Tango in der Klischee-Kiste


Mein voriger Artikel über das „Verruchtsein“ fand sehr großes Interesse. Auf Facebook erntete ich allerdings auch Schelte wegen meiner deutlichen Kritik an dem verlinkten Video: Er „finde es sehr gewagt“, so ein Kommentator, daraus auf die „Qualität der Lehrer“ zu schließen. „Man sollte Leute nicht anhand eines alten Youtube-Videos zerreißen, zumal man sie ja nicht kennt und selbst den Unterricht nicht erlebt hat.

Abgesehen davon, dass ich niemand „zerrissen“ habe: Es ging mir nicht vorrangig um die wirklichen Leistungen der Betreffenden, sondern um den grottenfalschen Eindruck, den solche Filme über den Tango hinterlassen. Und niemand hindert ja die beiden, puren Quatsch wieder aus dem Internet zu entfernen!

Tja, und wer von denen, die mich im letzten Jahrzehnt verdammten, kennt mich schon persönlich?  

Besonders lustig finde ich dann noch den Einwand, das Video sei ja von 2012 und daher wohl nicht mehr aktuell – geäußert von Personen, welche nichts dabei finden, Tangos von 1940 aufzulegen…

Nein, nochmal, mir geht es um die Kernfrage: Wieviel Unsinn lässt man öffentlich über sich verbreiten, nur damit die Werbung stimmt? Ist das ein genereller Trend oder stellt das obige Beispiel eine unrühmliche Ausnahme dar?

Daher habe ich gestern auf YouTube noch etwas nach „Tango, Leidenschaft, Erotik und umliegende Dörfer“ herumgesucht und schöne Funde gemacht. Um aber die armen lokalen Tangoschulbetreiber nicht weiter zu belasten, lege ich mich lieber mit einer international renommierten Tangotänzerin an: Nicole Nau.

In der NDR-Sendung „DAS!“ lässt sie sich von der Moderatorin Bettina Tietjen allen Ernstes so ansagen:

„Leidenschaftlich, einzigartig, lebendig, dramatisch, sinnlich, unverfälscht, das alles ist der argentinische Tango…“
Im kurz darauf folgenden Einspieler zur aktuellen Show geht das Gedöns stilistisch so weiter: „Sinnlich, leidenschaftlich und stark, Tango archentino – wie der Tanz, so die Tänzerin: Aufgewachsen in Düsseldorf für ihren Traum geht sie nach Argentinien, tanzt sich als Deutsche an die Weltspitze. Dann trifft sie ihn: Luis Pereyra, Tangogott und ihre große Liebe. Zusammen begeistern sie weltweit mit ihrer Show…“
 
„Tangogott" - eigentlich reicht bereits diese Vokabel, um solche journalistischen Bauchlandungen zu charakterisieren! 

Und dies ist natürlich, Insider wissen es, zudem eine dreiste Geschichtsklitterung: Ihren Durchbruch in Argentinien (inklusive der berühmten Briefmarken-Motive) schaffte sie mit dem gelernten Architekten Ritsaert („Ricardo“) Klapwijk, mit dem sie seit 1988 auftrat. Erst seit 2002 ist der argentinische Folklore-Tänzer Luis Pereyra ihr Bühnen- und Lebenspartner. Diese Zeit wurde auch im Internet (siehe z.B. ihren Wikipedia-Eintrag) weitestgehend getilgt. War sie das dem (offenbar ziemlich eifersüchtigen) „Tangogott“ schuldig?

Aber ich kenne das von etlichen Tango-Lehrkräften: Frühere Partnerschaften (in diesem Milieu sehr häufig) fallen gerne der biografischen Säuberung zum Opfer!   

Im weiteren Verlauf des Gesprächs schafft es Nicole Nau dann doch, einige Relativierungen unterzubringen. Erotik sei „zu wenig“, der Tango habe „sehr viele Facetten“, auch musikalisch, er repräsentiere „hundert Jahre argentinische Popmusik-Geschichte“ – was der Moderatorin immerhin das leise Geständnis entlockt: „Unsereins hat nur so Klischees im Kopf.“ 

Glücklicherweise hat man anschließend noch eine Straßenbefragung zum Thema Tango in Petto, welches die Schublade wieder eindeutig beschriftet: „Liebestanz, rassige Frauen, rote Kleider, rote Lippen, Latinos…“ Die vornehmste Aufgabe des Journalisten ist es ja, Klischees zu hinterfragen, welche er vorher erst erzeugt hat!

Der Live-Tanz der beiden (ab 15:35), wenigstens zu einer modernen Version von „Danzarin“ („toller Tänzer“): Na ja, ich möchte niemandem seinen persönlichen Stil ausreden – zumindest mir hat man ja schon „gekrümmtes Gehüpfe“ unterstellt… Geschmackssache. Aber die beiden sind Weltstars, da dürfte sich die Kritik der Tangoszene in Grenzen halten:

Im anschließenden Interview formuliert Nicole Nau einen bemerkenswerten Satz:   „Wenn ich tanze, bin ich nicht mehr deutsch. Die Wurzeln sind inzwischen in der argentinischen Erde.“ Na, dann den Klischee-Baum immer schön gießen…

Ein YouTube-Video ist der großen „Klapwijk-Entsorgungsaktion“ bislang entgangen. Ich gestehe: Bis gestern hatte ich dieses Paar noch nie tanzen sehen. Bevor auch dieser Rest aus dem Internet verschwindet:


Tja, für diesen Tanz hätte ich mir einen ganzen Block Briefmarken gekauft…
 
Edit 7.8.22: Per Zufall stieß ich auf eine weiteres Video der beiden, in dem sie sehr viel über sich und den Tango aussagen:
 


Ein anderes Fundstück hat mich höllisch amüsiert. Bereits 2010 hatte ich in meinem ersten Tangobuch den Plot einer „original argentinischen Tangoshow“ wie folgt beschrieben:

Standardhandlung: Sex and Crime (Armes Einwanderermädchen kommt im Hafenviertel an und landet nach einigen Tänzen im Bordell, wo es sich umgehend in mittellosen Einwandererjungen verliebt, welcher beim grandiosen Finale von Zuhälter erdolcht wird.) Zu allem Überfluss werden meist Choreografien gezeigt, die nicht nur einstudiert sind, sondern auch so wirken: Lasziv angetane, magersüchtige Tangueras vollführen als ‚springende Bügelbretter‘ akrobatische Bühnenfiguren mit schwarz gegelten jungen Burschen, deren stets gleiche Mimik am ehesten an eine akute Gallenkolik gemahnt. Und dieser Quatsch mit Soße füllt, zu horrenden Eintrittspreisen, immer noch große Theater – Hauptsache, das mitteleuropäische Publikum ist begeistert ob dieser original argentinischen Folkloredarbietung…"

Offenbar hat mir die Show „Tanguera“ 2013 glatt die Idee geklaut:


Na, immerhin waren Maite Kelly und Toni Schumacher begeistert! Ob der frühere Torhüter dann tatsächlich einen Tangokurs gemacht hat, wage ich zu bezweifeln…

Nein, wir müssen uns einfach damit abfinden, dass die Lügen über den Tango in großen Lettern verbreitet werden und die Wahrheiten gut versteckt sind, so in einem Interview von Pereyra und Nau (ebenfalls 2013) mit dem Kölner Stadt-Anzeiger. Darin fallen bemerkenswert ehrliche Sätze:

Nicole Nau: „Aber nun hängt ein ganz großes Geschäft dran: Tanzlehrer, Taxitänzer, die für Geld mit Touristen tanzen. Viele Tanzsalons gleichen Castingshows. Ich habe manchmal den Verdacht, dass die viel gerühmte Leidenschaft nicht in der Kultur steckt, sondern darin, dass man sich mit diesem Tanz produzieren – und ein Geschäft machen kann.“

Luis Pereyra: „Die Frage nach dem Argentinischen im Tango wird sehr häufig gestellt, und es gibt sehr viele dumme Antworten. Die Deutschen, die Belgier, die Japaner sind angeblich kalte Typen, die normalerweise den körperlichen Kontakt meiden, deshalb tanzen sie Tango. Und wie kriegen die ihre Kinder?“

Nicole Nau: „Für mich hat Tango überhaupt nichts mit Erotik zu tun, sondern mit Sinnlichkeit im Sinn von ‚sensual‘.“

Luis Pereyra: „Vielleicht ist es deshalb langweilig, mit mir über Tango zu reden. Ich spreche nur über den Tanz. Nicht über Erotik oder Sex. Das geht mir nicht in den Kopf oder ins Herz.“

Frage: „Deutsche Tangoschulen werben gern mit der Behauptung, bei ihnen könne man den original argentinischen Tango lernen.“

Pereyra: „Ich mag es nicht, wenn meine Kultur von anderen gemanagt wird. Ich komme, um meine Kultur zu teilen. Ich komme nicht, damit man mir erklärt, wie meine Kultur ist. Ich käme nicht auf die Idee, mich so gegenüber der deutschen Kultur zu verhalten. Aber die Deutschen tun so, als könnten sie mir meine Kultur erklären.“
(Quelle: https://www.ksta.de/5700802 ©2018)
 
(Nebenbei: Pereyra stammt aus der argentinischen Provinz Santiago del Estero. Dort tanzt man eher Folklore als Tango.)

Ja, liebe Tango-Promis, ein bisschen mehr Realismus würde den Tango aus der Klischee-Kiste holen! Aber vielleicht kommt es immer darauf an, wer welche Fragen stellt. In diesem Fall war es Thomas Kröter. Herzlichen Dank dafür!

Weitere Infos:
http://www.zeit.de/1995/26/Unaufhaltsam_im_Zweivierteltakt/seite-2

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