Larmoyanter „Feminismus“?



„Die wirklich bürgerlichen Frauen, die Frauen des Mittelstands, aber auch die des denkenden Arbeiters stehen dem Frauenstimmrecht ablehnend gegenüber, da sie sich doch einen großen Teil ihrer Weiblichkeit erhalten haben. Meistens sind es unbeschäftigte Frauen, die sich mit der Frauenstimmrechtstrottelei befassen, Frauen, die ihren Beruf als Frauen verfehlt haben oder ihn nicht kennen wollen - und Jüdinnen. Sie finden die Unterstützung aller alten Weiber des männlichen Geschlechts und aller ‚Feministen‘, das heißt solcher Männer, die keine Männer sind.“
Alldeutsches Tageblatt 1907, zitiert nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Antifeminismus

Mein Artikel zum „Herrklären“ hat (erwarteterweise) nicht bei allen männlichen Lesern Zuspruch gefunden.


So schrieb ein Kommentator unter anderem:
„Warum fordern Frauen nicht selber auf?! Warum ist die Opferrolle weiblich, und warum sollte sie hingenommen werden? Das schwache' Geschlecht kann sich nämlich durchaus wehren! Wenn es denn will. Solch larmoyanter Feminismus' ist in meinen Augen Emanzipationsverweigerung! Im 21. Jahrhundert.
(…)
Der aktiv auffordernde Mann und die passiv wartende Frau: Das ist für mich 19. Jahrhundert! Und Frauen, die so etwas goutieren und tradieren, betreiben halt Emanzipationsverweigerung. Ok, geschenkt bekommen sie nichts. Aber sie haben die Wahl: Jammern (und sitzen) oder machen (und tanzen)!

Nun weiß ja unser aller Wikipedia:
„Larmoyanz (von französisch larme ‚Träne‘) ist ein bildungssprachliches und (heute) abschätziges Lehnwort für Rührseligkeit und sentimentale Überempfindlichkeit bis zur Wehleidigkeit, Weinerlichkeit und zu ausgeprägtem Selbstmitleid.“


Die typische Tangofrau also eine Heulsuse? Nun habe ich allerdings auch von Tangueros im Internet ellenlange Klagelitaneien gehört, insbesondere über die hohe Verletzungsgefahr durch wilde Tänzer oder die Zumutung, mit irgendeiner dahergelaufenen Weibsperson tanzen zu müssen (besonders unerträglich offenbar, wenn man zudem Tangolehrer ist).


Und zu allem Überfluss nicht nur greinend, sondern auch noch Feministin? Nun, Frauen wie die Französin Hubertine Auclert, welche 1882 diesen Begriff erstmals als Selbstbeschreibung verwendete, durften sich Tränen kaum erlauben, sondern wurden von der XY-Fraktion wohl eher als „Suffragetten“ oder auch „Mannweiber“ tituliert.


Sehe ich mich selber als Feministen? Nicht, dass ich Angst hätte, dann nicht als Mann zu gelten - aber mir ist der Begriff zu speziell. In einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft dürfen Rechte weder nach Geschlecht noch nach Rasse, Herkunft, Religion oder sexueller Orientierung aufgeteilt werden. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, so möchte man meinen.

Zu diesen Grundrechten gehört es natürlich auch, „Emanzipation zu verweigern“. Tun das die Frauen im Tango?


Manchmal, das gebe ich zu, könnte man es glauben. Immer wieder erhalte ich Zuschriften weiblicher Leser, die des Jammers voll über Tangoprobleme sind: Weder fänden sie anständige Lehrer noch Tanzpartner. Stattdessen sitze man auf den Milongas herum oder werde bestenfalls von inkompetenten Hanseln im Quälgriff übers Parkett gezogen.



Gibt man den Damen dann Tipps zur Verbesserung ihrer Situation, so wird oft vernehmlich der Rückwärtsgang eingeschaltet: Die empfohlene Milonga sei ja so weit entfernt und daher mit hohen Fahrtkosten behaftet, zudem habe man keinen Tanzpartner oder – besonders originell – die zum Privatunterricht empfohlene Tangolehrerin sei „zu klein“…



Einen solchen Fall habe ich bereits einmal beschrieben:




Wenn einem dergestalt das Silbertablett samt Angeboten aus der Hand geschlagen wird, könnte man schon den Eindruck eines Lesers teilen, man müsse „die Damen zum Jagen tragen. Hauptsache mal ordentlich gejammert, das reicht dann schon…



Eines gebe ich daher gerne zu: Emanzipation und Larmoyanz passen zusammen wie traditionelle Playlists und kreatives Tanzen.



Auf der anderen Seite sind die männlichen Zumutungen (nicht nur beim Tango) schon heftig: Sie reichen von nörgelnden Ehemännern, welche den Gattinnen die Freuden alleiniger Milongabesuche vermiesen, bis hin zu Amateurpädagogen auf dem Parkett, welchen im 21. Jahrhundert noch Sätze entweichen wie: „Das habe ich aber nicht geführt.“



Der Gipfel männlicher Scheinheiligkeit besteht in der konservativen Doktrin, der Cabeceo schütze die werten Damen vor männlicher Zudringlichkeit. Nach meiner Erfahrung ist das Gegenteil richtig: Verdammt man die Tänzerinnen dazu, brav auf ihrem Stühlchen abzuwarten, bis irgendein Kerl sie anstiert, schützt das die Männer vor Emanzen, die einfach zu ihnen hin marschieren und frech nach einem Tanz fragen.



Die Geschichten, welche ich schon über männliche Reaktionen auf solch unverschämtes Tun gehört habe, passen weder in dieses noch ins vergangene Jahrhundert: „Du bist wohl nicht von hier? Bei uns ist es absolut unüblich, dass Frauen auffordern.“ Dass solche Herren nicht noch mit der Pferdekutsche zur Milonga fahren, verwundert wirklich!


Man macht es sich als Mann zu leicht, von den Tänzerinnen zu verlangen, sie sollten halt gefälligst selber auffordern. Vor 15 und mehr Jahren hätte das noch funktioniert, da es üblicher war. Inzwischen jedoch muss eine Frau hierzu ein Maximum an Zivilcourage aufbieten, da sie sich in einer absoluten Minderheitenposition befindet: Neben Körben zöge sie sich wohl auch noch die Missgunst ihrer Geschlechtsgenossinnen zu, da sie sich ja „unlauterer Mittel“ bedient. Hätten die Herren den Schneid dazu, wenn die Verhältnisse umgekehrt wären?

In „normalen“ Tanzschulen wird die Idee vom gleichberechtigten Auffordern inzwischen mehrheitlich propagiert. Aber die spielen ja auch Tanzmusik von nach 1955…

Auch Frauen haben die Wahl, und zwar wie im Wahlrecht: aktiv und passiv. Übrigens wurde dieser Anspruch auf politische Teilhabe erstmals 1838 in der britischen Kronkolonie der Pitcairn-Inseln umgesetzt. Deutschland und Österreich folgten 1918, Frankreich 1944, die Schweiz 1971 und Kuwait 2005. Vergeblich auf ein allgemeines Frauenwahlrecht wartet man derzeit noch in Saudi-Arabien und im Tango.

Vielleicht hilft da ein Zitat der genannten Frauenrechtlerin Hubertine Auclert:

„Meine Damen, wir müssen uns daran erinnern, dass die Waffe des Wahlrechts für uns wie für den Mann das einzige Mittel ist, die Reformen zu erreichen, die wir begehren. Solange wir vom staatsbürgerlichen Leben ausgeschlossen sind, werden die Männer sich eher ihren eigenen Interessen widmen als den unseren.“  

Immerhin schon sechzigjährig warf die Dame übrigens 1908 bei den Pariser Kommunalwahlen eine Wahlurne um und trampelte über die Stimmzettel! Sowas tut man als Frau doch nicht…

Bei uns heute müssen die Geschlechter-Beziehungen jedoch offenbar noch so frauklärt werden:


Kommentare

  1. Robert Wachinger20. August 2017 um 19:38

    Hi Gerhard,
    Willst du dir das Fass mit dem "Feminismus" wirklich auch noch antun?
    Heutzutage ist doch Feminismus nur noch eine überlebte, männerfeindliche Ideologie (wo man sich zB mit so weltbewegenden Themen wie zB "Manspreading" befasst, oder damit, dass sich die Männer ja nur deswegen über die bekannte Silvesternacht aufregen, weil sie "ihre" Frauen lieber selber vergewaltigen wollen ...).
    Bleib lieber bei deinem "Krieg" gegen die "Tradis" und mach dir nicht noch ne zweite Front auf ... ;-)
    Ciao, Robert

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    1. Lieber Robert,

      mit Begriffen wie „Front“ oder „Krieg“ kann ich im Zusammenhang mit dem Schreiben wenig anfangen.

      Und wenn man sich mit meinen Veröffentlichungen umfassend beschäftigt, fällt auf, dass ich über weit mehr Themen geschrieben habe als den Traditionalismus im Tango.

      Meine immerhin ganz zufriedenstellenden Erfolge als Autor verdanke ich übrigens vor allem der Tatsache, dass ich mich so gut wie nie an Vorschläge halte, worüber ich schreiben bzw. welche Themen ich meiden soll.

      Schöne Grüße
      Gerhard

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    2. Robert Wachinger21. August 2017 um 19:33

      Meine Frage war ja auch, ob du dir das wirklich selber antun willst (immerhin hättest du noch so einige Studien vor dir, um nen guten Überblick über alle Abgründe des Themas zu erhalten).
      Ciao, Robert

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  2. "Und weil der Prolet ein Prolet ist,
    drum wird ihn kein anderer befrein.
    Es kann die Befreiung der Arbeiter
    nur das Werk der Arbeiter sein."
    Brecht

    Ersetze Prolet durch Frau und Arbeiter durch Tanguera. Brechts Kernaussage bleibt gültig. Sie ist geschlechtsneutral.

    Was wäre die Schlussfolgerung, wenn das weibliche Bitten zum Tanz auf anderen Parketten (und zu früheren Zeiten) "üblicher" ist/war als heuer im Tango? Ist das willig-unwillige weibliche Warten auf die männliche Aufforderung zum Tanz dann vielleicht nur das tangospezifische Reziprok zum männlichen Machismo: Weiblicher reziproker Machismus?

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  3. Ist der Verzicht auf die Revolution dann "reziproker proletarischer Kapitalismus"? Nette Idee!

    Klar: Rechte, auf die man verzichtet, sterben irgendwann. Also müssen sich primär die Frauen darum kümmern. Ich bin keine Frau - so wie Brecht kein Proletarier war (sein Vater arbeitete als Fabrikdirektor). Aber wir beide schreiben über solche Fragen.

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  4. bei dieser art betrachtung wird fast immer unterschlagen, dass es die frau ist, die es einem mann ermöglicht sie per blickkontakt aufzufordern. denn nur wen sie anschaut kann sie auffordern.

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    1. Ja, klar: Das sind die Optionen, welche im 21. Jahrhundert der Tango den Frauen bietet - den Blick senken oder gucken (und nur das tanzen, was der Mann führt).

      Wahrlich, Saudi-Arabien liegt näher, als man meint! Dass man noch nicht auf den Código der Vollverschleierung gekommen ist, verwundert wirklich...

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    2. tut mir leid, aber du hast offensichtlich keinen blanken schimmer von der macht der frau beim auffordern mit augenkontakt.

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    3. Ich glaube nicht, dass Dir das leid tut.

      Aber nach über 50 Jahren Paartanz trübt sich eventuell der Schimmer, je nach Situation - manchmal auch durch Lachtränen.

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    4. @ Andreas Lange:
      Wenn Frauen wirklich "die Macht" haben, warum dürfen sie dann nicht sprechen? Und warum erinnert mich deine Aussage so an Jedi-Sprech, Laser- und Traktorstrahl?
      Live long and prosper! Möge die Macht (der Saft?) mit dir sein.
      Manuela

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  5. Liebe Leute
    Wenn ich Euch so zulese komme ich zu dem Schluß, daß ich, wäre ich eine Frau, vieles tun würde. Aber zum Tango mit einer Überzahl von "diesen Männern" (nähere Beschreibung unterbleibt aus rechtlichen Gründen, in Österreich sagt Mann, sonst würde ich ins Häfen gehen) ginge ich nicht.

    Grüße aus dem Salzkammergut
    Peter Baumgartner

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    1. Lieber Peter,

      schön, mal wieder etwas von Dir zu hören!

      Hast recht, würde ich als Frau schon gar nicht - und als Mann nur in Ausnahmefällen. Aber es gibt schon noch Veranstaltungen, die anders laufen, allerdings eher in der Provinz und fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

      Herzliche Grüße
      Gerhard

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