Offener Brief an proTango e.V.
Liebe Tangokollegen,
ich weiß, mit mir spricht man nicht, da ich ja in den Tango ein Fremdwort eingeführt habe: Kritik. Das macht aber nichts. Hauptsache, man liest meine Artikel. Der Text „Wir da oben, ihr da unten“ hat mir gestern mit über 700 Zugriffen an einem Tag einen Monats-Rekord eingebracht. Es scheint also doch nicht ganz uninteressant zu sein, was ich schreibe.
Nachdem Thomas Kröter (ohne mein Zutun) meinen Beitrag auf seiner Facebook-Seite verlinkt hat und selbst der selige Cassiel (der momentan einige Kreideschachteln verzehrt zu haben scheint) etwas dazu kommentieren wollte, kam man wohl doch nicht umhin, irgendwie auf meine Ansichten einzugehen. Natürlich meist ohne mich namentlich zu nennen – man will das Unglück ja nicht heraufbeschwören…
Erwartungsgemäß stellt man die „Blogger“ nun als Leute dar, die – wie Judith Preuss es andeutet – statt „zu organisieren und durchzuhalten“ – lieber „zuhause Facebook betreiben“.
Und auch Jörg Buntenbach schreibt: „Vermeintlich schlaue Sprüche aus der Hüfte heraus zu schießen, ist einfach. Sich konstruktiv einzubringen, bedarf etwas mehr, als nur reflexartiges Verhalten.“ Er meint, „alle, die sich immer wieder berufen fühlen, alles zu kommentieren, ohne ernsthaft zu hinterfragen.“
Selbst vor Verschwörungstheorien schreckt er nicht zurück: „Es gibt ja interessanterweise Blogger, die angeblich sogar Informanten bei uns eingeschleust haben und wissentlich Unwahrheiten verbreiten.“ Na, da würde ich im Verein aber umgehend eine Razzia veranstalten, um den oder die Verräter aufzuspüren – oder was man im Tango halt sonst so unter dem Label „respektvolles Miteinander“ anstellt…
Kritik dürfe schon sein, aber bitte konstruktiv und in Zusammenarbeit mit dem Verein:
„Der Verein freut sich über den persönlichen Kontakt - und auch über kritische, aber konstruktive Stimmen.“ (…) „Wer sich ernsthaft mit proTango e.V. beschäftigen möchte, kann sich jederzeit an den Verein wenden oder an unseren zukünftigen Treffen teilnehmen.“
Zusammengefasst, liebe Leute, seht ihr offenbar abweichende Meinungen nur dann als statthaft an, wenn sie eure Grundsätze nicht in Frage stellen. Ganz im Sinne der Tangohierarchie halt. Sorry, aber da seid ihr schief gewickelt: Wer öffentlich etwas auf die Beine stellt und bewirbt, muss schon damit rechnen, dass Zweifel nicht nur im Detail auftauchen, sondern man vielleicht den ganzen Ansatz als verfehlt betrachtet.
Ich wiederhole mich daher gerne:
Es war eine Kateridee, euren Verein lediglich als „bundesweite Interessenvertretung der Tango Argentino Professionals“ zu definieren. Mitbestimmen kann also nur, wer mit dem Tango Geld verdient. Die vielen Menschen, die seit über zwei Jahrzehnten mit viel Herzblut, aber null Verdienst den Tango hierzulande etabliert und verbreitet haben, dürfen zwar als „Fördermitglieder“ gerne etwas löhnen, sollten aber ansonsten die Klappe halten. Sie sind eben nicht wirklich wichtig.
Über die Chimäre der „Professionals“ habe ich wirklich genug geschrieben. Die wenigsten können in unseren Breiten vom Tango leben, bestenfalls erzielen sie einen – oft minimalen – Zusatzverdienst. Für mich ist dieser vollmundige Begriff vor allem dazu da, die vertikale Gliederung der Szene aufrecht zu erhalten.
Bei der Gelegenheit: Mich andeutungsweise als jemanden hinzustellen, der nur per Blog und Facebook gescheit daherredet, finde ich unsäglich. Ich veranstalte seit 2007 Milongas, mit denen ich allerdings nie einen Cent verdient habe – im Gegenteil!
Auch einen weiteren Begriff hätte ich als Verein vermieden: „Tangokulturschaffende“. Mir hat noch keiner erklären können, welche Tangokultur man schafft, wenn man aus Internet-Playlists auflegt, als Tanzlehrer Schrittfolgen unterrichtet oder eine Milonga veranstaltet. Das rechnet sich schlicht zur Veranstaltungs- und Freizeitbranche respektive dem Unterrichtswesen.
Worüber ich mich wirklich scheckig ärgern könnte: Dass ihr euch jetzt damit aufblast, zur „Rettung des Tango-Weltkulturerbes“ zu schreiten. Jahrelang fühlte ich mich als der fast alleinige Rufer in der Wüste, der moderne Musikgruppen und ihre Tangos wie saures Bier empfahl. Wo waren eigentlich damals die hehren Recken, welche diese Kulturschätze tapfer verteidigten? Ich nehme mal an: Stammleser des Cassiel-Blogs, wo es als heilige Wahrheit verkauft wurde, dass alle Tangomusik nach 1955 tänzerisch und überhaupt praktisch wertlos sei!
Da haben viele von euch auf ihren Veranstaltungen den Quatsch von den historisch unumgänglichen Códigos verbreitet und alle, die nicht an „St. Cabeceo“ glauben wollten, zu den Häretikern rechnen lassen.
Es ist ja sympathisch, wenn Judith Preuss nun schreibt: „Wir sind nicht bestrebt, über richtig und falsch im Tango zu urteilen - dieser Tenor wird hoffentlich auch in Zukunft im Verein erhalten bleiben ...“ Und Jörg Buntenbach bekennt: „Es macht absolut keinen Sinn, sich gegenseitig belehren oder bekehren zu wollen.“
Ich frage mich nur: Seit wann? Habe ich vielleicht den Sturz der Saulusse vom Gaul und die anschließende Bekehrung verpasst?
Und es ist ja schön, wenn Martin Derendorf von der Webseite der deutschen UNESCO-Sektion zitiert:
„Vor allem aber geht es der UNESCO beim Kulturerbe heute um ‚Lebendigkeit‘: um Bräuche nicht in musealen Vitrinen, sondern in lebensweltlichem Gebrauch. Denn wenn sich Traditionen nicht mit uns wandeln, dann sterben sie einfach aus."
Ich frage nur: Warum hat es 2009 keiner gemerkt, dass man den Tango nicht in einer EdO-Vitrine vertrocknen lassen darf, wenn er denn zum Weltkulturerbe zählt? Wo war da das Engagement der heute so Vollmundigen, wenn’s nun ums fehlende Geld geht?
Es ehrt mich ja, wenn Judith Preuss jetzt anregt, Blogger wie ich könnten doch ihre Breitenwirkung in den Dienst ihres Vereins stellen – weil, wie gesagt: Nur wer mitmacht, darf mitreden.
Da frage ich die Herrschaften, die nun vor lauter Respekt, Moral und Harmonie kaum laufen können: Wer von euch hat denn einen Gerhard Riedl in Schutz genommen, als sein Tangobuch (wie es ein unverdächtiger Tanguero einmal formulierte) „mit Katzenscheiße beworfen wurde“? Hat es mal jemand von euch positiv kommentiert, dass wir hier in der oberbayerischen Provinz seit mehr als zehn Jahren versuchen, dem zeitgenössischen Tango ein Asyl zu gewähren? Nein, da kamen nur Sprüche wie „hinter den sieben Bergen“, „Dorfmilonga“ oder „Wo liegt denn Pfaffenhofen?“.
Mir geht es überhaupt nicht darum, hierbei persönliche Konflikte auszutragen. Wie ich bereits betont habe, spreche ich niemandem aus dem Verein seinen guten Willen ab. In der jetzigen Form kann ich Euer Vorhaben jedoch nicht unterstützen.
Daher, meine Lieben: Die fade Suppe, die ihr euch da angerührt habt, löffelt ihr bitte ganz allein aus! Ich sitze lieber hier in der Holledau vor meinem Wigwam an der Paar und warte gemütlich ab, was da aus großstädtischer Richtung an mir vorbeitreiben wird: eine stolze Fregatte oder einige Trümmer von Rettungsbooten.
Howgh – ich habe gesprochen!
Mit Tangogrüßen an die Tangogrößen
Eurer Gerhard Riedl
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