Ricardo Klapwijk und seine Geschichte

 

Das Tangopaar Nicole Nau und Ricardo Klapwijk hat mich schon vor vielen Jahren interessiert. Als „Ausländer“ legten sie in den 1990er Jahren im Mutterland des Tango eine bemerkenswerte Karriere hin. Leider erfährt man von Nicole nur die halbe Geschichte. Daher bin ich sehr glücklich, dass mir Ricardo nun ein Interview gegeben hat, das ich in voller Länge veröffentliche:

Soweit ich weiß, bist du Ende 1988 nach Buenos Aires gegangen, um den Tango kennenzulernen. Hattest du vorher schon Erfahrungen mit diesem Tanz, und was hat dich zu dieser Reise veranlasst?

Bei den ersten Tangolehrern in Holland, Wouter Brave und Martine Berghuys, habe ich meine ersten Schritte gelernt. Später haben die beiden Antonio Todaro nach Amsterdam eingeladen. In diesem Unterricht war ich - und sogar auch Nicole mit Ihrem damaligen Tanzpartner Klaus Wendel. Antonio war für mich ein Mann, der aus so einer anderen Zeit und aus einer anderen Welt kam, so dass Buenos Aires mich total neugierig gemacht hat. Ich bin dann mit 3 Tangofreunden nach Buenos Aires geflogen, und wir haben dort drei Wochen verbracht.

Nicole Nau berichtet in einem Interview, du seist (außer dem Taxifahrer) der erste Mensch gewesen, den sie in der argentinischen Hauptstadt (in einem Tangohotel) traf. Habt ihr dann viel Unterricht genommen oder stand das gemeinsame Üben im Vordergrund?

An meinem vorletzten Tag kam Nicole im Hotel an und ich habe ihr kurz mit ihrem Koffer geholfen. Ich war sofort begeistert von dieser Frau, und wir sind abends zusammen ausgegangen. Wir haben in Michelangelo Virulazo & Elvira, ein Tanzpaar von der berühmten ‚Tango Argentino‘- Show, gesehen. Am nächsten Tag sind wir tanzen gegangen. Das war’s. Ich musste nach Holland zurück, Nicole blieb in Buenos Aires. Danach haben wir uns regelmäßig getroffen, bei Nicole in Düsseldorf oder bei mir in Rotterdam. In Düsseldorf hatte Nicole schon angefangen, Tango zu unterrichten. Ich habe dann manchmal ausgeholfen, und wir haben dort auch sehr viel geübt und auch sofort angefangen, zusammen zu tanzen. Unser großer Wunsch war, irgendwann ein paar Monate nach Buenos Aires zu gehen, um mehr Unterricht zu nehmen und später, vielleicht in Köln, eine Tanzschule zu eröffnen. So etwas, in dieser Richtung, doch das ist dann alles anders geworden.

Wir sind ja dann nach Buenos Aires geflogen. Nicole zuerst. Sie war zu einer Show nach Kanada eingeladen, um dort zu tanzen. Da habe ich sie besucht. Wir sind anschließend zusammen nach Buenos Aires geflogen. Dort haben wir gemeinsam angefangen, Unterricht zu nehmen. Zuerst bei Antonio Todaro. Irgendwann besuchten wir das Café Homéro, um Roberto Goyeneche zu sehen. Dort kamen wir mit dem Besitzer in Kontakt, der uns auch fragte, was wir in Buenos Aires machen würden. Wir sagten, dass wir Tango tanzen würden, und daraufhin haben wir erst einmal vorgetanzt. Wir bekamen sofort einen Job angeboten.

Wie wurde man auf Euer Tanzen aufmerksam?

Ich glaube, wir waren einfach zwei Exoten, zwei große Europäer. Wir haben, so gut wie wir konnten, die Choreografien von Todaro getanzt. Wir haben uns sehr darum gekümmert, dass ich einen guten Anzug und Nicole ein gutes Kleid hatte. Wir hörten immer wieder, dass wir anders tanzen würden, obwohl wir uns viel Mühe gaben, so argentinisch wie möglich zu tanzen, was uns natürlich nicht gelang, und was später aber genau unser Stil wurde.

Und dann kam der erste Zeitungsartikel. Die Presse wurde auf uns aufmerksam. Vergess nicht: Café Homéro war sehr bekannt und bis dahin hatte es noch kein ausländisches Paar geschafft, auf einer Bühne in Buenos Aires zu tanzen.

Nach vielleicht einem halben Jahr haben wir einen anderen Lehrer gesucht. Und so kamen wir zu Rodolfo Dinzel. Er war kein Lehrer. Er war ein Meister. Er hat uns keine Figuren gelehrt wie Todaro, Dinzel hat uns begleitet, den Tango in uns selbst entdecken lassen. Also eine Ausbildung wie eine Reise, die nach innen führt und nicht nach außen. Das geht viel langsamer, ist aber viel intensiver. Das war wie Selbsterfahrungsunterricht gewesen, sehr nahe an Therapie, könnte man sagen. Ich denke, dass sich das jeder vorstellen kann, der sich intensiv mit Tango beschäftigt. Dinzel hat uns bei unserem Bühnentanz, Choreografien, beim Ausdruck, der Energiearbeit, die man als Künstler braucht, geholfen, und… und… und.  Fünf Jahre haben wir Unterricht genommen. Manchmal zwei- bis dreimal die Woche, mehrere Stunden, also sehr, sehr intensiv. Und parallel dazu haben wir dann getanzt, u.a. im ‚Tango Mio‘ von Fernando Soler, ‚Café Homéro‘ und ‚Club del Vino‘.

Nachher bekamen wir Auftritte im Fernsehen und im Theater. Wir wurden angefragt für Talkshows usw. Wir waren auf Tournee in Japan, Paraguay, Chile, Bolivien, Turkmenistan usw.

In Deutschland haben wir im Varieté getanzt, im ‚Tigerpalast‘ in Frankfurt, im ‚GOP‘ Hannover, ‚Kristallpalast‘ Leipzig, im ‚Traumtänzer‘ in Kassel und, und, und. Wir haben außerdem mindestens zehn Jahren regelmäßig unterrichtet, wie in München, Freiburg, Tübingen, Leipzig, in Berlin, Bochum, Köln, Kassel usw.

Einmal waren wir sogar mit Präsident Menem unterwegs, auf einem offiziellen Auslandsbesuch, und wurden begleitet von – niemand weniger als – Rubén Juárez.

Ende der 90er Jahre erschien die erste Briefmarke, und später dann sagte der Präsident zur holländischen Königin, dass wir das beste Tanzpaar seien. Das stand auf der Titelseite der Zeitung La Nacion (!). Für uns natürlich eine Katastrophe. Was meinst du, wie die Kollegen reagierten?!

Wenn der Präsident das sagt, ist das natürlich überhaupt kein Prädikat. Menem ist kein Tango-Experte. Aber so gibt es mehrere solcher Sachen. Ich bin da gerne ein bisschen vorsichtig. Die Geschichte mit den Briefmarken gehört auch dazu. Das ist aber eine andere Geschichte.

1998 fragte dann das Musik- und Theaterfestival in Amsterdam an, ob wir in kurzer Zeit eine Show zusammenstellen könnten, da eine andere Tangoshow abgesagt hatte. Wir haben die Lücke in ihrem Festival gefüllt. Danach waren sie so zufrieden, dass sie uns angeboten haben, für das nächste Festival eine eigene Produktion zu machen. Bei mir kam sofort die Idee einer Oper, einer Tangooper, das wäre doch das Schönste auf Erden! Nicole war einverstanden. Ich war immer schon, und bin bis heute, ein Opernfan. Ich habe mich immer gewundert, dass es keine Tangooper gab – außer ‚Maria de Buenos Aires‘ von Ferrer/Piazzolla.

So sind wir auf die Suche nach jemandem gegangen, der das Libretto schreiben könnte, und einem Komponisten. Mit Beatrix Gambartes und Diego Vila haben wir 4 Jahre gemeinsam an dieser Produktion gearbeitet. Wir waren der ausführende Produzent. Prozess-Management-Erfahrung hatte ich aus meiner Architekturzeit. 1998 haben wir angefangen, und auf die Bühne gekommen ist es 2002. Ein Problem gab es: Ich sollte die Hauptrolle tanzen – und das ging gar nicht, denn die, das vertrug sich nicht, das brachte mich durcheinander. Produktion und Hauptrolle – das sind so total unterschiedliche Arbeiten.

Also haben wir Carlos Rivarola für diese Tanzrolle angefragt, doch konnten wir ihn nicht bezahlen. Schließlich haben wir Luis angefragt. Er hat es gerne gemacht. Ihn und seine Frau Norma kannten wir schon. Luis hatte die Rolle von Morales, einer der Hauptpersonen in der Oper. Und das hat er wirklich hervorragend gemacht. Er hat ein Solo getanzt, das wirklich nicht einfach war. In der Oper hat er auch mit Nicole getanzt; so haben sich die beiden näher kennengelernt. 2002 gingen wir dann auf Tournee. Während der Tournee habe ich durch Zufall entdeckt, dass die beiden eine Beziehung hatten, was für mich eine böse Entdeckung war.

So, wie es gekommen ist, haben wir uns im Leben und in der Arbeit getrennt, und ich habe darauf Rivarola in unserer Oper unter Vertrag genommen für mehrere Aufführungen in Buenos Aires.

Während deine Exfrau mit ihren Shows und Publikationen stets in der Öffentlichkeit blieb, hast du in all den Jahren „deine“ Geschichte nicht erzählt. Was hat dich dazu bewogen?

Du wirst es sicherlich verstehen: Zuerst einmal war für mich diese Trennung sehr schmerzhaft. Das hat eine Weile gedauert, bevor ich darüber erzählen konnte.

Außerdem musste ich ganz neu anfangen, und das hat Zeit gebraucht. Ja, und irgendwann war ich dann soweit, dass ich etwas darüber sagen konnte. Warum ich meine Geschichte nicht erzählten wollte?  Ganz einfach: Es hat niemand danach gefragt. Gab es denn einen Grund, mich an die Öffentlichkeit zu wenden, um meine Geschichte zu erzählen? Aber ich bin mir sicher, dass all meine Freunde, meine Schüler und Schülerinnen und alle Ex-Schüler von Ricardo y Nicole diese, unsere Geschichte genau kennen. Und auch die 6.000 Menschen, die das Buch ‚Tango Dimensionen‘ oder zumindest die ersten vier Seiten gelesen haben! Warum also sollte ich von mir aus diese Geschichte von Ricardo y Nicole publik machen? Also die Geschichte ist sehr vielen bekannt.
Aber wenn du mich danach fragst, dann erzähle ich sie dir natürlich.

Die Argentinier, so liest man, hätten ausgerechnet einem Holländer und einer Deutschen bestätigt, den „authentischen Tango“ zu tanzen. Eigentlich ein sehr verwunderliches Urteil! Was an eurem Tanz hat die Menschen dort überzeugt?

Ob wir authentischen Tango tanzten? Ja und nein. Ich denke, dass unser Stil mit dem Tango, wie er von den Argentiniern getanzt wird, viele gemeinsame Merkmale hatte. Aber klar konnte man auch sehen, dass wir Ausländer waren.

Das Wichtigste war doch, dass wir alle unterschiedliche Stile hatten. Man kann das ja nicht vergleichen mit Tango de Salon, auf der Bühne muss man einen eigenen Stil entwickeln und dann wählt jeder das, was so zu seiner Persönlichkeit passt. Und so hat Luis zum Beispiel einen Stil, der näher am Ursprung dran ist und sehr rhythmisch ist und sehr schnell. Und es scheint so, dass Nicole damit total glücklich ist. Das ist gut so. Aber das war nicht der Stil, den wir getanzt haben. Und dann ist es nicht so, dass man nicht tanzen kann miteinander, wie Luis über Nicole sagte. Nicole hat mit der ganzen Welt getanzt. Und jeder konnte mit ihr tanzen, aber nicht jeder konnte seinen gewünschten Stil mit ihr tanzen.

Ja, was ist das „Authentische“ oder das „Argentinische“,  was man bei viele Paaren sieht? Ich denke, dass es das Leben in Buenos Aires spiegelt, die Weise, wie man miteinander umgeht, das Leben auf der Straße, einen Kaffee trinken in der Bar, alles ist anders und das spiegelt sich im Tanz, das ist das, was Tänzer gemeinsam haben … und der Rest ist persönliche Interpretation.

Wie würdest du euren Tanzstil beschreiben – und in welcher Weise erregte er Aufsehen? 

 Wir haben mit viel Ausdruck getanzt, mit Pausen, mit Eleganz, modern, ein Tanz aus unserer Zeit, mehr dramatisch.  Das Publikum sagte öfter: ‚Ihr tanzt, was wir fühlen…‘, unser Tanz hat die Menschen berührt, verführt, es war so unserer

Nicole und du habt euch vor etwa 20 Jahren getrennt. Waren dafür eher private oder künstlerische Gründe maßgeblich?

Mein Wunsch war es, zurückzukommen nach Europa. Bei Nicole waren da sicherlich andere Wünsche, doch darüber möchte ich mich nicht weiter äußern. Aber ja, mein Wunsch war es, zurückzukehren nach Europa.

Während Nicole Nau ihre Weltkarriere fortsetzte, hast du dich aus dem internationalen Geschäft eher zurückgezogen. Was waren die Gründe, und welche Auswirkungen hatte das auf dich persönlich?

Na ja, Weltkarriere kann man das noch nicht nennen, denn wir haben genauso – wie die beiden jetzt – meist in Argentinien und in Deutschland getanzt; unter Weltkarriere verstehe ich etwas mehr. Ja, der Bühnentanz und das Leben als Showtänzer haben auch Schattenseiten. Intensive Erlebnisse sind meist für kurze Zeit, immer muss man präsent bleiben, hat wenig Privatleben usw.

Mein Interesse galt dem Unterrichten, intensiv Menschen in ihrer Tangoentwicklung begleiten. Das habe ich zuerst mit Rotraut Rumbaum gemacht. Danach habe ich alleine unterrichtet, viele Workshops und Tangoreisen mit Szusane Piene, Mabel Rivero und Doña Piedra, jetzt unterrichte ich zusammen mit Anke Riebensahm. Und was ich liebe, sind die damit verbunden Projekte, z.B. neue Serien von Unterrichts-DVDs, an denen ich über 4 Jahre gearbeitet habe, und auch eine längere Periode von Vorträgen über 13 verschiedene Tango Orchester. Für jeden Vortrag hörte ich wochenlang nur die Musik von einem Orchester, las dazu alles über dieses eine Orchester, was ich finden konnte, und tauchte so tief in ihre Musik ein. Danach die immerwährende Frage (auch vieler anderer Lehrer – nicht nur im Tango): Wie unterrichtet man Musikalität? Sicherlich kein einfaches Thema.
Im Moment bin ich in beschäftigt mit ein Thema, wie die emotionale Verbundenheit im Tango zu einem Gefühl von Vollkommenheit führen kann.

Das ist ja fast ein philosophisches Thema!

Ja das stimmt, aber auch ein soziologischer Blick dabei, in meine Literaturliste findest du neben Dinzel auch Fromm, Hegel und Hartmut Rosa…

Nicole Nau sagte neulich in einem Interview, der Sieger schreibe stets die Geschichte – nicht der Verlierer. Stimmst du diesem Zitat zu?  

Ach, Gerhard, um Sieg oder Niederlage, so denke ich, geht es doch im menschlichen, alltäglichen Leben nicht. Es geht eher um die Würde und den Respekt sich selbst und anderen gegenüber. Und das sind für mich der Respekt gegenüber meiner eigenen Geschichte, Respekt zu meinen Schülern und Schülerinnen, zu Kollegen und dann natürlich auch ein würdevoller Blick auf alle Teile meiner Lebensgeschichte, auch die mit Nicole.

Es bleibt mir nur, Ricardo Klapwijk ganz herzlich für seinen Beitrag zu danken! Für mich schließt er eine Lücke, die auch viele andere interessieren dürfte.

Kommentare

  1. Lieber Ricardo - ich möchte dir meinen Respekt und meine Wertschätzung aussprechen

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    1. Lieber Rafael, vielen Dank! Herzlichen Gruß nach Berlin.

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  2. Sehr schöner Beitrag! Bewundernswert die Zurückhaltung, Objektivität und Höflichkeit von Ricardo. Ich konnte Ricardo und seine damalige Frau des öfteren in Tango-Seminaren erleben, in München und in der Toskana. Ricardo war immer ein warmherziger, zugewandter, humorvoller und interessierter Mensch, bei dem ich stets das Gefühl hatte, er kümmert sich um jeden einzelnen, auch wenn er/sie nicht ganz den Vorstellungen vom idealen Tangotänzer entspricht. Nicole war eher distanziert, aber zusammen unterrichteten sie nicht nur Schritte und Figuren, sondern auch die sozialen und psychologischen Hintergründe dieses einzigartigen Tanzes, sodass man sich auch geistig-seelisch besser darauf einstellen konnte.
    Jemand, der sie dann in den Anfängen ihrer neuen Karriere mit dem folkloristischen Bodenstampfer erlebte, sagte danach: Sie haben den Tango zu Tode getanzt. Aber vielleicht ist gar kein Tango, was die beiden da betreiben. Hauptsache, sie sind glücklich, die Zuschauer und ihre Schüler auch.

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    1. Leider kenne ich Ricardos Unterricht nicht aus persönlichem Erleben. Es freut mich aber, dass er nun so viele Sympathie-Kundgebungen erfährt.
      Was seine frühere Partnerin und ihren heutigen Mann angeht, hält er sich mit Urteilen sehr zurück. Ich finde, das sollten wir auch tun.

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