Auf die Eier gehen



„Ich hätt’ da gern mal ein Problem.“
(Bodo Bach, Kabarettist)

Meine kleine Geschichte zur Geschwätzigkeit auf den Milongas hat großes Interesse gefunden und zur Diskussion angeregt. Darüber freue ich mich sehr.
Dies ermutigt mich, das Thema etwas umfassender zu erörtern. Mich jedenfalls nerven solche verbalen Ausreißer oft mehr als langweilige Tangomusik oder schlechte Tänze.

Eine Leserin stellte eine interessante Frage dazu: Ist es nicht hartherzig, sich Situationen zu entziehen, in denen ein Gast offenbar das dringende Bedürfnis hat, sich Probleme von der Seele zu reden?

Wenn mir der Betreffende wirklich in Schwierigkeiten scheint und ich den Eindruck habe, ihm helfen zu können (und auch zu wollen), hindert mich ja nichts, ihm eine Kontaktmöglichkeit außerhalb von Tangoveranstaltungen anzubieten.

Ich fürchte nur, er wird sie in den meisten Fällen nicht ergreifen. Häufig läuft man einem Menschen eher zufällig über den Weg, und er benützt halt spontan die Gelegenheit, etwas „loszuwerden“. Das Suchen wirklichen Rats oder gar dessen Befolgung ist eher die Ausnahme.

Das ist ja auch in Ordnung, wenn es sich um Small Talk oder den üblichen Tangotratsch handelt (der mir vielleicht die Idee zu einem neuen Blogtext liefert…). Ufert das Ganze aus, wird es schwierig: Für mich ist eine Milonga weder eine Arztpraxis noch eine Anwaltskanzlei – und schon gar kein Coaching- oder Lebenshilfe-Seminar.

Würde man den Umsitzenden von seinen tiefgreifenden Schwierigkeiten auch auf einem Ball, einer Geburtstagsfeier oder einem Hochzeitstag berichten? Na ja, in der Regel sicher nicht – es gibt jedoch eine Ausnahme, mit der ich Zeit meines Lebens hadere: Verwandtschaft. Die bringt es locker fertig, bei einem Fünf-Gänge-Menü ihr Unterschenkelgeschwür in den schillerndsten Farben (!) zu schildern, sich in alles einzumischen und jedes leichte, lockere Gespräch nach unten zu ziehen. Der Hauptgrund, warum man sein persönliches Umfeld in Freunde und Verwandte unterteilen sollte…

Sicherlich trägt die emotionale Atmosphäre des Tangos dazu bei, dass sich die Seelen eher öffnen als bei anderen gesellschaftlichen Anlässen. Dennoch sollte man es nicht übertreiben.

Nun möchte ich gewiss keinen neuen Código im Sinne von „nicht verbal überholen“ schaffen. Mir gefallen jedoch Milongas am besten, auf denen es zentral um das Hören von Musik und Tanzen geht. Beides wird durch Gequassel (ob vom Nebentisch oder Tanzpartner) beeinträchtigt. Und soll ich eine Frau auffordern, die sich in einem Gespräch befindet? Woher weiß ich, ob es dabei gerade um Sein oder Nichtsein geht oder der Anlass der Plauderei nur in der Langeweile besteht, gerade keine Gelegenheit zum Tanzen zu finden? Muss ich vorher minutenlang die Mimik studieren? Ist ihr abgewandter Blick als „Verweigerung des Cabeceo“ zu deuten oder resultiert er einfach daraus, dass sie im Moment gar nicht damit rechnet, zum Tanz gebeten zu werden?

Wahrhaftig: Diese ganzen Ablenkungen komplizieren die Kontakte mehr als nötig! Das wäre es mir fast noch lieber, die Gute würde (bei Jüngeren sehr beliebt) mit ihrem Smartphone spielen. Sollte ich ihre Nummer kennen, könnte ich sie ja per SMS oder WhatsApp auffordern… (Geht bei mir jedoch schlecht, da sich mein Handy meist im Auto befindet und ich kein Smartphone besitze!)

Ich finde, man sollte zum Tango gehen, um seine Probleme zu vergessen – und nicht, um sie anderen zu erzählen! Und von den wirklich schlimmen Dingen handeln ja schon viele Tangotexte...

Liest man Interviews mit alten Milongueros, so erfährt man häufig, sie hätten Tango vor allem durch Beobachtung guter Tänzer gelernt („Workshops“ gab es ja bis zum Ende der EdO keine). Wenn ich heute ganze Gruppen von Gästen sehe, die sich mit dem Rücken zum Parkett lauthals unterhalten, weiß ich: Die brauchen dringend Tangokurse. Und da redet ja wieder einer bis zur Erschöpfung: ihr Lehrer…

Noch ein Problem: Reden schaltet (obwohl man es inhaltlich oft kaum glauben möchte) wieder das Hirn ein. Für einen guten Tanz intuitiv in Stimmung zu kommen wird somit schwierig. Bei manchen Tangueras habe ich das Gefühl, sie würden den musikalischen Kanal erst einschalten, wenn sie aufgefordert werden. So fühlt es sich dann auch an…

Ebenfalls nervig finde ich die Taktik, sich erstmal neben das Objekt seiner Begierde zu pflanzen und dieses eine Tanda lang zu bequasseln, bis man sich dann an eine Aufforderung traut oder – entsprechende weibliche Vorgehensweise – so lange sitzen zu bleiben, bis der Männe nicht mehr anders kann als mit der Dame zu tanzen. Damit blockiert man einen potenziellen Tanzpartner für mindestens die doppelte Zeit!

Als man bei mir vor etwa neun Jahren eine Krebserkrankung feststellte, war es für mich (neben anderem) eine spannende Frage, wie meine Umgebung reagieren würde. Ich hatte mir vorgenommen, weiter zu tanzen, so oft es ginge – teilweise lagen zwischen dem Entfernen der Infusionsnadel und dem ersten Tango des Abends nur wenige Stunden!

Weiterhin hielt ich mich eisern daran, zum „K-Thema“ auf den Milongas keine größeren Diskussionen zu führen: Der Haarverlust und die Gewichtsreduktion sprachen eh Bände, und Nachfragen beantwortete ich knapp mit der Diagnose, der laufenden Chemo und der Information, dass es mir gut ginge. Oft musste ich das nicht machen, da sich die Geschichte natürlich wie ein Lauffeuer verbreitete.

Erstaunlicherweise hielt sich der Diskussionsbedarf mit mir in engsten Grenzen: Mit wirklich schlimmen Dingen, so mein Eindruck, wollte man sich beim Tango-Tanzvergnügen nun doch nicht befassen. Mir war das sehr recht – und mir wäre es nie in den Sinn gekommen, die Gemüter der anderen Milongagäste mit meinen persönlichen Problemen zu belasten (wobei sie halt meinen Anblick ertragen mussten…).

Dass ich mich im Lauf der Zeit wieder erholte und weiterhin lebe, scheint allerdings das Vorstellungsvermögen mancher Leute zu übersteigen. Menschen, die ich länger nicht getroffen habe, stellen mir jetzt noch in gewissem „Verschwörerton“ die Frage, wie es mir denn gehe… Danke, sehr gut – eine tragische Geschichte habe ich leider nicht auf Lager!

Zu guter Letzt, falls es Damen gibt, die es noch nicht wissen: Die herzzerreißenden Unglücks-Berichte dienen manchen Herren dazu, ihnen per Mitleidseffekt etwas näher zu kommen. So wäre der folgende Schicksalsschlag durchaus für eine Oster-Milonga geeignet:


P.S. Eine kleine aktuelle Geschichte, die vielleicht verdeutlicht, was ich meine:

Ich kenne den Herrn seit Jahren – er treibt sich auf diversen Milongas herum, bevorzugt solchen, welche vorher noch eine Practica bieten. Tango hat er allerdings dadurch nicht gelernt. Dafür hat er zu allem eine Meinung und verkündet diese auch gern.

Neulich saß er zu Beginn eines Tanzabends neben einer Dame, welche wohl in der vorigen Übungsstunde das Glück seiner Partnerschaft genoss, und redete fröhlich auf sie ein. Die Körpersprache der beiden war sehenswert: Sie schien mit allen möglichen Körperteilen förmlich von ihm weg zu wachsen…

Meine Tangopartnerin und ich sahen uns an: „Wer hilft ihr jetzt?“, war meine Frage, die sie sofort mit „dachte ich mir auch grad, ich mach das schon“ beantwortete, sich umgehend zu den beiden begab und die Frau aufforderte.

Eindrucksvoll, wie diese mit einem Satz sofort hochsprang und mit ihrer Tanzpartnerin aufs Parkett flüchtete! Nach den Tangos bedankte sie sich überschwänglich.

Was ich nur nicht verstehe: Wieso ist die arme Frau nicht von selber geflüchtet und hat eine(n) von uns aufgefordert? Ein Risiko wäre sie nicht eingegangen, wir kennen einander ganz gut!

Meine Tanzpartnerin beantwortete diese Frage mit: „blöde Benimmregeln, hat sie sich nicht getraut“. Sehr schade…

Kommentare

  1. Lieber Gerhard,

    wo die Höflichkeit und das Mitdenken aufhört, da müssen wohl Códigos anfangen. Auch wenn man jene nicht irgendwo an die Wand hängen kann.

    Manchmal ist es auch nicht so einfach zu wissen, was nun auf einer Milonga zu den "ungeschriebenen" Regeln gehört.
    Wann erscheint man unhöflich oder gar überheblich, wenn man nur mit kurzen Sätzen antwortet oder während eines kleinen Gesprächs Ausschau nach einem Tanzpartner hält?

    Aber absolutes No-Go sind doch Gespräche während des Tanzens. Mir die falsche Frage gestellt, kann wirklich die ganze Tanda ruinieren. Und das unterscheidet halt den Tango mit seiner Komplexität von gewissen Standard-Tänzen, bei denen mit einfachen Führungsimpulsen das Meiste klar ist.

    Aber zu manchen ist das auch noch nicht durchgedrungen...


    Die von Dir zum Schluss beschriebene Situation erleben Frauen wohl ständig. Und wenn man nicht "gerettet" wird, dann muss man sich wirklich selbst retten.
    Aber aufzufordern getraue ich mich auch nur bestimmte Tänzer. Und wenn da grad keiner greifbar ist....hilft nur noch... "sorry, ich hab so'n Durst-oh mein Glas ist leer...ich muss mal den Lidstrich nachziehen....ohje ich hab meine Handtasche verschlampt....ich glaub, ich hab's Jackerl da drüben liegen lassen...."

    ;-)

    Liebe Grüße
    Sandra


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    1. Liebe Sandra,

      die „Regeln“ auf einer Milonga entstehen durch das, was die Gäste mitbringen.
      Man sollte es dann schon akzeptieren, wenn Menschen wie ich eher nicht an einem langen Gespräch interessiert sind.
      Das Problem ist wohl, dass viele davon ausgehen, was ihnen gefiele, müsse auch der Rest der Welt mögen.
      Tue ich selber auch nicht: Wenn Milongas eher zum „geselligen Beisammensein“ dienen, verziehe ich mich halt in die hinterste Ecke oder bleibe das nächste Mal fort.
      Also ist man für die Problemlösung stets selber verantwortlich!

      Liebe Grüße
      Gerhard

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