Offener Brief an die Tangoveranstalter


Liebe Leute,

ich weiß: Offiziell wird dieses Blog von kaum jemand aus Eurer Zunft zur Kenntnis genommen. Die Ausnahmen sind so überschaubar, dass ich sie hier bequem aufzählen kann – als da wären Peter Ripota aus Freising, Annette aus Offenbach, Barbara Dintinger von der Milonga "Lagerhäusle", Peter und Alessandra Seitz aus Wien und Michael Kronthaler aus München. Der Rest ist Schweigen.

Inoffiziell bemerke ich allerdings ziemlich intensives Mitlesen. Die Reaktionen sind dann vielfältig: Private Mails an mich oder teilweise wörtliche Übernahme von Formulierungen aus meinen Beiträgen. Noch eindrucksvoller sind die negativen Spuren: Links auf besonders peinliche Veröffentlichungen werden häufig gelöscht (oder jedenfalls für den öffentlichen Zugriff gesperrt), besonders dämliche Sprüche und Videos sind plötzlich nicht mehr auffindbar. Behaupte ich, in einer Region sei der moderne Tango ausgestorben, lässt man doch alle drei Monate einen Alibi-DJ auflegen oder schmuggelt selber ins ÖdO-Programm ein paar Aufnahmen, die ein bisschen jünger als 60 Jahre sind. Selbst auf der FB-Seite „Tango München“ ist man inzwischen schlauer und löscht kritische Beiträge nicht mehr, sondern bestraft sie mit Nichtachtung.

Freilich: Eine direkte, öffentliche Diskussion mit Menschen wie mir scheut Ihr wie der Deibel das Weihwasser. Der Grund ist natürlich klar: Würde man mit mir in einen Dialog eintreten, bekäme man erhebliche Argumentationsprobleme. Und, noch schlimmer: Man müsste den eigenen Standpunkt halbwegs verdeutlichen. Die Folge: Man könnte Besucher verlieren, die nicht dieser Ansicht sind. Also beschränkt Ihr Euch auf nette, unverfängliche Werbung: Tanzschuhverkauf, Chacarera-Workshop, Dirndlmilonga (muss ja ein bisschen zusammenpassen).

Noch vor einigen Jahren war es große Mode, auf Veranstalter-Webseiten längere Listen zu Ge- und Verboten („Códigos de la Milonga“) zu posten. Dies hat inzwischen stark abgenommen – ob als Reaktion auf kritische Stimmen wie die meine oder in der Erkenntnis, dass es die Menschen selbst im heutigen Tango nicht unbedingt schätzen, in ihrer Freizeit mit Reglements belästigt zu werden.
Die Ideologie muss man heute eher zwischen den Zeilen suchen, wenn es beispielsweise heißt: „Wir freuen uns auf Tangueras und Tangueros aus Nah und Fern, die das Tanzen in einer rücksichtsvollen Ronda mögen.“
Schön ist auch, wenn man das Reglement (auf einer deutschen Milonga!) vorsichtshalber nur noch in Englisch verkündet:
„- establishing eye contact with the leader in the proximity before entering the ronda
- DANCING CAREFULLY IN THE SPACE RESPECTING OTHER COUPLES.
- invitation by mirada and cabeceo
- dancing in the ronda”

Dennoch, liebe Organisatoren, wären mir konkretere Angaben schon lieber: Womit muss ich wirklich rechnen (selbst wenn ich kein Englisch könnte)? Sind das alles nur freundliche, fromme Wünsche, oder werde ich im Übertretungsfall von Aufpassern zurechtgewiesen, wie mir dies Leser immer wieder berichten? Ich gestehe, daher auf so manchen Milongabesuch verzichtet zu haben: Ich möchte solche Situationen sowohl mir als auch Pappnasen ersparen, die noch mit Stehblues im Partykeller unterwegs waren, als ich schon Turniere tanzte…

Nein, und das alles regelt sich doch eh von selber, gell? Frauen, die ein bisschen origineller tanzen oder nicht den totalen Gehorsam liefern, werden halt konsequent ignoriert – und dann trollen sich ebenfalls die sie eventuell begleitenden Männer, spätestens nach dem einen oder anderen Korb. Oder, neueste Geschichte einer Tangokollegin: Nach nur einem Tanz wurde sie vom Männe mit den Worten weggestoßen: „Also, so geht das nicht!“ Ende der Tanda… Wie heißt das so schön? „Traditionell! und rücksichtsvoll“.

Schön ist auch die Mär, dass bei „traditionellen Milongas“ die Musik im Mittelpunkt stehe. Noch vor Jahren hat man daher aus dieser Ecke die Veranstalter ultimativ ersucht, gefälligst die von ihnen gebotene Musik genauestens zu beschreiben. Und wenn das Bekenntnis nicht „100 Prozent EdO“ lautete, erfolgte umgehend der Bannfluch. Auch das hat inzwischen deutlich nachgelassen. Ich habe gestern einmal die Ankündigungen für die laufende Woche auf www.tangobayern.de durchgezählt: Von den insgesamt 46 Milongas machen 22 (48 Prozent) überhaupt keine Angaben zur Art der Beschallung. Aber auch in den restlichen Fällen bleibt man oft erstaunlich vage: „traditionelle Milonga“ oder „Musik in Tandas und Cortinas“ sind häufig die einzigen Informationen. Peinlich genau erscheinen da schon gelegentliche Aussagen, der DJ spiele „seine schönsten Stücke“. Ob das auch meine sind? Aus der Ferne leider nicht zu beurteilen…

Die exaktesten Angaben kommen (wer hätte es gedacht?) von den Veranstaltern, die gemischte oder sogar moderne Musik anbieten – siehe „Tango de Neostalgia“ in Freising oder Alfredo Foulkes in Gröbenzell. Und Jochen Lüders vom „Lachdach Pling“ (endlich mal nix Spanisches!) möchte uns zwar von „Piazzolla & Co“ verschonen, veröffentlicht jedoch fallweise sogar Muster-Tandas. Immerhin!

Solche konkreten Angaben habe ich bei „traditionellen Milongas“ im Internet noch nie gefunden. Ganze Playlists sind noch extremere Mangelware – es gibt sie nur bei Annette („Tango Diavolo“) und von unserer „Wohnzimmer-Milonga“. Und ich kenne einen einzigen DJ, welcher sein Programm in Kopien auf den Tischen der Veranstaltungen verteilt: Christoph Bos aus Ingolstadt.

Warum sind traditionelle DJs hier derartig zurückhaltend? Ganz einfach: Die Setlisten könnten zeigen, dass in vielen Fällen landauf, landab die gleichen Stücke, ja sogar in der nämlichen Reihenfolge, gespielt werden! „Des Kaisers neue Kleider“ erwiesen sich vielfach als olle Klamotten, welche nicht einmal die Caritas kostenfrei abholen würde. Also lässt man es dann doch lieber…

Liebe Veranstalter, ich weiß natürlich auch, was Ihr lieber verschweigt: Das Gros der heutigen Milongabesucher hat von Tangomusik keine Ahnung. Deren einziger Schimmer besteht darin: Wenn es gleichmäßig und schrammelig klingt, ist es Tango – Musik mit höheren Ansprüchen ist keiner, oder jedenfalls untanzbar. Und wer tagsüber mit permanent dudelndem Küchenradio auf die uniformen Hits der Schlager- und Popmusik konditioniert wurde, der möchte auch am Abend Altbekanntes wie „Pobre flor“ von de Angelis hören – gerne auch zum tausendsten Mal. Und Vertreter des konservativen Tango können ja ziemlich ekelhaft werden, wenn man von ihren Hitlisten abweicht. Na eben, muss doch nicht sein!

Da wird dann sogar, wie ich jüngst erleben durfte, ein DJ heftig beklatscht, der uns den ganzen Abend mit beschädigten Musikdateien verwöhnte (so zirka ein Aussetzer alle zehn Sekunden). Irgendeine Panik stellte sich weder bei ihm noch im Publikum ein. Die Beschallung ist auf vielen Milongas eher ein Alibi, bestenfalls ein Anlass zum Tanzen. Ein integrativer Bestandteil der Bewegung auf dem Parkett? Ach geh…

Ich kann Euch somit, liebe Veranstalter, gar keinen Vorwurf machen: Noch funktioniert das Konzept „Musik als Begleitung ritualisierter Minimalaktionen“ ganz gut – und Kunst hat ja nichts mit Qualität, sondern mit Quantität zu tun, das wird uns jeder Schlagerfuzzi bestätigen. Solange also die Gästezahl stimmt, muss man über ästhetische Kriterien nicht nachdenken – selbst, wenn man es könnte.

Da ich im Gegensatz zu Euch mit Milongabesuchern rede, vernehme ich allerdings schon vermehrt Klagen über langweilige und stets gleichartige Musik. Und wie man von der Kernenergie weiß, reicht manchmal ein einziger Tsunami – und plötzlich ist das Ganze nicht mehr vermittelbar. Das Volk ist halt unberechenbar…

Aber ich bin sicher, Ihr werdet dann ganz schnell neue (oder sogar alte) DJs finden, welche treuherzig bekennen, sie hätten nun (ganz von sich aus) die Qualität moderner Tangomusik erkannt und ihr Herz (oder wie immer sie diesen Muskel nennen) daran verloren. Und diese ganzen Reglements seien ja sowas von antiquiert und überholt…

Ich weiß: Das alles kriegt Ihr ganz von allein hin – souverän und ohne jeden Opportunismus. So erwarte ich mir prominenterseits auch keinerlei Antworten auf diesen Artikel. Schließlich wusste schon Bertolt Brecht:
                                                             
„Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“

Daher verabschiede ich mich mit dem Wahlspruch des satirischen Kollegen aus meiner Heimatstadt, Günter Grünwald:

„Bleibt’s, wie Ihr seid, was anderes bleibt Euch eh nicht übrig!“

Euer Gerhard Riedl

P.S. Eine wunderbare Vorstellung, dass jetzt viele nachschauen, ob der Kollege schon kommentiert hat...

Kommentare

  1. Hihi, naja...

    Wenn wir Deutschen wirklich so viel von Novitäten hielten, würden wir nicht seit gefühlten 350 Jahren jedesmal zu Silvester 'Dinner for One' schauen.

    Aber dieses Be-/Ver-Harrensmoment betrifft Gottseidank nicht nur uns Deutsche. Seit Anfang der fünfziger Jahre wird ausgehend von Buenos Aires 'La Cumparsita' auf so gut wie allen Milongas als letztes Lied gespielt (Quelle: http://tangopills.blogspot.de/2017/04/por-que-la-cumparsita-es-el-ultimo.html ). Auch nicht gerade ein Zeichen von Weiterentwicklung, oder?

    Aber wie wäre denn eine (Tango-)Welt, die sich ständig verändert? Die keiner von uns von einem auf den nächsten Tag mehr wiedererkennen würde? ...

    Nach meiner Überzeugung ist die Sentenz 'Tradition ist das Weitergeben der Glut, nicht das Aufbewahren der Asche' einfach nur ein frommer Wunsch. Wir alle fühlen uns in der Asche eigentlich ganz wohl.

    Liebe Grüße aus Freiburg
    Joachim Gutsche

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Also, wir müssen den Tango nun wahrhaftig nicht jeden Tag neu erfinden!
      Worum es mir geht, ist lediglich, auch die Musikentwicklung der letzten gut 60 Jahre angemessen einzubeziehen.

      Mal ein Vergleich: In welcher „normalen“ Tanzschule werden ausschließlich Ufa-Schlager aus den 30-er und 40-er Jahren und bestenfalls noch Fred Bertelmann gespielt? Die gehen sowas von mit der Zeit, dass ich bei Wiener Walzern auf Popmusik schon etwas ins Zweifeln gerate. Der Tango argentino bildet da eine extreme Ausnahme!

      Ich kenne viele Milongas (nicht nur die in Pörnbach), wo am Schluss „La Cumparsita“ nicht erklingt – und andere, wo ich schon so früh gehe, dass ich es nicht hören muss. Übrigens gibt es tolle moderne Einspielungen des Titels – aber: siehe oben…

      Danke für den Hinweis auf „Dinner for one“ – aus dem Jahr 1963 und damit schon „post-EdO“: Einmal im Jahr an Silvester ist es schön – nur „traditionelle Milonga“ heißt: Freddie Frinton jeden Tag!

      Wer sich mit der Asche abfindet, wird mit der Zeit langsam gräulich. Mit mir ist das nicht zu machen – so alt kann ich gar nicht werden!

      Herzlichen Dank für den Beitrag!
      Ihr Gerhard Riedl

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.