei dem Vergleich erröte: Nein  Nicole, Luis und ich fahren nicht nach Holland, um eingepfercht im Trubel Klaus zu beobachten, wie er seine entspannten Künste demonstriert! Lieber lerne ich Schwimmen mit auf dem Rücken gefesselten Händen – obwohl, auch eine Scheißidee…

Tango jedenfalls, so hat es den Anschein, ist ein Tanz, welcher erst in der Enge seinen ganzen Charme entfaltet. Also, nix wie ran an die Mutter! Und wenn mal mehr Platz ist, gab es ja schon Geistesgrößen, die dann das Parkett verkleinerten. Auch eine Idee, die uns zeigt, zu welchen Abartigkeiten unser Tanz führen kann!

Ist eigentlich schon mal ein Autohersteller auf die Idee gekommen, seine Boliden mit dem Argument zu bewerben, sie eigneten sich besonders für den Stau? Oder hat ein Restaurant verkündet, man solle dort aus Platzmangel im Stehen essen – und die Speisen in der Hand halten, da kein Raum für Tische sei?  

Da Klaus Wendel mit Andersdenkenden gerne Verhöre führt, hat er mir in einem Kommentar sechs Fragen gestellt, die ich alle brav beantwortete. Hat aber auch nichts genützt. Und dass wir in unserem Wohnzimmer schon mit 7 Paaren auf 20 Quadratmetern getanzt haben, wird er nicht gelten lassen: Dort kostet es ja nichts! Private Initiativen zählen nicht. Er ist halt ein Vertreter der „Tango nur für Kohle“-Fraktion.

Ja, der Tango muss heute Gewinn abwerfen  die Tangoszene zerfällt in Unternehmer und Kunden. Was der Kommerz aus unserem Tanz machen kann, habe ich erst neulich erlebt:

Große Tango-Sause in einem beeindruckenden Saal: Livemusik, Kleider- und Schuhverkauf, Tralala. Ich hatte mir Karten im Vorverkauf besorgt, da ich annahm, diese seien ein endliches Gut. War aber offenbar nicht so: Der Auftritt der Live-Band verschob sich um 30 Minuten – vielleicht deshalb, weil immer noch Leute vor der einzigen Kasse standen.

Offenbar ließ man also alle rein, die wollten – und das Volk strömte in Viererreihen. Sitzplätze für jeden Gast? Nein, so der Veranstalter, das solle man nicht so eng sehen! Den Rest schon...

Zum Vergleich: Ich war an diesem Tag auch auf einer Demo mit 6000 Leuten in Ingolstadt – und dort hatten wir mehr Platz als auf dem Parkett! Ein elendes Gedränge – an halbwegs kreatives Tanzen zu der hervorragenden Musik war nicht zu denken. Ich war schon froh, dass wir halbwegs unbeschädigt nach Hause kamen.

Letzter Gag an der Garderobe: Ich hatte mir, Böses ahnend, ganz genau gemerkt, wo wir unsere Sachen aufgehängt hatten. Dort waren sie aber – auch nach Entfernen dreilagig aufgehängter Kleidungsstücke – nicht mehr zu finden. Nach zehn Minuten Verzweiflung dann die Lösung: Man hatte wegen des Andrangs wohl noch einen Kleiderständer dazwischengeschoben.

Die Tiefgarage: Ebenfalls überfüllt – aber man kann ja mit dem Radl kommen! Ist eh gesünder (für die Umwelt).

Ja, so macht Tango Spaß (obwohl: Soll er ja nach herrschender Meinung gar nicht)!

Die gesetzlichen Vorgaben für die Legehennen-Freilandhaltung besagen, dass jedem Huhn tagsüber eine Fläche von 4 Quadratmetern zur Verfügung stehen muss. So gesehen ist im Tango wohl die Käfighaltung üblich: Da dürfen es bis zu 9 Tiere pro Quadratmeter sein.

https://www.vier-pfoten.de/kampagnen-themen/themen/nutztiere/huehner/haltungsformen-bei-legehennen

Warum sollte man als Veranstalter darauf achten, dass sich die Gäste – auch auf dem Parkett – wohlfühlen? Die meisten kommen ja vor allem zum Sehen und Gesehenwerden! Und wegen der tollen Musiker oder dem Kleider- sowie Schuhverkauf! Wer auf die Kateridee kommt, entspannt tanzen zu wollen, soll sehen, wo er bleibt! Ich nehme an: auf der Stelle

Fürwahr: Ich würde lieber das Doppelte an Eintritt zahlen, wenn ich dann auch richtig tanzen dürfte! Für Konzertkarten (Livemusik) habe ich kürzlich über 50 Euro gelöhnt. Aber in der Tangoszene steht man mehr aufrs Dumping-Angebot. Kein Wunder, dass es dann zugeht wie im Schlussverkauf am Grabbeltisch!

Klaus Wendel jedenfalls kommt bei mir zum Schluss:

„Mir ist jedoch anhand Ihrer Vorschläge klargeworden, dass Sie die Belange, Wünsche und Motive der meisten Milonga-Gäste gar nicht kennen, denn sie setzen bei anderen die gleichen Motive wie die Ihren voraus. Das habe ich aber schon lange vermutet, weil sie auch in Ihren Beiträgen am laufenden Band Wünsche äußern, die an den Bedürfnissen der meisten Leuten vorbeigeht.“

Oh doch, ich kenne die verschiedenen Motive ziemlich genau – leider! Und ich verwehre ja niemandem, ihnen zu folgen. Ich bitte mir nur Respekt dafür aus, dass ich andere habe – und wer meinen letzten Artikel gelesen hat, sollte zumindest anerkennen: Das geht nicht nur mir so!

https://milongafuehrer.blogspot.com/2024/01/projekt-piazzolonga.html

Ich habe schon bisher vermieden, Veranstaltungen zu besuchen, wo ich ein großes Gedränge befürchtete. Ich werde das in Zukunft noch konsequenter tun. Aus einem im heutigen Tango abartigem Grund: Ich will möglichst schön tanzen.

Aber ich billige jedem seine eigenen Beweggründe zu. Daher darf Herr Wendel gerne weiterhin seine Hennen in der Käfighaltung beglücken!

P.S. Ich finde, zu dem Thema passt einer meiner Lieblingswitze:

Durchsage des Kapitäns während des Fluges: „Werte Gäste, leider sind beide Triebwerke ausgefallen. Wir werden also abstürzen. Ist ein Geistlicher an Bord?“ Niemand meldet sich. „Oder kann jemand ein Gebet sprechen?“ Keine Reaktion. „Oder irgendeine religiöse Handlung vornehmen?“ Da steht ein Fluggast auf, nimmt seinen Hut und geht sammeln…

 

Auf der Demo * www.tangofish.de

 

Kommentare

  1. Bei den ganzen Rechtfertigungen fällt mir einer meiner Lieblingssprüche ein: " Wer etwas will, findet Wege, wer nicht will, findet Ausreden."
    Nätürlich ist/sind alle/s Andere/n schuld, wenn ich nicht richtig (was auch immer man damit meint) tanzen kann.
    Zu einem (mir) passenden Stück und mit einem (zu mir) passenden Partner schaffe ich es eigentlich meistens, "gut" zu tanzen, egal wieviel Platz ich habe und wie eng oder offen die Tanzhaltung ist. Und als "gut" bezeichne ich einen Tanz, wenn er sich für mich gut anfühlt, egal was Außenstehende zu kritisieren haben. ...was nicht heißt, dass ich keine (konstruktive) Kritik annehmen würde oder dazulernen will. Aber dafür hab ich meine Tanzlehrer/innen, die werden auch dafür bezahlt.

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    1. Danke für den schönen Satz mit den Wegen und Ausreden! Ich wollte ihn schon im Artikel bringen, nun hast du es nachgeholt.
      Viel Erfolg mit eurem Projekt!

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