Einer ist keiner
„Wer nicht auf seine eigene Art denkt, denkt überhaupt nicht.“ (Oscar Wilde)
In den letzten Tagen war ich etlichen Eindrücken ausgesetzt, die alle in die gleiche Richtung gingen – sowohl im Tango als auch in der Politik.
In seinen langen Darlegungen auf meinem Blog sprach der Essener Tangolehrer Klaus Wendel zwei hochinteressante Punkte an:
Nach jahrelangem Hin-und Her über Ihre Proklamation, dass Piazzollas Musik allgemein als publikumstaugliche Milonga-Tanzmusik tauglich sei, gelingt es Ihnen immer noch nicht, zwischen persönlichen Musikvorlieben und dem Konsens für gut tanzbare Musikstücke für eine Allgemeinheit zu unterscheiden. Sie reden ständig damit an allgemeinen Bedürfnissen des Großteils der Tangoszene vorbei. (…) Es geht nicht darum, ob Piazzolla ‚tanzbar‘ ist, (jede Musik ist irgendwie tanzbar), sondern darum, ob er auf normalen Tanzpiste mengentauglich ist“.
Die Wahrheit ist schon mal, dass ich niemals die Musik Piazzollas „allgemein als publikumstaugliche Milonga-Tanzmusik“ proklamiert habe. Den Grund hat Wendel bereits angesprochen: Ich kann sehr wohl „zwischen persönlichen Musikvorlieben“ und dem unterscheiden, was heute viele Milongabesucher wollen. Wahr ist allerdings auch: Der Tango nuevo wurde vor zirka 15 Jahren von den Playlists vieler DJs gestrichen – nicht selten auf Druck von ziemlich durchsetzungsfähigen Leuten, welche inzwischen durch Besuche in Buenos Aires zu wissen glaubten, dass man nur „traditionellen Tango“ tanzen dürfe. Seither fehlt vielen Tanzenden schlicht die Hörerfahrung zu diesem Tangosegment.
Meine „Verfehlung“ bestand schlicht darin, dass ich über meine Lieblingsmusik informiert, für sie geworben habe. Wobei mich sicher nicht jedes Stück des Komponisten auf die Fläche lockt.
Aufschlussreich ist, dass Wendels Argumentation immer wieder den bestimmenden Einfluss einer gefühlten Mehrheit beschwört: „Konsens“, „Allgemeinheit“, „Bedürfnisse des Großteils der Tangoszene“, „mengentauglich“.
Noch deutlicher wird diese Vorstellung bei Wendels Lobpreis der Encuentros:
„Denn
auf einer gut organisierten Tanzpiste sind alle in einem gemeinsamen ‚Flow‘,
als Teil einer Gruppe, vereint als Paar in der Gemeinschaft im Rhythmus der
Musik. Ein Gefühl, das in manchen Kulturen zur Ekstase führen kann. Ekstase und
trotzdem Freiheit durch Rhythmus und Gemeinschaft: ein Aspekt, der Ihnen
wahrscheinlich noch nie beim Tango passiert ist. Dieses Gefühl der
gemeinschaftlichen Empfindung ist Ihnen offensichtlich fremd, wenn es Ihnen nur
darum geht, Verletzungen und grobe Zusammenstöße zu vermeiden, oder?
Haben Sie sich nie gefragt, warum so viele Menschen die Nähe mit
Gleichgesinnten auf vollen Pisten in Encuentros suchen? Wo das Schrittniveau
keine große Rolle spielt, weil man etwas anderes gegen Vereinsamung findet. Wo
man beim Tanzen zu Piazzollas ‚Balada para un loco‘ nur unnötiges Chaos,
verursacht durch Soloartisten, haben würde?
Jetzt haben Sie die Antwort. Gemeinsames Wissen sorgt auch für Harmonie. Nicht
nur auf Tango-Blogs.“
Quelle: https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/05/wir-da-oben-ihr-da-unten.html
Aha: „gemeinsamer Flow“, „Teil einer Gruppe“, „Gemeinschaft im Rhythmus der Musik“, „Freiheit durch Rhythmus und Gemeinschaft“, „gemeinschaftliche Empfindung“, „Nähe mit Gleichgesinnten“, „gegen Vereinsamung“, „gemeinsames Wissen“, „Harmonie“.
Der Gegensatz wird mit „Soloartisten“ und „Chaos“ beschrieben.
Und ich dachte bisher, Tango sei ein Paartanz…
Sorry, aber das Ganze erinnert mich an Massenaufmärsche, Militärparaden und das restliche Gemeinschaftsinventar autoritärer Staaten. Auf den Tangobereich bezogen: „Du bist nichts, die Ronda ist alles.“
Das gleicht frappierend dem, was vor 11 Jahren im Blog „Tangoplauderei“ zu meinem Buch geäußert wurde:
„Wer also Lust auf die krassen Positionen innerhalb der Tangoszene hat (mit denen er aber wohl auch einsam da steht), der wird gut bedient.“
„Hoffentlich wird der Autor reich, er wird sich nämlich zukünftig Taxitänzerinnen mieten müssen. Freiwillig wird hoffentlich keine Tanguera mehr mit ihm tanzen!“
„Es ist schon wirklich erstaunlich, mit welcher Furchtlosigkeit sich Gerhard Riedl auf peinlichste Art und Weise der Lächerlichkeit preisgibt. Hat der keine Freunde?“
„Kann man diesen Gefahrenherd unter Quarantäne stellen, inklusive der Restauflage dieses fürchterlichen Buchs?“
Quelle: https://tangoplauderei.blogspot.com/2010/09/gerhard-riedl-der-groe-milonga-fuhrer.html
Soso, wenn man also im Tango Minderheiten-Ansichten vertritt, gar des Individualismus verdächtig erscheint, gleicht man einem Seuchen-Überträger, der isoliert
gehört! Ziel ist stets die soziale Ausgrenzung.
Gut, ein gewisser Kollektivismus ist angebracht, wenn man eine Pandemie bekämpfen muss. In künstlerischen Bereichen wie Musik oder Tanz wirkt er jedoch katastrophal. Wo, wenn nicht in diesem Metier, darf sich Individualität ausleben?
Gefährlich ist Massendenken auch in der Politik. Kurt Tucholsky beschrieb 1930 einen „Blick in ferne Zukunft“:
„Und wenn alles vorüber ist – wenn sich das alles totgelaufen hat: Der Hordenwahnsinn, die Wonne, in Massen aufzutreten, in Massen zu brüllen und in Gruppen Fahnen zu schwenken, wenn diese Zeitkrankheit vergangen ist, (…) dann wird es eines Tages wieder sehr modern werden, liberal zu sein. Dann wird einer kommen, der wird eine gradezu donnernde Entdeckung machen: Er wird den Einzelmenschen entdecken.“
Leider, so der Autor, werde das nur so lange gehen, „bis eines Tages…“
https://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/350481_0112_tucholsky.pdf
Der Tag scheint bei der Grünen Partei inzwischen gekommen zu sein: Durchaus erfolgreiche, aber auch individualistische Politiker wie der querköpfige Tübinger OB Boris Palmer haben dort wohl keinen Platz mehr.
Damit die Schnappatmung mancher Leserinnen und Leser sich beruhigt: Man darf einige seiner Sprüche unbedacht oder auch grob nennen – nur ist er sicherlich weder ein Rechter noch ein Rassist. Was ich aber viel unappetitlicher finde, ist die gar nicht geheime grüne Sprachpolizei, die momentan für eine Neuauflage der McCarthy-Ära sorgt: Äußerungen von „Abweichlern“ werden von Text-Jacobiner*innen akribisch auf verdächtige Ausdrücke geprüft. Anschließend läuft dann eine routinierte Empörungs-Maschinerie ab.
Gemeinsam ist den Kritikern von Boris Palmer und mir eine absolute Null-Ahnung von Ironie und Satire. Eine derart verkniffene, doktrinäre Humorlosigkeit habe ich nur als Junge bei manchen katholischen Geistlichen kennengelernt.
Hier wie dort glaubt man, die Intelligenz finde sich im Schwarm als Gleichschritt-Denke. Da ist es kein Wunder, dass man bei Plakaten für einen grünen Jugendkongress nicht merkt, dass die Bildvorlagen von stalinistischen Vorbildern der 1930er-Jahre stammen:
Ich finde es jedenfalls im Tango aufregend genug, eine Harmonie mit der Tanzpartnerin hinzubekommen. Dieses Blog aber ist und bleibt ein Plädoyer für einen klaren Individualismus. Ich werde hier keine Zeile schreiben, die ich nicht voll vertreten kann. Aber auch keine, auf deren Befolgung ich bestehe. Minderheiten können irren – Mehrheiten aber auch.
Eine Szene aus dem Film „Das Leben des Brian“ der britischen Satire-Anarchisten Monty Python wird mir unvergesslich bleiben: Der naive und unscheinbare junge Mann wird irrtümlich für Jesus gehalten. Der zur Anbetung entschlossenen Volkesmenge versucht er zu vermitteln, dass man ihm nicht folgen müsse. Sie seien doch „alle Individuen“ – was die Verehrer gläubig wiederholen. Nur einer meint: „Ich nicht.“
Monty Python schaffte es, sowohl jüdische als auch katholische und protestantische Organisationen gegen sich aufzubringen. Das muss man erstmal hinkriegen!
https://www.youtube.com/watch?v=rhJCQCk3sO0
Einer ist keiner? Nein: Einer ist einer. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
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