Gehört der Tango zu Deutschland?
„Der Islam gehört
nicht zu Deutschland. Deutschland ist durch das Christentum geprägt. Dazu
gehören der freie Sonntag, kirchliche Feiertage und Rituale, wie Ostern,
Pfingsten und Weihnachten." (Horst Seehofer)
Das
Verhältnis zu einem „fremden“ Kulturgut
beschäftigt ja nicht nur Politiker, sondern auch die Anhänger des Tango.
Während mich der Satz des in Konkurrenzzwang zur AfD befindlichen neuen
Bundesinnenministers nicht überrascht hat, fand ich einige Einlassungen des
renommierten Tanzpaars Nicole Nau
und Luis Pereyra in einem schon
zitierten Interview umso spannender:
Auf
die Frage „Was macht denn der
leidenschaftliche Tangotänzer in Berlin oder London oder Köln. Tanzt er
argentinischen Tango?“ antwortet die Tänzerin, die schon 1988 auf den
Spuren dieses Tanzes nach Buenos Aires ging: „Ich finde es nicht richtig, wenn
einer in London oder Berlin seinen Tango tanzt und das Tango Argentino nennt.
Ich fände es viel besser, wenn er sagt: Das ist Berliner Tango. In Köln tanzen
sie wieder anders. Und in Buenos Aires erst recht!“
Und ihr
Gatte fertigt die Feststellung des Interviewers „Deutsche Tangoschulen werben gern mit der Behauptung, bei ihnen könne
man den original argentinischen Tango lernen“ mit einer ebenso
bemerkenswerten Replik ab: „Ich mag es nicht, wenn meine Kultur von anderen
gemanagt wird. Ich komme, um meine Kultur zu teilen. Ich komme nicht, damit man
mir erklärt, wie meine Kultur ist. Ich käme nicht auf die Idee, mich so
gegenüber der deutschen Kultur zu verhalten. Aber die Deutschen tun so, als
könnten sie mir meine Kultur erklären.“
Es wird aber
noch weit komplizierter: Luis Pereyra stammt aus Santiago del Estero, einer der bitterarmen
Provinzen Argentiniens, gut 1000 Kilometer von der Metropole entfernt. In „seiner Kultur“ tanzt man, wenn überhaupt,
Chacarera und Zamba, aber keinen Tango. Ich muss bei solchen Themen immer an ein
Wort meines Tangofreundes Alfredo Foulkes zu seiner Heimat denken: „Argentinien besteht aus Buenos Aires – und Argentinien…“
Na gut, Pereyra ging bereits als kleiner Junge
mit seinen Eltern in die argentinische Hauptstadt. Genehmigt. Dennoch – ich
habe einmal über seine Show
geschrieben – beeindruckt er mich eher als Folklore- denn als Tangotänzer.
Dennoch lese ich in den bunten Ankündigungen deutscher Tangoveranstalter nirgends die Anpreisung „uruguayische Traditionen“. Nein, argentinisch müssen sie sein! Die Zumutung, das riesige südamerikanische Land insgesamt in die Verantwortung für den Tango zu nehmen, ist wirklich dreist. Gar zu behaupten, ein Argentinier habe „den Tango im Blut“, ist ungefähr so ernst zu nehmen wie die Ansicht, ein Deutscher – ob Bayer, Hamburger oder Sachse – sei genetisch für den Schuhplattler disponiert. Warum nur erinnern mich solche Szenen an Live-Auftritte argentinischer Tangopaare bei uns?
Man sollte
auch daran erinnern, dass in keinem Land der Welt der Tango phasenweise so
heftig abgelehnt wurde wie in seinem
„Mutterland“: Als „Tanz der Gosse“ wurde
er Anfang des 20. Jahrhunderts von der argentinischen Oberschicht
abqualifiziert. Nach seinem Siegeszug in Paris ab 1915 hingegen murrten die
Proleten am Rio de la Plata über den französisierten Tanz der Bohème, welcher in
den teuren Cabarets und Salons weichgespült worden sei. Und der nackte Hass,
der einem Astor Piazzolla im Heimatland wegen seines „Tango nuevo“ entgegenschlug, ist Legende.
Bezeichnend
ist ja die Biografie von Nicole
Nau, die Ende der 1980-er Jahre glaubte, den Tango in Buenos Aires zu
finden. Fehlanzeige: Die wenigen Künstler, die sich damit beschäftigten, waren
auf Tournee in Europa! Daher antwortet sie in obigem Interview auf die Feststellung
„Sie
haben mal gesagt, Frau Nau, dass es den Tango ohne Ausländer nicht mehr geben
würde“: „Das denke ich immer noch. Ohne das internationale Interesse
würde sich heute nur ein kleiner Prozentsatz von Argentiniern für den Tango
interessieren.“
Und
man muss es immer wieder betonen: Das „internationale
Interesse“, das dem Tango immer wieder entgegengebracht wurde, lässt sich an zwei Namen festmachen, die auf unseren heimischen Milongas so gut wie
keine Rolle spielen: Carlos Gardel und Astor
Piazzolla – also einem gebürtigen Franzosen und einem Musiker
italienischer Abstammung.
Daher
nun zum Kernthema: Wenn wir schon
dazu neigen, ein Kulturgut wie den Islam inzwischen als „zu Deutschland
gehörig“ zu bezeichnen (oder zumindest die bei uns lebenden Muslime) – wie „fremd“
ist uns eigentlich der Tango?
Dazu
eine ganz persönliche Geschichte: Mein Vater
(geboren 1917) war ein begeisterter Hobbytänzer – und zu seinen Lieblingstänzen
gehörte, neben dem „English Waltz", der Tango. Den boten nämlich in Deutschland
ab den 1920-er Jahren viele Interpreten – angefangen bei Barnabás von Géczy über Rudi
Schuricke bis zu Peter Alexander. Tango hat – nicht nur von den
Auswanderern her – also durchaus eine europäische Tradition, erkennbar an Titeln
wie „Jalousie“ (aus Dänemark), „O Donna Clara“ (Polen), „Du schwarzer Zigeuner“ (Tschechien)
oder „Olé Guapa“ (Niederlande).
Und
wer nun am fehlenden Bandoneon
herummäkeln sollte: Das stammt ebenso aus Deutschland, und die besten
Instrumente, auf denen nahezu alle argentinischen Größen spielten und spielen,
wurden von der Firma Alfred Arnold im erzgebirgischen Carlsfeld hergestellt – übrigens zirka
30 Kilometer von der Heimatstadt meines Vaters (Kraslice – früher Graslitz)
entfernt. Habe ich nun wegen meiner sudetendeutschen Abstammung „den Tango im Blut“? Ach, Quatsch…
Was Nicole Nau in dem schon zitierten Interview über den Tango sagt,
kann ich Wort für Wort unterschreiben: „Tango erlaubt große Lebendigkeit
und Spontaneität. Es geht nicht darum, Schritte nachzumachen, die einem ein
Lehrer beigebracht hat. Es geht darum, mit diesen Schritten die Musik zu
erfühlen – mit einem Partner eine Einheit im Tanz zu bilden. Das Faszinierende
ist: Der Tango schränkt nicht ein durch das Korsett ‚Sequenzen‘. Nein, er
ermöglicht den Tänzern eine riesengroße Freiheit.“
Ich füge
hinzu: Tango ist ein Weltkulturerbe,
schon daher gehört er auch zu Deutschland. Argentinien hat viel dazu beigetragen,
ebenso wie Europa und andere Teile der Welt. Schon deshalb sollten wir diesen
dämlichen Argentino-Mummenschanz lassen – wir haben jedes Recht, unseren
eigenen Weg zu dieser Weltmusik zu finden, ob nun in Berlin, Köln oder sogar „Pörnos Aires“ (wie Tangofreund Thomas Kröter neulich unser
oberbayerisches Tangodorf zu nennen beliebte). Da lasse ich mir von Argentiniern auch nicht gern meine Kultur erklären...
Tangoveranstalter
wie Bundesinnenminister sollten daher die großen Sprüche lassen und sich lieber
den im Überfluss vorhandenen Sachproblemen zuwenden! Auch der Islam wird sich in Deutschland anders
weiterentwickeln als im Nahen Osten – angesichts der Tatsache, dass wir nach
leidvollen historischen Erfahrungen davon abgekommen sind, Menschen mit anderer
(oder fehlender) religiöser Überzeugung zu verbrennen oder in die Luft zu
sprengen.
Dennoch sehe
ich als Andersgläubiger keine
Verpflichtung, mich fünfmal am Tag gen Mekka zu verneigen oder mit einem
Kopfnicken meine Tanzabsicht darzutun. Da halte ich mich im Zweifel lieber an
die germanische Tradition des „Vaterunser“
oder des „Darf ich bitten?“. Auch
wenn dann zum Dschihad aufgerufen werden sollte…
Wusste mein
Vater, dass der „Tango aus Argentinien
kommt“? Oder doch aus Spanien? Es war ihm wahrscheinlich egal – und er hätte
ja auch in beiden Fällen Recht.
Sehr schön! Worauf sich für mich als gelerntem Wiener die bange Frage ergibt: Gehört der Walzer zu Wien? Offenbar nein, denn er wurde 1785 in Stockholm definiert, der "Wiener Walzer" 1797 in Breslau. Aber dann gehört wenigstens das Kaffeehaus zu Wien? Nein, auch nicht. Das erste "Café" wurde 1647 in Venedig eröffnet, später folgten welche in Oxford (1650), London (1652), Bremen (1673), Hamburg (1677), und dann erst Wien (1685)! Shocking, indeed.
AntwortenLöschenNaja, ist halt immer die Frage, ob man das, was laut den einen zu X gehört, und laut den anderen nicht, auch wirklich haben will.
LöschenOder anders gefragt:
Gehören nervende "Breissn", die sich als Missionare in Bayern fühlen, wirklich nach Bayern, obwohl solche natürlich hier leben. Gehören dann evtl durchaus angenehme "Breissen" wg den oben genannten unangenehmen Typen deshalb auch nicht zu Bayern? ;-)
Ciao, Robert
Ich finde, wer oder was lang genug mit uns lebt, gehört auch zu uns, ob nun Tango oder "Breissen". Wem das dann wie gut gefällt, ist eine andere Frage...
Löschen...und die "Wiener Würstchen stammen aus Frankfurt und werden in Wien offenbar auch "Frankfurter" genannt. Es ist wirklich zum Verzweifeln!
AntwortenLöschenHallo,
AntwortenLöschenvielen Dank - ich bin durch Zufall auf diesen Artikel gestoßen.
Eigentlich habe ich eine Orchesteraufnahme des Tango Milonga „Carlsfeld“ gesucht, ein Stück das von Juan Carlos Caviello komponiert wurde.
Die eine im Netz zu findende Aufnahme von Ihm selbst kenne ich.
Ich danke Ihnen sehr für Ihren Artikel - wenn ich abseits der Heimat jemanden erzählt habe, das die Geschichte der Tangomusik mit dem Bandonion auch mit Deutschland verknüpft ist so erntete ich ein müdes Lächeln.
Dank Internet und der Aktivität des Bandonionverein Carlsfeld eV. hat sich das geändert.
Ich kenne Carlsfeld sehr gut, dort war ich sehr oft bei meinen Großeltern in den Ferien. Ich habe auf dem Hang am Fussballplatz und dem Hirschkopf mit 4-5 das Skifahren gelernt
Meine Oma zählte auch zu den vertriebenen Sudetendeutschen, die in Carlsfeld eine neue Heimat gefunden hatte.
Wie gesagt,
Vielen Dank für Ihren Artikel und Ihre Sichtweise.
Herzlich,
Frank Münzner
Lieber Frank Münzner,
AntwortenLöschenja, Tango ist multikulturell, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen. Würde das Allgemeingut, erübrigten sich viele Streitereien um den "authentischen" oder gar "wahren" Tango. Diese Musik hat viele Facetten und entwickelt sich ständig weiter.
Ein Jammer, dass man in der DDR die Manufaktur in Carlsfeld "abgewickelt" hat. Umso mehr freuen mich die aktuellen Entwicklungen dort.
Vielen Dank für den Beitrag und herzliche Grüße
Gerhard Riedl