Gerhards Tandas 4
Klaus Wendel hat in seinem neuen Tangoblog gestern einen Artikel über die Musik der EdO verfasst. Er entwickelt darin interessante Gedanken, die ich durchaus zum Lesen empfehlen kann:
https://www.tangocompas.co/epoca-de-oro-welche
Bei der modernen Tangomusik ist er skeptisch:
„Eine möglichst zeitnahe Bereicherung durch zeitgenössische Tangos oder als Ersatz? Das wird leider noch etwas dauern. Das musste ich nach Nachdenken darüber und nochmaligem Hören moderner Orchester leider feststellen. Denn die Akzeptanz zu neuerer Tangomusik braucht noch mehr Zeit als vermutet, und zwar die Zeit, die dem Tango in der Pause von 1960 bis 90 zur tänzerischen Weiterentwicklung fehlen.“
Ich meine dagegen: Auch nach 1960 hat es eine Fülle von Ensembles gegeben, die hervorragende Musik spielen, zu der zumindest ich Lust habe, zu tanzen. Und es gibt sie auch heute. Klar, manches ist schwieriger als der „Musikantenstadl-Mainstream“ früherer Zeiten, als Tango noch ein Massentrend war. Aber inzwischen ist die Szene doch kleiner und elitärer – da müsste das doch klappen!
Die Musikgruppe, die ich heute für eine „Wohnzimmer-Tanda“ vorschlage, lockt nach meiner Erfahrung die Tanzenden zuverlässig aufs Parkett. Ich musste mich immer beherrschen, ihre Titel nicht zu oft aufzulegen – ich bin ja kein Tradi-DJ…
Das Tango-Quintett Las Sombras brachte seine erste CD 2006 heraus: „Milonga deluxe“. Die ist leider im Handel nicht mehr zu kriegen, und ich bin froh, aus Privatbeständen eine erhalten zu haben. 2010 folgte „Tango Café“, 2012 „Casino Tango Noir“. Diese beiden CDs sind auch optische Schmuckstücke, da sie von meiner Illustratorin Manuela Bößel gestaltet wurden.
Der Kern des Quintetts besteht ausFlorian Gutmann (Saxofon)
Simone Graf (Querflöte, Vibrandoneon)
Florian Schmid (Gitarre, Mandoline)
Auf den letzten beiden CDs spielten:
Berhard Sinz (Klavier, Akkordeon)
Olav Hekala bzw. Ralf Zeranski (Bass)
Es fehlen die typischen Tangoinstrumente Geige und Bandoneón. Dafür ist mit der Querflöte ein frühes Instrument dieses Tanzes vertreten. Das gibt dem Quintett – inklusive zahlreicher Zusatzeffekte – einen ganz eigenen, modernen Klang.
Zum einen bieten Las Sombras eigene Arrangements klassischer Tangotitel – mit Komponisten wie Carlos Gardel, Aníbal Troilo oder Julian Plaza. Los geht es mit der „Milonga de mis amores“ von Pedro Laurenz (1938):
https://www.youtube.com/watch?v=RgiYdgtCRjU
Wem die Originalaufnahme der CD lieber ist:
https://www.youtube.com/watch?v=lsn959U8FBM
Als nächstes eine wunderbar balladenhafte Version von Piazzollas „Milonga del Àngel“ (1965):
https://www.youtube.com/watch?v=GtWmMpwjNqU
Las Sombras spielt teilweise Werke von Komponisten, die man nicht sofort dem Tango zuordnet, wie Phil Coulter, Graham Lynch oder Henry Mancini. Die Gruppe bietet aber auch Eigenkompositionen – mein Lieblingsstück darunter ist der „Tango Casino Noir“ von Simone Graf und Florian Gutmann.
https://www.youtube.com/watch?v=LVNGANLfl2c
Wer lieber auf die CD-Version tanzen möchte, bei der man auch die Roulettekugel sehr schön hört:
https://www.youtube.com/watch?v=9gLqR13TKic
Abschließend die ungewöhnlichste Milonga, die ich kenne: Als Rhythmusgeber dient eine Schreibmaschine – Las Sombras haben den alten Titel „Alice“ von Eduardo Arolas kurzerhand zum „Tango Büro“ umgemodelt:
https://www.youtube.com/watch?v=KAqVuyQrphk
Der traurige Schluss: Las Sombras haben längst aufgehört. Obwohl ich die
genauen Gründe nicht kenne, weiß ich doch: Milonga- und gar
Encuentro-Veranstalter haben lange Zeit wenig bis keinen Wert auf gute Live-Musik gelegt. Von Gagen im dreistelligen Bereich kann eine Profi-Truppe nicht leben.
Ich habe bei „Amazon“ eine Rezension zur dritten CD gefunden, welche die ganze Misere gut umschreibt:
„Es könnte so schöne Musik sein, aber die Musiker scheitern an ihrem Ehrgeiz: Ein Lied zu spielen ist nicht genug, immer muss noch irgendein Tempowechsel rein, irgendwelche zusätzlichen Raffinessen, so dass von der ganzen CD nur ein tanzbarer Titel bleibt. Der Rest ist, naja, ein Stück fängt an, und man freut sich über den schönen Klang und die schöne Musik, und, ehe man sich‘s versieht, ist es wieder kompliziert geworden.“
Mit anderen Worten: Die Tangomenschen rühmen sich zwar ihres „einzigartigen Improvisationstanzes“, aber beim ersten Accelerando, der ersten rhythmischen Variation ist dann Schluss: „Hilfe, das kann ich nicht vertanzen!“
Auch für Klaus Wendel hat Tanzmusik offenbar einem sehr übersichtlichen Schema zu folgen:
„Eingängigkeit bedeutet, dass Musikstücke eine einfache, ‚eingängige‘ Melodie, die zum Mitsingen einlädt, eine klare Rhythmusstruktur, die mit der Melodie einhergeht und dadurch rhythmisches Tanzen durch ‚Voraushörbarkeit‘ erleichtert, haben sollten.“
Na gut, es gibt auch Leute, die 20 Jahre hintereinander auf denselben Campingplatz fahren…
Für mich und einige andere sind gerade die Herausforderungen spannend, welche Las Sombras für den Tanzenden bereithalten.
P.S. Ich hatte das Glück, die Gruppe mehrmals live zu erleben. Ein Hochgenuss waren auch ihre Konzerte, welche nicht einfach aus einer Aneinanderreihung von Musiktiteln bestanden. Stets waren sie szenisch gestaltet: Florian Gutmann ist ein begnadeter Moderator, dessen lyrische Conférence wunderbar zwischen Hingabe und Selbstgefälligkeit pendelt. Hier ein Ausschnitt aus ihrem letzten Programm:
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