Liebes Tagebuch… 47



“Love was just a glance away, a warm embracing dance away
(Charles Singleton, Eddie Snyder: "Strangers in the night”)

Dieser Beitrag wird wohl auf umfassende Ablehnung stoßen, da bin ich mir ziemlich sicher. Dennoch bitte ich, die allfällige Empörung bis zum Schluss des Textes hinauszuschieben!

Derzeit macht ein neues Patentrezept die Runde, wie man mehr neue Tanzpartner zusammenbringen und so für eine bessere Durchmischung auf den Milongas sorgen könnte: die Tauschtanda. In einer Folge von bis zu sechs Stücken, so las ich in unserer Facebook-Gruppe, gebe es immer wieder kurze Cortinas, nach denen man mit einem neuen Partner weitertanzen solle – möglichst einem, den man noch nicht kenne.

Über den Erfolg dieser Aktion berichtet der Betreffende: „Die Tauschtanda ist sehr nachgefragt, nur wenige entziehen sich dem Spiel, es wird aber dennoch auch mit (viel gefragten) Bekannten getanzt, da man an die oft sonst nicht so leicht rankommt ... und in der Tauschtanda sind insbesondere die Folgenden in der Wahl die Aktiveren.

Letzteres ist schon mal interessant: Hebt man also die üblichen Spielregeln auf, ergreifen deutlich mehr Frauen die Initiative! Aber halt: Wie wird da überhaupt aufgefordert? Doch hoffentlich so wie sonst – mit Cabeceo? Meine entsprechende Frage wurde – unter Verkennung ihres ironischen Gehalts – ziemlich ernsthaft und umfassend beantwortet:

Na ja, irgendwie nicht so ganz. Die Situation sei schon ein wenig anders und liefere so „alle Freiheiten“. Manchmal werde von hinten auf die Schulter getippt oder eine Frau stelle sich einfach vor einen hin und mache so die Sache klar.

Ich schob, ebenfalls ohne großen Erfolg, noch eine weitere Ironie nach: Eine Frau, die sich einfach so vor einen hinstellt? Oh, wenn das nicht der berüchtigte, nötigende ‚Nah-Cabeceo‘ ist... 

Nun, die meisten wüssten ja, worauf sie sich einließen, so die Antwort, und es sei dann ja nur für ein Lied…

Ich habe mich in den vergangenen Jahren hinlänglich belehren lassen, die argentinische Aufforderung per Blickkontakt sei nun wirklich hundertprozentig durchzuhalten – selbst, wenn man nebeneinander sitze. Dann müsse man sich halt ein Stück weit entfernen und sodann gucken, alles andere wäre eine gefährliche Nötigung. Es sei kein Argument, dass die meisten zum Tanzen da wären. Und nun ist plötzlich alles egal?    

Ein anderer Kommentator lässt noch tiefer blicken: „Ich genieße, dass bei dieser Gelegenheit die gängigen Mechanismen von Status, Schönheit und Können (denen ich mich auch nicht immer entziehen kann) dem Aufforderungstumult zum Opfer fallen und die Chance für überraschende und oft schöne Tangobegegnungen wächst.

Aha: Irgendwie sehnen sich viele beim Tango nach Spontaneität, ja Anarchie – sie muss allerdings von einem starken Anarchen als Spielregel vorgeschrieben werden. Dann findet man Spaß am „Aufforderungstumult“ und vergisst die Sorge um all die eventuell geknickten Seelen, welche anschließend einen Tango mit einem unerwünschten Partner zu vollführen haben.

Neu ist diese Idee von Tanzspielchen wahrlich nicht: Eine Leserin berichtet von roten und blauen Nümmerchen, welche beim Eintritt an die Damen und Herren ausgegeben wurden. Bei einer entsprechenden Tanda sollten dann die zahlenmäßig Passenden miteinander tanzen. Das genaue Reglement blieb ihr, da in Italien passiert, verborgen. Was, wenn ein Tanzbon nicht eingelöst wurde? Vielleicht galt dann die legendäre Anrufbeantworter-Ansage des Callgirls während der Ferienzeit: „Keine Nummer unter diesem Anschluss“

Das erinnert mich an den größten Flop, den ich in meiner Tangokarriere je hinbekam: Bei einer von mir veranstalteten Milonga verfiel ich auf die Idee, dass sich Männlein und Weiblein per Komplettierung von Tangotiteln finden sollten – da stand also auf einem Zettel „La“ (oder „El“) und auf dem anderen entsprechend „Cumparsita“ (oder „Choclo“). Das folgende Chaos, in dem kaum einer zu Rande kam, bewies mir schlagend: Für die meisten Tangotänzer ist Musik ein rhythmisches Geräusch. Ob es dann zumindest mit dem Zählen klappt? Es ist zu hoffen.

Um nur von denen missverstanden zu werden, die es wollen: Alles, was man unternimmt, um das soziale Klima auf Milongas zu verbessern, findet natürlich meine volle Unterstützung. Ich frage mich halt, in welcher Eiseskälte wir beim Tango gelandet sind, um auf solche Kindergeburtstags-Spielchen angewiesen zu sein. Es erinnert mich ein wenig an die derzeit viel diskutierten Tafeln, die ja auch bestenfalls eine kleine Hilfe statt einer großen Problemlösung sein können (und wenigstens den Vorteil haben, dass man nicht mehr so viele Lebensmittel wegwirft wie früher).

Eine grundlegende Verbesserung ist aber nur zu erreichen, wenn man die ewigen Darlegungen wegsteckt, wer nun aus welchen Gründen nicht mit wem tanzen solle oder wie man Tanzeinladungen auszusprechen habe. Wenn es im „Aufforderungstumult“ ohne Cabeceo klappt und die Frauen aktiver werden, könnte man einmal, statt Nümmerchen zu vergleichen, zwei und zwei zusammenzählen: Ein Veranstalter, DJ oder Tangolehrer sollte als soziales Ungeheuer gelten, wenn er es hinnimmt, dass eine Frau länger als eine Stunde herumsitzt. Ach ja: Und die Tangofrauen könnten sich endlich mit der Tatsache befreunden, dass sie im 21. Jahrhundert leben…

Man löst keine Probleme, indem man an ihren Auswirkungen herumbastelt, ob mit „Tauschtanda“ oder „Damenwahl“. So ist es auch sicherlich gut gemeint, wenn eine DJane „bei Bedarf“ (als ob der nicht stets bestünde) eine „Tanda mit einem Fremden“ ausruft und dazu als Cortina „Strangers in the night“ anspielt. Besser wäre es, diesen wunderbaren Non-Tango mal in ganzer Länge zu spielen!

Wie sagte der Komponist dieses Welterfogs, Bert Kaempfert, so schön?
„Ich möchte Musik machen, die nicht stört.“
Wie passend für den heutigen Tango!


Kommentare

  1. Ich glaub es ist nicht immmer Arroganz, wenn der eine den anderen nicht auffordert, sondern schlicht Versagensangst. Ob es mit dem Fremden klappt, weis man halt nie und hält sich dann lieber an Bekannte(s). Bei einer Tauschtanda ist dann halt der Veranstalter "schuld", wenn es nicht klappt, da verordnet und es ist ja auch nur ein einziger Tanz, bevor man weiterzieht. Da die Leute trotz der dräuenden Gefahr mitmachen zeigt doch, daß sie grundsätzlich Fremde ausprobieren wollen, sich aber alleine nicht trauen. Da find ich das püschologisch raffiniert, sie ein bischen qua Verordnung in die richtige Richtung zu schubsen. Nämlich in die Arme einen bis dato Fremden.
    Frauke

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Liebe Frauke,

      ich glaube auch, dass in Wahrheit im Tango die Angst dominiert. Aber wenn sie halt dann als Arroganz rüberkommt, hat sie die entsprechende Wirkung.

      Ebenfalls stimme ich Dir beim psychologischen Lerneffekt zu. Allerdings lernt man dabei auch, sich weiterhin an Vorgaben zu halten.
      Besser wäre es, von vornherein Ängste zu vermeiden, vor allem durch einen Anfängerunterricht, der nicht alles genau vorschreibt.

      Danke und beste Grüße!

      P.S. An die mitlesenden Kritiker: Da mir die Schreiberin persönlich bekannt ist, gebe ich mich hier mit ihrem bloßen Vornamen zufrieden.

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.