Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählt… 30

 

Im Gegensatz zu allen anderen Paartänzen, die ich kenne, ist beim Tango argentino das korrekte Einfügen in die Runde der Tanzenden („Ronda“) ein Dauerthema, das oft ziemlich aggressiv debattiert wird. Geschimpft wird dann vor allem auf „Störenfriede“, welche angeblich das seelische Wohlbefinden derer stören, welche lediglich in tiefer Meditation hinter dem vorderen Paar einhertappen möchten.

Ich habe darüber eine Menge Artikel verfasst und werde nie vergessen, wie mich einmal eine Münchner Tanguera mit berühmten Namen per Kommentar ins Gebet nahm:

„Ich kenne Sie nicht persönlich und ich weiß vom Hörensagen, dass Sie die Gepflogenheiten des traditionellen Tango nicht in Ihren persönlichen Lebensstil integriert haben. Insofern verstehe ich durchaus, dass Ihnen Diskussionen und Analysen zum Thema Tanzen in der Ronda lebensfern erscheinen.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/10/ronda-fur-fortschreitende.html

Ja, so ungefähr könnte man es ausdrücken! Mir liegt tatsächlich fern, was eine Freundin neulich als „tangokatholisches Hochamt“ bezeichnete.

Dieses feiert man, wie ich immer wieder feststellen darf, besonders im großstädtischen Milieu – wobei die schöne Theorie schon bei mäßig gefüllten Tanzflächen oft krachend in sich zusammenbricht: Die gepriesene Ronda bewegt sich höchstens mit einer Geschwindigkeit von zwei Metern pro Minute weiter. Mir tut dann immer meine Tanzpartnerin leid, der ich nicht viel mehr als kleine Drehungen auf der Stelle anbieten kann. Und man muss sehr häufig abstoppen, was in meinem Alter ziemlich auf die Gelenke geht.

Was sind die Ursachen dieses Missstands?

Mir fällt auf solchen Milongas immer wieder auf, dass zirka 80 Prozent der Tänzer unentwegt auf die Füße schauen. Daher entgeht ihnen das Meiste, was sich um sie herum abspielt. Das heißt, sie sehen auch nicht das vordere Paar, dem sie ja nach den heiligen Regeln nachtanzen sollten – vom Rest ganz zu schweigen. Die Damen haben wegen ihrer meist geringeren Größe eh weniger Überblick, und wenn man Pech hat, schließen sie verträumt die Augen und verlassen sich auf den Mann. Das ist weder im Tango noch im sonstigen Leben eine gute Idee!

Zweitens wird die Idee des „Caminar“ hoffnungslos verraten, obwohl doch gerade im konservativen Tango das Gehen im Tangorhythmus so gepriesen wird. Das sollte dann aber schon zu einem Raumgewinn führen! Ich empfehle dazu das Studium fast beliebiger Vortanzvideos: Selbst wenn das Paar lediglich eine Di Sarli-Sülze hoheitsvoll durchquert  es geht doch zumindest vorwärts!

https://www.youtube.com/watch?v=IMkqVH810Mg

In der Praxis muss man schon froh sein, wenn das vordere Paar wenigstens nur auf der Stelle tritt – gerne kommt es auch rückwärts auf einen zu. Ja, wohin jetzt? Ich bleibe in solchen Fällen gerne stehen und warte geduldig ab, bis die Herrschaften auf uns draufgetanzt sind. Ironisches Lächeln inklusive…

Weiterhin scheinen sich vor allem die Männer damit zu beschäftigen, irgendwelche Schrittfolgen (gerne mit diversem Beingehakel) auf Biegen und Brechen durchzuziehen. Dabei müssen sie natürlich streng darauf achten, dass die Partnerin alles „richtig“ macht. Da bleibt für die Beobachtung der Umgebung kaum noch Kapazität – und für die Musik schon gar nicht. Daher sind ja auch Stücke so beliebt, die in monotonem Rhythmus dudeln.

Da einer meiner Leser schon mehrfach betont hat, er wünsche sich positive Tipps an Stelle von satirischen Darstellungen, daher nun meine

Ratschläge zum Navigieren:

·       Wenn genügend Platz ist, können Sie machen, was Sie wollen. Es würde dann schon eine besondere Begabung erfordern, in ein anderes Paar hineinzurumpeln (obwohl es im Tango durchaus vorkommt).

·       Wird das Parkett voller, sollten Sie nur das tanzen, was Sie wirklich ohne Nachdenken hinbekommen, was Sie also „automatisiert“ schaffen. Schauen Sie nicht auf die Füße, sondern richten Sie den Blick auf Ihre Umgebung! Und auch die Partnerinnen lassen bitte die Augen offen – so können Sie dem Tänzer signalisieren, wenn er gerade auf dem Weg ist, ein anderes Paar zu behindern!

·       Vom Tangolehrer Oscar Busso hörte ich einmal den Satz: „Wenn vor dir ein freier Raum ist, bildet sich wahrscheinlich hinter dir ein Stau.“ Tanzen Sie also stets dorthin, wo Platz ist – und vergessen Sie dabei kleinliche „Spur-Verordnungen“!

·       Als Führender sollten Sie stets bestrebt sein, sich vorwärts zu bewegen. Beschränken Sie das „Herumkreiseln“ auf die Fälle, wo es die Musik fordert!

·       Generell müssen Sie stets sehen, wohin Sie tanzen. Also erst gucken! Wenn es mal zurück, also gegen die Tanzrichtung geht, hilft Ihnen eine kleine Drehbewegung, den Raum hinter Ihnen zu checken.

·       Beide Tanzende müssen ihre Schritte stets „rücknahmebereit“ gestalten. Also erst im letzten Moment belasten! Das erfordert vor allem eine gute Balance, damit man nicht aus Gründen des Gleichgewichts automatisch auf den nächsten Fuß fällt.

·       Gute Tangomusik liefert oft die Gelegenheit zu Pausen. Gewöhnen Sie sich daran, im Zweifel erstmal nichts zu machen, statt im monotonen Rhythmus in eine Katastrophe zu tanzen!

·       Üben Sie sich darin, die Bewegungswege anderer Paare einzuschätzen! Agieren Sie also, wie beim Autofahren, vorausschauend! Dann erkennen Sie, wo demnächst Platz wird – und welche Stellen Sie zunächst meiden sollten. Das ist gar nicht so schwierig, weil die meisten Paare ein begrenztes Repertoire haben und daher ihre Aktionen ziemlich vorhersehbar sind. Das kann man übrigens hervorragend beim Sitzen in einer Tanzpause üben. Vieles beim Tango habe ich durch Beobachten gelernt, da ich auch dann meine Augen auf dem Parkett habe, statt mich lauthals mit anderen Gästen zu unterhalten.

·       Wenn es zu voll wird – meiden Sie die Tanzfläche! Auf vollgestopften Milongas hat man nur die Wahl, ein hohes Risiko einzugehen oder irgendwelche Fragmente zu tanzen, welche die Bezeichnung „Tango“ wahrlich nicht verdienen. Das ist kein Malheur, sondern eine gute Gelegenheit, im Sitzen zu lernen. Und sich vielleicht zu überlegen, ob man unbedingt die „angesagten“ Events besuchen muss, statt mal auf eine Vorstadtmilonga zu gehen, wo man genug Platz hat!

Und schließlich: Wenn es mal zu einer Berührung oder Behinderung kommt, ist das – wie im Straßenverkehr – kein Anlass, die „Rechtslage“ zu diskutieren. Entschuldigen Sie sich mit einem Lächeln und einer Geste. Shit happens – wer wirklich tanzen kann, weiß das!

Gerade entdeckte ich das Video eines Gesprächs mit Nicole Nau, bei dem mich eine Passage schmunzeln ließ:

Die Profitänzerin berichtete darüber, dass es nach Corona nicht einfach sei, die Theaterstätten von einer argentinischen Show zu überzeugen. Aber das könne ja auch eine neue Herausforderung sein:

„Ich nehme es mal mit einem anderen Beispiel: Tango argentino ist ein Volkstanz, und man tanzt improvisiert auf der Tanzfläche oder auf der Bühne oder wie auch immer. (…) Und wenn ein Paar im Weg steht, dann ist das nichts als ein schöner Impuls, dieses im Weg stehende Paar zu nehmen, um etwas anderes zu tanzen. Und es ist eben nicht so, wie man oft denkt: Na gut, dann muss man halt Regeln schaffen: Der eine tanzt hinter dem anderen, und wie Schlange stehen im Supermarkt, sondern im Gegenteil: Das sind Impulse, die uns animieren, um Neues zu machen, Neues zu gestalten.“

Na also – wer würde es wagen, an solchen Aussagen zu zweifeln?

https://www.youtube.com/watch?v=d5MR4-xKF4Y

Kommentare

  1. Ich wage es zu bezweifeln und möchte Luis & Nicole einmal auf einer gefüllten Tanzpiste tanzen sehen. Mal sehen, was dann vom versprochenen Zauber des Improvisationsimpulses übrig bleibt.

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    1. Aber Herr Wendel, Sie wissen doch selber, dass Tangolehrende selten auf Milongas tanzen!

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