Karen Kaye: Der wirkliche Grund, warum wir eine Milonga besuchen
Diesen Text der von
mir verehrten Bloggerin wollte ich schon vor einiger Zeit übersetzen. Ich ließ
es dann aber, da mir der Artikel auf den ersten Blick doch recht
esoterisch-verschwurbelt erschien.
Zweifellos aber ein
interessantes Thema! Wohl daher wurde er im Internet immer wieder verlinkt und
kurz kommentiert, teilweise mit dem Bedauern, dass es keine deutsche
Übersetzung gebe.
Daher nun als
Leser-Service und mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin:
Karen Kaye: The real reason we go to the Milonga
Mein
früherer Lehrer hatte eine Schülerin, die erklärte, sich auf Milongas
frustriert zu fühlen. Sie sagte, sie bekomme nicht die Tänze, welche sie wolle –
oder dachte, dass sie diese verdiene. Es gebe nicht genug Tänzer ihres Levels.
Da seien zu viele Anfänger und Tänzer mit schlechten Angewohnheiten, welche sie
unattraktiv erscheinen ließen. Darüber hinaus wünsche sie sich mit einigen
Führenden anregendere Tänze.
So
fragte er sie: „Warum gehst du WIRKLICH auf eine Milonga?
Sie
stolperte sich durch vielfältige Erklärungen:
„Ich
gehe, um mit meinen Lieblingspartnern zu tanzen… und um gute Tänze zu
bekommen.“
„Ich
gehe, um meine Schritte zu üben und meine Fähigkeiten zu zeigen.”
„Ich
gehe, um Spaß zu haben… und Gesellschaft… und es ist auch eine gute Übung.“
Sie
besuchte Milongas mit dem Ziel, etwas zu
bekommen. Sie ging dorthin mit der Erwartung, eine gute Zeit zu verbringen
und zauberhafte Tandas, hochrangige Komplimente für ihre schöne Fußtechnik, ihr
elegantes Outfit und ihre fabelhaften „Comme il faut“-Schuhe zu kriegen. Sie
erwartete, den ganzen Abend begehrt zu sein, da sie glaubte, einiges Geschick
entwickelt zu haben.
Stattdessen
erlebte sie es, bei vielen Tandas herumzusitzen, sich frustriert zu fühlen, auf
einen Cabeceo zu warten, der sie aufmuntern würde.
Währenddessen
beobachten wir Männer, die frustriert den Raum absuchen und nach den Folgenden
Ausschau halten, welche sie begehren… nach denjenigen, die begeistert mit ihnen
tanzen, sie schätzen und mit denen es Spaß macht, zu tanzen (d.h. ihnen gütig
ihre Unfertigkeiten verzeihen). Vielleicht gucken sie auch nach jemandem, mit
dem sie einige neue Bewegungen probieren können – oder sie wollen einfach einen
schönen Abend erleben.
Aber
eine Milonga ist kein Platz, eine gute Zeit und großartige Tänze zu haben. Eine Milonga ist der Ort, um uns selbst zu
finden. Wir finden uns in anderen, oft in denen, die uns in gewisser Weise
ähneln:
Möglicherweise
tanzen wir mit einem Anfänger, der uns an unsere eigene Entwicklung, unsere
Kämpfe erinnert. Dieser Anfänger könnte uns Freundlichkeit und Mitgefühl
entlocken – den Stoff, aus dem warme und wachsende Gemeinschaften gemacht und
erhalten werden. Es mag uns daran erinnern, wie es sich anfühlt, ohne Ego zu
tanzen… daran, einfach glücklich zu sein in der Umarmung eines anderen zu einer
Musik, die neu und spannend ist.
In
Anfängern könnten wir einen Teil von uns selbst finden, zu dem wir längst den
Kontakt verloren haben. Wir könnten mit jemand Erfahrenerem tanzen und etwas in
ihm entdecken, das gerade bei uns zu aufzublühen beginnt. Vielleicht ahmen diese
die Verletzlichkeit oder den Ausdruck nach, nach welchen wir uns schmerzlich
sehnen. Vielleicht sehen wir unsere
eigene Zukunft in diesem Tanzpartner und werden inspiriert, uns intensiver
fortzuentwickeln.
Ein
Tänzer könnte bewirken, dass Teile unseres Selbst sich freispielen…
Ausdrucksarten und Fähigkeiten, von denen wir nicht wussten, dass es sie gibt
oder wir sie umsetzen könnten. Aber dieselbe Person könnte auch Unsicherheit
oder Ängstlichkeit auslösen. Die Entdeckung dieser Gefühle zeigt uns eine
Richtung, an der wir als Nächstes arbeiten sollten (d.h. ruhig zu bleiben,
Vertrauen aufzubauen oder schlicht den Tanz zu genießen).
Und
an einigen Abenden sitzen wir vielleicht allein, wartend und hoffend, uns
fragend, warum wir unsichtbar sind, da andere uns übersehen. Wir können uns
auch in diesen Momenten finden. Sich in
einem unerwünschten Zustand zu befinden ist ein Anstoß, etwas zu ändern.
Vielleicht
müssen wir mehr umhergehen… den Raum durchqueren und jeden grüßen, den wir dort
kennen, Gespräche mit einem neuen Menschen anfangen, vielleicht mit jemandem,
auf den wir uns normalerweise nicht einlassen würden. Man weiß nie, welchen
Teil des eigenen Selbst man in einem anderen findet. Wenn wir wirklich
authentisch sind, finden wir irgendeinen
eigenen Zug in jeder Person.
Manchmal
ist nichts einfacher, als ohne jede Erwartung offen für den Augenblick zu sein.
Hören wir auf, eine Milonga mit der Hoffnung zu besuchen, etwas ganz Spezielles
zu erhalten, verändern wir unsere ganze Wahrnehmung. Anstatt nach der „perfekten
Tanda“ zu suchen, probieren Sie in jedem Moment, mit jeder Person, in jedem
Tanz, sich selber zu finden.
Achten Sie darauf,
was jeder Mensch in Ihnen hervorruft: Freude, Inspiration, Unsicherheit,
Ängstlichkeit, Verspieltheit, Verletzlichkeit, Künstlerisches, Sinnlichkeit,
Furcht, Zögern, vielleicht sogar Neid!
Fordern Sie sich damit heraus, sich ganz Ihren
Gefühlen hinzugeben, und erlauben Sie sich, diese unverfälschten Emotionen in
Ihrem Tanz zu fühlen.
Erinnern
Sie sich noch an die Tänzerin, die sich wünschte, die Partner würden
aufregender mit ihr tanzen? Was sie WIRKLICH wollte, war vielleicht, mehr
Dynamik und Ausgelassenheit in ihrem
eigenen Tanz zu verspüren.
Anstatt
danach zu suchen, was wir von anderen „brauchen“, ist es vielleicht Zeit, das zu finden, was in uns fehlt – und
es aufzubauen.
Auf jeden Fall hat Karen Kaye damit recht, dass wir vom
Tango nichts erwarten dürfen. Und
wenn wir mit uns selber im Reinen
sind, sollte es anderen schwer fallen, uns aus dem Gleichgewicht zu bringen (physisch wie psychisch). Und natürlich
finden wir in jedem Menschen einen Zug – positiv oder negativ – den wir auch
von uns selber kennen. Das sollte ein Verständnis
erleichtern.
Wenn ich mir so
manche Auseinandersetzungen im Tango betrachte, ist deren Triebfeder oft die
pure Angst, der andere könnte einem
überlegen sein, einen schlecht aussehen lassen. Automatisch führt dies zu einem
übertriebenen Aufgeplustere und den allseits beliebten „Gockelkämpfen“. Die
kann man gelassener ertragen, wenn man dahinter diese „Angstbeißerei“ sieht.
Was ich auch betonen
möchte: Arroganz (oder jedenfalls
ein Verhalten, das so verstanden wird) ist im Tango tödlich. Sie ist für mich
der Hauptgrund, wieso zwar viele zu unserem Tanz kommen, aber nur wenige
bleiben. Wenn sich jeder Fortgeschrittene einmal genau an seine Gefühle
erinnern würde, als er auf dem Parkett noch sehr unsicher war, würde das mehr
Miteinander bewirken als hundert Verhaltensregeln.
Ich habe eine Stelle
in meinem Tangobuch gefunden, die ganz gut zu Karen Kayes Thema passt und mit dem ich stets meine Lesungen
beschließe:
Warum also geht man zum Tango?
„In Wahrheit gibt es viele
Gründe, Tango zu tanzen, und jeder davon ist grundsätzlich in Ordnung, ob es
sich dabei um Selbsttäuschung handelt oder nicht. Ich meine, dass zumeist das
dahinter steckt, was die Biologen ‚Sozialattraktion‘
nennen, also das Bestreben nach Erfolg im Kontakt mit anderen Menschen – und
dieses weite Spektrum reicht von Macht und Geld über Geselligkeit, Geborgenheit
sowie Freundschaft bis hin zu Erotik und Sexualität.
Doch da ist der Tango ziemlich zickig: Je mehr man sich
von ihm erwartet, desto weniger bekommt man. Wer also jenseits einer herrlichen
Musik und eines faszinierenden Tanzes noch anderes sucht, der wird meist
frustriert: Restaurierung des angeknacksten Selbstbewusstseins, Finden einer
neuen Geschlechterrolle, eine Machtstellung ausüben, zu den „wichtigen Leuten“
gehören, Geld verdienen, den Traumpartner für den Lebensabschnitt finden oder
gar die krisenhafte Ehe retten?
Da dreht einem der
eitle Tango fast immer eine Nase: Ätsch, nun gerade nicht! Wer aber das nimmt,
was er ziemlich automatisch bekommt, nämlich einen Tanz zu diesen unglaublichen
Klängen, wird (zumindest prinzipiell) nicht enttäuscht – und wenn die ‚Tangodiva‘
ihren guten Tag hat, kriegt man als Draufgabe vielleicht einen Hauch Sympathie
und Zärtlichkeit, ein wenig Nestwärme, ein bisschen Schwerelosigkeit und
Schweben… aber nur geschenkt, nicht
geliefert!
Daher
richtet sich mein Buch in erster Linie an die, welche nichts erwarten: die Tänzer. Na, heute Abend schon etwas
vor? Nein? Dann lasst uns doch tanzen gehen – vamos bailar!“
Lieber Gerhard,
AntwortenLöschenwarum man also zum Tango geht beantwortest Du in Deinem Buch auch nicht – höchstens, mit welchen Gedanken im Hinterkopf man NICHT zum Tango gehen sollte. Der Wahrheit entspricht es in meinen Augen trotzdem.
Ich finde den Text von Karen Kaye sehr gut und sehr treffend. Warum Du ihn als esoterisch angehaucht empfindest, kann ich nicht nachvollziehen. Bist halt ein Mann…
Bei mir findet nach so manchem Milonga-Besuch eine Art Selbst-Reflexion statt. Man meint, man kenne sich selbst doch am Besten und ist dann erstaunt über die eigenen Reaktionen und Gefühle während oder nach dem Abend.
Richtig miese Abende. Man sitzt nur herum und weiß nicht warum. Oder doch. Genug bessere Tänzerinnen da. Die Männer sind heute zu anspruchsvoll, haben zuviel Auswahl. Blöder Cabaceo-Mist.
Vielleicht hab ich aber einfach die Kurve nicht bekommen, hab Ärger in der Arbeit, Sorgen in der Familie oder einfach nur schlechte Laune mitgenommen und erwartet, dass sich dies durch schöne Tangos mit entsprechenden Partnern in Luft auflöst. Kann passieren, tut es aber ganz oft eben nicht.
Oder der Abend, an dem man sogar viel tanzt, oft aufgefordert wird. Man wird nicht nur einmal auch um die Folgetanda gebeten. Warum zögere ich jetzt. An einem anderen Abend hätte ich sofort zugesagt. Aber da ist ein bestimmtes Objekt der Begierde. Das kann einen ja nie auffordern, wenn man ständig tanzt. Aber es geht dauernd so weiter. Zum Schluss nimmt man allen Mut zusammen und fordert denjenigen welchen selber auf. Wunderschön. Man hat bekommen, was man wollte, auf Eigeninitiative. Aber warum hat nicht ER aufgefordert. Für’s eigene Ego hätte man erwartet, dass…
Tatsächlich waren an den meisten „schlechten“ Tango-Abenden die Erwartungen einfach zu hoch. Ohne Erwartungen zur Milonga zu gehen wäre am Erstrebenswertesten. Aber das schafft doch keine/r. Insgeheim hoffen wir darauf, mindestens eine wunderschöne Tanda zu haben, unseren derzeitigen Lieblings-Tanguero zu treffen, von einem der Großmeister aufgefordert zu werden und am Ende des Abends mit wohlig-schmerzenden Füßen nach Hause zu gehen.
Vielleicht ist dieses ständige „Sich-den-Spiegel-selbst-vorhalten“ auch ein schöner Effekt des Tango.
Wir wollen doch irgendwie dieses Auf und Ab. Das ist Leben. Und beim Tango spürt man das in meinen Augen mit am intensivsten.
Liebe Grüße
Sandra
Liebe Sandra,
Löschengratuliere – Du bist die Erste, die nach sieben Jahren drauf gekommen ist: Die Frage, warum man zum Tango geht, beantworte ich im Buch ziemlich vage.
„Esoterisch“ – na ja… Ich muss gestehen, dass ich nach dem genauen Übersetzen den Text besser finde als beim ersten Reinschauen. Dennoch: Für einen Alt-68-er wie mich ist es schon viel „ändere dich selbst, nicht die Verhältnisse“. Hallo? Die Mentalität, die heute im Tango um sich greift, würden wahrscheinlich sogar schlagende Burschenschaftler als etwas antiquiert bezeichnen…
Klar kenne ich die Situationen, die Du sehr treffend beschreibst. Für den Moment (!) kann man da nix verändern, sondern sollte einen Blick auf die eigene Seelenlage und deren vermutliche Ursachen werfen. Mittel- und langfristig darf und sollte man aber durchaus auch nach außen hin aktiv werden und für seine Vorstellungen vom Tango werben (und gegenläufige a weng veräppeln).
Tja, und die „Objekte der Begierde“… da hab ich natürlich das Glück, fast immer von zumindest einer Super-Tänzerin begleitet zu werden. Klar gibt es darüber hinaus die eine oder andere Frau, mit der man zusätzlich gerne tanzen würde. Aber ob heute oder in einem Jahr – das sehe ich sehr locker. Zumal das Problem mit dem Männermangel beim Tango immer mehr zurückgeht. Und so lasse ich den anwesenden Single-Herren gerne den Vortritt (und entdecke dann nicht selten, dass mein Vergnügen sich eh in Grenzen gehalten hätte).
Danke für Deine sehr interessanten Gedanken und liebe Grüße
Gerhard