Von Achtsamen und Aliens
Zwei Ziegen brechen
in den Vorführraum eines Kinos ein. Da diese Tiere so ziemlich alles fressen,
macht sich eine davon über einen herumliegenden Film her. Nach einiger Zeit
fragt die andere: „Schmeckt‘s?“ Deren Antwort: „Das Buch war besser.“
(einer meiner
Lieblingswitze)
In
vielen Tangojahren habe ich wahrlich eine Menge Gründe kennengelernt, wieso man mit bestimmten Personen tanzt oder auch nicht: Fähigkeiten auf
dem Parkett, persönliche Bekanntschaft, Kommunikationsverhalten, Alter, Aussehen
und vieles mehr.
Dennoch
war es mir in etlichen Fällen bis heute nicht erklärbar, wieso manche Leute,
denen ich in diesen Hinsichten nur Positives attestieren kann, wenig aufgefordert werden bzw. sich
schwer tun, eine Tanzpartnerin zu finden.
Seit
Kurzem bin ich jedoch in diversen veröffentlichten Texten fündig geworden: Es
liegt an ihrem Status!
So
schreibt ein Berliner DJ und Musiker, es gebe Gruppen von gut bis sehr gut
Tanzenden, welche praktisch „unaufforderbar“
seien:
„Die Mitglieder
solcher Gruppierungen haben jeweils einen gewissen Status inne bzw. sind in
einer gewissen hierarchischen Stellung und müssen, um diesen zu halten,
zwangsweise nur mit Tangopersonen tanzen, die einen ähnlichen Status inne haben
– auf keinen Fall mit Statusfreien. Als Neuling hat man natürlich keinen Status
und braucht es lange Zeit, um sich hochzuarbeiten. Auf solchen Veranstaltungen
gibt es teilweise auch seltsame Effekte … zum Beispiel, wenn man sich einer
lang ‚unbetanzten‘ Dame nähert, um ihr eine Freude zu machen und sie
auffordert, riskiert man einen Korb, weil es für ihren Status tödlich sein
könnte, mit jemandem gesehen zu werden, der nicht ‚dazu‘ gehört oder deutlich
unter ihrem Status ist.“
„Status-Tanzen“ nennt der Autor
diesen Effekt. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen – ich hatte bereits vor
vielen Jahren diese Entwicklung im Keim beobachten können:
Auf
einer Münchner Milonga, die wir damals ziemlich oft besuchten, gab es eine
Gruppe von drei Paaren, welche wir heimlich die „Sechserbande“ nannten: Sie saßen stets am selben Tisch, den eine
Zeitlang sogar ein „Reserviert“-Schild zierte. Sie gehörten wohl zu den treuesten Schülern des dortigen
Tangolehrerpaars, mehr noch: Wie das Herrchen dem Hund passten sie sich auch im
Aussehen immer mehr ihren Vorbildern an. Insbesondere war es höchst amüsant
anzusehen, wie die Herren immer mehr die eingefroren-arrogante Charaktermaske
des Chefs hinbekamen…
Ich
tanzte jedenfalls öfters mit den betreffenden Damen, während die Herren meine
Frau weitestgehend ignorierten (jedenfalls in ihrem dortigen Revier). Heute,
nach der Erfindung des Cabeceo, würden wohl auch die weiblichen
Bandenmitglieder konzentriert wegschauen und mir keine Chance mehr geben. Und ebenso klar ist mir inzwischen: Öffentlich mit der Frau eines berüchtigten Tangokritikers zu tanzen könnte in manchen Zirkeln zur Exkommunizierung (also zum Ausschluss von der Teilnahme am heiligen Tangosakrament) führen!
Noch
eindrucksvoller ist der Bericht eines Tangolehrers,
der in den späten 1980-er Jahren bei der Entstehung der Tangoszene in der
heutigen deutschen Hauptstadt mitwirkte, seit 25 Jahren (derzeit in München) unterrichtet,
Milongas veranstaltet und eine Menge Bücher über den Tango geschrieben hat. In
seinem Artikel haut er speziell die sozialen
Verhältnisse in Berlin gewaltig in die Pfanne (und das in einem dortigen Blog
– ich bin gespannt, wie die Reaktionen ausfallen).
Die
geschilderte Situation ist schon gespenstisch:
Da kehrt einer nach mehr als zwei Jahrzehnten wieder in eine Szene zurück, zu
deren Begründern er gehört – und bleibt bei seinem ersten Milongabesuch den
ganzen Abend sitzen, weil ihn keine(r) mehr kennt:
„Dabei wäre ich gerne
auch bereit gewesen, mit viel weniger versierten Tänzerinnen zu tanzen als ich
es bin, einfach nur, weil ich Lust zu tanzen hatte. Doch auch solche erwiderten
meinen Blick nicht und ließen mich ebenfalls abblitzen. Das empfand ich zwar
als skurril, jedoch nicht als Problem, zumindest nicht für mich. (…)
Doch ich konnte mich
des Eindrucks nicht erwehren, dass es hier vor allem um eine Art von Wettbewerb
‚Aller gegen alle‘ ging. Als wäre der Abend für jedes Paar eine einzige
Werbe-Veranstaltung. Ich nahm an, dass wohl sämtliche unter ihnen Lehrer sein
mochten und sie nun, als hinge ihr Leben davon ab, um die Gunst weiterer Tänzer
buhlten, die sie als Schüler gewinnen wollten – oder einfach nur, um
aufzusteigen im Berliner
Tango-Ranking.
Doch auch auf anderen
Milongas zeigte sich, dass niemand
riskieren wollte, mit einem Unbekannten, der unter dem eigenen tänzerischen
Niveau liegen könnte, eine erste Tanda zu tanzen. So sehr sorgte man sich, auf
der Tanzfläche vor aller Augen möglicherweise eine schlechte Performance
abzuliefern (eines der neoliberalen Zauberworte unserer Zeit!). Man wollte erst zuschauen, wie einer
tanzt, bevor man ihn aufzufordern oder sich von ihm auffordern zu lassen,
bereit war.
Zu groß war offenbar
aller Angst, dass ihr Kurswert in der Szene absacken könnte, wenn man das
Risiko einging, auf den falschen Tänzer zu setzen. Womöglich ist er auch noch
Anfänger!? Was dann der absolute
Supergau wäre. Etwas Vergleichbares habe ich bisher – in diesem Ausmaß – noch
in keiner sonstigen Tangoszene, in keiner anderen Stadt so erlebt.“
Und
weil er sich eh gerade aufregt (was sonst nicht sein Naturell ist), bekommt auch die
Tangoszene insgesamt noch einen mit:
„Und weil wir alle
so unglaublich klasse sind und fest davon überzeugt, einer Elite, als
Tangotänzer ja der Hauptstadt-Elite anzugehören, pflegen wir in den
sozialen Netzwerken ethisch-philosophische Diskurse über so bedeutende Dinge
wie die Frage nach dem
authentischen Tango, dem richtigen Tanzabstand oder der natürlich einzig richtigen Art, auf einer
Milonga aufzufordern. Das Netz ist voll mit den Spuren religiöser Sittenwächter
und päpstlich-inquisitorischer Bewahrer der reinen Tango-Lehre.“
Wahrlich
gut gebrüllt, lieber Ralf! Und auch deinen tangopolitischen Schlussfolgerungen
kann ich nur aus so vollem Herzen zustimmen, dass ich es fett drucke:
„Und
genau in diesem Kalkül drückt sich Kapitalismus in Reinstform aus: indem man
sich selbst und den anderen auf den Stellenwert einer Ware
reduziert, die man vorrangig unter Gebrauchs-Aspekten und opportunistischen
Abwägungen, im kalten Spiel des reinen Selbst-Marketings einsetzt. (…)
Denn auch
Herzlichkeit, Mut, soziale Wärme und Generosität gehören für mich zu den
zentralen Wesensmerkmalen dieser Tanzkultur.“
Das Schöne dabei ist halt: Wenn man schon so lange
dabei ist wie ich, kennt man die Verfasser vollmundiger Gutheiten oft aus früheren
Zeiten. Daher muss ich leider etwas Wasser in den feurigen Rotwein tröpfeln:
Der von mir wegen seiner Fähigkeiten durchaus
geschätzte Tangolehrer gehörte für mich damals zum Prototyp des „Tango-Aliens“, der auf den Milongas
mit glasigem Blick an einem vorbeisah, die meiste Zeit nur herumsaß und mit
wenigen Auserwählten seltene kultische Tänze unternahm.
Ein Erlebnis
hat sich mir derart eingeprägt, dass ich es sogar in die erste Version meines
Tangobuches (S. 125-126) übernahm:
Es war sicherlich die Milonga mit dem größten Frauenanteil, die ich je
erlebte – er lag bei über 70 Prozent. Nach einer (übrigens hervorragenden)
Einführungsstunde des Meisters standen (ihn eingeschlossen) vier Männer zirka
15 Damen gegenüber, welche alle wild darauf waren, das Gelernte umzusetzen.
Während drei von uns in den nächsten Stunden zwar nicht mit dem Wolf, aber
uns selber einen tanzten, saß der Maestro – wohl erschöpft von seiner Lehrtätigkeit
– in tantrischer Selbstversenkung in
der Ecke und tat – nichts! Eine Tangobekannte hielt es schließlich nicht mehr
aus und forderte den Chef und famosen Buchautor einfach selber auf. Huldvoll
wurde ihr in nächster Zeit (!) eine
Tanda versprochen.
Als dies endlich in die Tat umgesetzt war, fragte
ich sie: „Na, wie war’s?“
Ihre Antwort – in leicht osteuropäischem Akzent –
lässt heute noch mein Zwerchfell erbeben: „Das
Buch war bässär!“
Nun will ich weiß Gott niemanden an seiner Vervollkommnung hindern – ob grade das G’schäft
schlecht geht, der Trend zur „Achtsamkeit“ unausweichlich ist oder es einen ungläubigen Paulus auf seinem Weg nachDamaskus tatsächlich vom Gaul gesemmelt hat.
Hauptsache, man verlässt den Platz auf dem hohen Ross. Es wäre ein Segen für die
Tangoszene! Daher lasset uns beten:
„Also
wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor
neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.“
(Lukas
15,7)
Ja, Achtsamkeit gehört definitiv auf das Spielkärtchen jedes nachdenklich-philosophischen Teilnehmers beim Tango-Psycho-Bullshit Bingo. Wobei der gute Ralf ja auch anmerkt, Bärlin sei auch die Hauptstadt der Political Correctness. Also immer schön genderkorrekt die Codigos einer Machokultur von vor 100 Jahren leben, in der nur die Kerle auffordern und das auch nur rein optisch, weil die armen Chicas sonst überfordert sind. Salud und abrazos nach Berlinos Aires.
AntwortenLöschenLieber Yokoito,
Löschentja, auf dem Berliner Blog wurden diese Woche Weisheiten im XXL-Format verbreitet. Ich hab daher dort lieber nix kommentiert. Gibt nur bös' Blut...
Kompliment übrigens zu deinem neuen Blogbeitrag, den ich hiermit ausdrücklich empfehlen möchte:
https://tangoblogblog.wordpress.com/2018/03/09/sex-gender-und-video/