Auf der Suche nach der EdO
Für Musik-Ideologen im Tango, so scheint es, klemmen die Schubladen immer mehr: „Traditioneller Tango … Welche Tradition soll es denn sein?“ fragte Cassiel schon vor fast zwei Jahren.
https://tangoplauderei.blogspot.com/2019/07/der-traditioneller-tango-begriffsbestimung.html
Im neu erschienenen Kompass-Blog von Klaus Wendel scheint die Richtung ebenfalls noch nicht ganz gefunden: „Epoca de Oro …da gibts noch keinen Ersatz! Aber…“ – so der völlig eindeutige Titel seiner Betrachtungen. Immerhin ist er zur Erkenntnis gelangt, EdO sei eher eine Zweckbeschreibung denn eine Inhaltsangabe:
„Die Etikette EdO – Tango-Musik aus der Epoca de Oro, machte man zu einem Kampfbegriff zwecks Abgrenzung zum Neo-Tango. Die Zeit zwischen 1943 und 1955 wird als goldenes Zeitalter des Tangos in Buenos Aires und Montevideo bezeichnet, während dort ein wirtschaftlicher Wohlstand dem Tango zu einer nicht zu übertreffenden Blüte verhalf.“
„In Europa erzwang man der gesamten Tango-Musik mit seiner Bezeichnung EdO ein künstliches ‚Abkappen‘ in vor 1940 & nach 1955.“ Wobei Wendels Geschmack dann eher zurück zu den Dreißigern geht – viele Stücke aus den 60ern seien ihm zu kitschig.
Auf jeden Fall stellt der neue Blogger – sogar fettgedruckt – fest:
„Dass allein dadurch das Argument nur ‚EdO-Musik = einzigartig und deshalb automatisch gut tanzbar‘ nicht zu halten ist, müsste allen einleuchten.“
https://www.tangocompas.co/epoca-de-oro-welche/
Na, mir leuchtet das schon seit gut 15 Jahren ein – wenn nun auch andre drauf kommen, soll es mich freuen! Ebenso gilt für mich aber: Das Argument „keine EdO, also minderwertig und deshalb automatisch schlechter bis gar nicht tanzbar“ ist ein noch größerer Schwachsinn.
In der Tangoszene scheint man allenthalben derzeit aufzuwachen und sich erstaunt zu fragen, welche Musik da eigentlich seit vielen Jahren im Hintergrund läuft. So fragt der altgediente Kämpe Bruno Rogalla auf Facebook (KoKo Tango):
„Ich möchte die Fachwelt fragen: Wer hat eigentlich EdO erfunden?“
Tja, kaum tanzt man 15 Jahre drauf, schon möchte man wissen, wozu eigentlich… Und worum geht es da? Ich habe den Begriff einmal gegoogelt. Die Suchmaschine lieferte mir vor allem Informationen zur japanischen Geschichte:
Edo, wörtlich: „Flusstor, -mündung“, in älteren westlichen Texten auch Jedo, Yedo oder Yeddo geschrieben, ist der frühere Name der japanischen Hauptstadt Tokio. Es war der Sitz des Tokugawa-Shōgunats, das Japan von 1603 bis 1868 beherrschte, und gab dieser Periode der japanischen Geschichte den Namen Edo-Zeit. Während dieser Zeit wuchs Edo zu einer der größten Städte der Welt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Edo
Edo steht aber unter anderem auch für das Volk der Edo in Nigeria, einen Fluss in der japanischen Region Kantō, eine Ein-Dosis-Ophtiole (kleines Medikamentenfläschchen für Augentropfen), eine gleichstufige musikalische Stimmung (Equal division of the octave), einen Halbleiterspeicher (Extended Data Output Random Access Memory) und den Dortmunder Hauptbahnhof gemäß bahnamtlichem Betriebsstellenverzeichnis.
https://de.wikipedia.org/wiki/Edo_(Begriffskl%C3%A4rung)
Ebenso kennen wir „Edo“ doch als Kurzform des Namens Eduard und dessen Varianten. Als Familienname ist er im spanischen Sprachraum zu finden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Edo_(Name)
Auch zahlreiche Firmen benutzen EDO als Namensteil, so die Emmericher Dampfölfabrik (im Jahre 1893 gegründet). Unter vielen weiteren Beispielen seien noch der EDO Elektrogroßhandel, ein gleichnamiges Küchenstudio sowie verschiedene Augentropfen erwähnt.
https://www.edo-verwaltung.de/uber-uns
https://www.edo-elektrogrosshandel.de/
https://www.apotheken.de/beipackzettel/A76682/Dexa+EDO
Und der Tango? Davon weiß Tante Google auf den ersten Seiten gar nichts. Der erste Begriff, den sie mir in diesem Zusammenhang anbot, war „Osvaldo Fres-edo“.
Halten wir daher fest: Die Época de Oro, also das „Goldene Zeitalter“ des Tango, ist vor allem ein genialer Marketing-Slogan, wie es sogar dem oben zitierten Bruno Rogalla schwant:
„Wenn ich recht erinnere, kam der Begriff EdO vor rund 15 Jahren auf und galt vielen Veranstaltern und DJ's auch als Werbeslogan und Abgrenzung zu den Mitbewerbern: ‚Kommt zu uns, wir spielen EdO, Besseres gibt es nicht!'“
Klar, die EdO war eine Zeit, in der Tango in der La Plata-Region halt der Modetanz Nummer eins war – mit allen Vorzügen und Nachteilen einer Mainstream-Musik: Das Publikum wollte immer mehr vom Gleichen. Das hört man vielen dieser Stücke auch an.
Fürs zahlende Publikum von heute ist „golden“ natürlich ein attraktiver Beiname – siehe „Goldenes Vlies“, „Goldenes Zeitalter“, Goldenes Kalb“ oder auch „Goldenes Blatt“. Und so einfach, wie diese Hausfrauen-Postille zu lesen ist, sind viele Tangos aus dieser Zeit auch zu tanzen: eine Erfolgsrezept!
Selbst die Historien-Exegetin Theresa Faus teilt Klaus Wendel zu seinem Beitrag mit: „Die EdO ist ja ein vielschillernder Begriff, wie auch deinem Artikel zu entnehmen ist. Bei dir heißt es zuerst 1943-1955, später 1940-1955, dann ab 1939, und du zitierst die verbreitete Meinung, dass D’Arienzo/Biagi, die 1936-1938 zusammen gespielt haben, die neue Blüte des Tangos begründet hätten – alles Zitierungen, du teilst ja die apodiktische Abgrenzung nicht, erfreulicherweise.“
Wobei die Münchner DJane die Zeit empfehlenswerter Tangomusik nach hinten, also in die „Prä-EdO“ verlängern möchte – dafür wird nun schon der Begriff „erweiterte EdO“ vorgeschlagen. Vorwärts in die Vergangenheit also.
Ich halte solche Definitions-Verrenkungen schlicht für lächerlich und finde, die Tangoszene hat sich lange genug am Nasenring durch die Diskografien führen lassen: Da schlägt bei der Auswahl einer zum Tanz vorgesehenen Aufnahme erstmal der Mullah mit den Kopfhörern im Tango-Koran nach, ob es sich laut Aufnahmedatum um ein erlaubtes Stück handelt oder man sofort den Dschihad ausrufen muss. In dem Fall wird gegen den Titel der Tali-Bann verhängt. Weltkulturerbe? Dass ich nicht lache!
Alternativ schlage ich vor, beim Erklingen einer Tangomusik nicht im Geschichtsbuch zu blättern, sondern die zu diesem Zweck seitlich am Kopf sitzenden Ohren zu verwenden. Und sodann zu spüren, ob es in den Füßen juckt…
Doch die Exegeten der reinen Tangolehre scheinen da vom EdO-Tinnitus befallen: Nur zirka hundert Stücke, so Kollege Cassiel, habe der moderne Tango zu bieten. Nun habe ich auf meinem Blog in den Playlists schätzungsweise 1500 solcher Aufnahmen vorgeschlagen. Wer wollte, dürfte ja mal nachschauen:
http://milongafuehrer.blogspot.com/search/label/Gerhards%20Tandas
http://milongafuehrer.blogspot.com/search/label/Playlists
Wann immer ich das tue, ernte ich aus diesen Kreisen donnerndes Schweigen. Man könnte ja zumindest mal bei einer Aufnahme sagen, was gegen deren tänzerische Umsetzung spricht. Doch da gleichen diese Leute den Kardinälen in Brechts „Leben des Galilei“ – sie wollen nicht durchs Fernrohr schauen. Man könnte ja die Jupitermonde und dadurch ein Weltbild zusammenbrechen sehen.
Das wissen alle Verschwörungstheoretiker: Beschäftigt man sich erstmal mit Tatsachen, platzt die Meinungsblase. Daher glaubt man besser weiterhin an die flache Erde, Reptiloide, Chemtrails oder die EdO.
Daher hier noch die Zusammenfassung des aktuellen Seminars „Klassiker des Tango“ (im Original-Tempo – der abschließende Spurt gehört nicht mehr zum Tanz):
https://www.youtube.com/watch?v=i1UPNXT4rKc
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