Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählt… 13
Frage: Sie bewegen sich
so unnatürlich – sind Sie auch Tänzer?
(Gerhard Riedl: „Der
noch größere Milonga-Führer“)
Zunächst
einmal ist es ja schön, mit Partnerinnen zu tanzen, welche „alles richtig und toll“ machen wollen – jedenfalls besser als mit
solchen, die sich mit einer solchen Fadheit bewegen, als sei der in vielen
Tangotexten beschworene Tod bereits eingetreten!
Das fühlt
sich dann beispielsweise so an: Ich versuche, mit Ersteren sanft einen Di
Sarli-Streicherteppich zu überqueren und rege dabei einige sanfte
Rückwärtsochos an – und was passiert? Sie springt zum Behufe des Vollführens
einer Acht hektisch von einer Seite auf die andere, und in dem Moment, wo die
Drehung käme, geht sie heftig nach oben. Da somit ihre Bewegungsenergie schon fast aufgebraucht ist, verfällt sie in Fast-Totenstarre,
um sich mit letzter Kraft sowie einem heftigen Ruck herumzureißen und wieder abwärts auf
die andere Seite zu donnern.
Das erzeugt
bei mir das Gefühl, ich würde bei einem Schäferstündchen plötzlich nach der
Steuererklärung gefragt…
Oder – aus Gründen
der Gleichberechtigung – ein weiterer Fall! Beim Gleiten auf dem Di
Sarli-Velours tut sich schlagartig ein Hindernis auf: Das Paar vor uns kommt,
von der Musik völlig unbeeindruckt, zum Stillstand, da der Herr zur Einübung
einer Art Judo-Beinschere aus dem letzten Workshop nunmehr beschließt, an
seiner Dame so lange herumzuschrauben, bis er sie in der vorschriftsmäßigen
Position für sein Figuren-Kamasutra
hat. Meine Spiegelneurone signalisieren heftigen Schmerz…
In
meinem Tangobuch habe ich das Problem wie folgt beschrieben:
Biophysik des Tango
In den modernen Naturwissenschaften
erscheint die Frage immer lohnender, welcher physikalischer Prinzipien sich Lebewesen schon seit vielen
Jahrmillionen höchst erfolgreich bedienen und wie man sich dies in der Technik
zu Nutze machen kann („Bionik“). Gerade wenn man die epileptischen Zuckungen
„begnadeter“ Showtänzer vor Augen hat, sollte man sich daran erinnern, dass
Bewegungen ästhetisch „schön“ erscheinen, wenn sie natürlich sind, das heißt zu unseren biologischen Strukturen passen. Impulse, die schonungs- und
ersatzlos vernichtet werden, sind ebenso unsinnig wie heftigere Bewegungen,
welche, mit zu wenig Energie gespeist, irgendwann zusammenbrechen. Gestalten
Sie Ihre Aktionen daher stets so, dass sie der Stabilität Ihrer Achse, dem
Vorhandensein und der Art Ihrer Gelenke, dem Dehnungsvermögen der Muskeln bzw.
der Festigkeit von Sehnen und Bändern entsprechen!
Merke: Wenn eine Bewegung weh tut, ist
sie meist unnatürlich!
Ein gutes Beispiel hierfür ist die
Klage vieler Tänzer/innen über schmerzende
Füße: Diese Beschwerden können natürlich von unpassenden Schuhen kommen
(oder Fußbekleidungs-Attrappen mit einigen Riemchen und viel heißer Luft), als
Ursache viel häufiger ist jedoch nach meinem Eindruck das von mir oft
kritisierte Landen auf zu angespannten Beinen. Klar, dass diese harten
Bodenkontakte die Füße überlasten!
Werbung: Sollte das Übel bereits aufgetreten
sein, gibt es durchaus Abhilfe:
Nun verbindet uns Menschen aber nicht
nur ein gemeinsamer Bauplan – jedes Individuum hat von seiner Genetik, jedoch
auch von jahrzehntelangen Gewohnheiten her, ein ganz spezielles Bewegungsmuster. (Wenn Sie jemand sehr gut kennen,
identifizieren Sie ihn schon von Weitem oder als Silhouette an seinem Gang!)
Schon daher ist es unsinnig, „Tanzschritte“ allzu genau festzulegen, da es sehr
stark von der Aktionsweise des Einzelnen abhängt, ob sie harmonisch zum
Gesamtbild passen oder nicht. Simpel und frech formuliert: Man kann die O-Beine
eines Menschen nicht durch Training beseitigen
– also lieber die „Figuren“ hieran anpassen! Daher wird ein Tänzer im
Laufe der Zeit stets einen individuellen
Stil entwickeln (falls er sich nicht in geistige Untermiete bei
irgendwelchen „Gurus“ begibt…).
Bezeichnenderweise gibt es viel mehr Tänze als tänzerische Manöver
– gerade dann, wenn sich die körperliche Darstellung der Musik durch Laien
entwickelte und nicht nach den theoretischen Vorstellungen von „Experten“: Der
Tango ist hierfür ein hervorragendes Beispiel! Entsteht eine Bewegungsweise aus der Praxis heraus, orientiert sie
sich viel mehr am „Machbaren“, d.h. biologisch Funktionalen. Ich habe mich vor
allem deshalb Lichtjahre von „Kursen“ und vom „Schritte lernen“ entfernt, da
ich merkte, dass schöne und leicht auszuführende Aktionen von selber entstehen,
wenn man die Sensibilität schult und sie nicht immer wieder durch „zentrale
Anweisungen“ unserer grauen Großhirnzellen überlagert.
Stellen Sie sich hierzu eine simple
Situation vor: Sie haben als Mann gerade eine größere Bewegung angestoßen und
Ihre Partnerin bewegt ihren Körper momentan auf dem Standbein, während das
andere noch durch die Luft schwebt. Beim konventionellen Tanzunterricht würden
Sie nun darauf achten, wo der Fuß der Frau landen soll. Hierzu müssen Sie das Bewusstsein
einschalten, damit es das Ziel mit den Anweisungen des Tangolehrers in
Einklang bringt – dies macht oft Mühe und führt zu unharmonischen Situationen.
Bleiben Sie dagegen mit dem Gespür „auf Empfang“, so können Sie erfühlen, wo
das Spielbein der Tanguera landen will
– dorthin geht es nämlich ganz leicht und fast von selber. (Voraussetzung ist
allerdings, dass man lange genug in der Luft bleibt, denn da spielt sich das
eigentliche Tanzen ab!) Folgen Sie dieser Bewegung bis zum Ende: Dies ist
wahres „Führen“…
Diese
Ratschläge zielen keinesfalls auf lasches, langweiliges Umhergeschlurfe – Tanzen
soll stets ästhetisch und elegant wirken! Richtschnur ist für mich jedoch stets, ob
sich meine Partnerin dabei wohlfühlt
(und ich natürlich auch).
Keine „Figur“ dieser Welt ist es wert, Stress, Unwohlsein oder gar Schmerzen zu erzeugen.
Sobald ich solche Signale empfange, gibt es nur eine Antwort: Herunterfahren, den Ball wieder flacher halten!
Keine „Figur“ dieser Welt ist es wert, Stress, Unwohlsein oder gar Schmerzen zu erzeugen.
Sobald ich solche Signale empfange, gibt es nur eine Antwort: Herunterfahren, den Ball wieder flacher halten!
Fazit: Tanzen Sie, „was geht“ – und nicht,
„wie es sein soll“!
Selbst
Showtanzpaaren gelingt es öfters, Artistik und Biophysik in Einklang zu
bringen:
Frank
Veloz (1902–1981) und
Yolanda Casazza (1911–1995) waren in den 30-er und 40-er Jahren eines
der bestbezahlten amerikanischen Showtanzpaare. Das Tanzen hatten sie sich
selber beigebracht.
P.S. Den
Original-Artikel finden Sie im „Milonga-Führer“ S. 164-166 – den haben Sie
doch, oder? Wenn nicht:
www.robinson-riedl.de/milonga-fuehrer.htm
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