Von der Basse zu den Basics
Neulich fand ich in einem anderen Tangoblog die Frage, wer eigentlich den „Grundschritt“ (die berühmte „Achterbasse“) erfunden habe, mit dem tausende Tangolehrer ihre Anfänger nerven. Dies kann man schon einmal hier nachlesen:
„Argentinische Showtänzer aus der Gruppe um Antonio Todaro und Raul Bravo
(möglicherweise insbesondere der Tänzer Juan Carlos Copes) lehrten
tangobegeisterte Touristen eine einfach zu unterrichtende Schrittkombination,
die ‚Paso basico' (oder ‚Base‘) genannt wurde. Sie besteht aus acht Schritten
bzw. Positionen entsprechend den acht Zählzeiten eines Tango-Liedteiles. Sehr
schnell wurde diese Figur von Lehrern adaptiert, die mit Touristen arbeiteten,
um den Erwartungen gerecht zu werden. Heutzutage werden im Salon und auf der
Bühne nur Ausschnitte des Paso Basico angewendet (wenn überhaupt) und
vielfältig kombiniert.“
Über den Unsinn dieser Schrittfolge habe ich schon
früher geschrieben:
Wer diese (oder Varianten dazu) heute immer noch
unterrichtet, hat zu meiner vollen Überzeugung jegliches Recht verwirkt, für
seinen Tangounterricht Geld zu verlangen!
In diesem Zusammenhang fand ich auf der uralten Seite
„Cyber Tango“ die eindrucksvolle Bestätigung meiner Sichtweise. Deswegen allein
hätte ich mir aber die Mühe der Übersetzung nicht gegeben.
Ein längerer Beitrag (aus dem Jahr 1995) dort führt
von der Basse zu den wahren Basisfähigkeiten im Tango. Er ist heute noch (oder
gerade wieder) bedenkenswert!
Zunächst stellt der Leser Larry Carroll folgende Frage:
„Ein spezieller ‚Basis‘-Schritt wird von den meisten der zirka 30 Lehrer
vermittelt, die ich bisher im Tango argentino hatte, ebenso auf den vier
Videos, die ich mir angeschaut habe. Aber ich glaube, es ist ein Fehler, ihn
Anfängern beizubringen. Ich möchte wissen, ob Mitglieder in diesem Forum
andere, einfachere Schritte kennen.
Ich habe viele Lehrer erlebt, die mehr als eine Stunde damit verbrachten,
diese eine Figur zu unterrichten. Die Schüler waren am Ende frustriert,
beherrschten sie immer noch nicht, und die meisten kamen zur Einsicht, Tango
sei zu schwer für sie. In jedem anderen Tanz, den ich kenne, beginnen die
Lehrer mit einem Grundschritt, der einfach genug ist, um die Schüler zu
ermutigen, bei diesem Tanz zu bleiben.“
Hierauf antwortet Daniel
Trenner:
„In Argentinien lernt eine Person in dreifacher Weise Tango:
1. Überschwemmt von Bildern,
Geschichten, Gedichten, Texten – von Verwandten, berühmten Persönlichkeiten.
Selbst ein Argentinier, der Tango hasst, weiß schrecklich viel darüber.
2. Osmotisch bekommt es ein
Grünschnabel mit, indem er stundenlang an einem Tisch neben dem Parkett sitzt
und die Jüngeren und Älteren bei Spiel und Leidenschaft beobachtet.
3. Indem er zu einem Lehrer
geht wegen dessen speziellen Vokabulars von Schritten und seiner stilistischen
Präferenz, weil der Schüler aus einer Fülle von Lehrern auswählen kann.
Daher brauchten Generationen von Unterrichtenden nicht mehr als die
Schritte zu lehren, da so viel vom Charakter des Tango bereits anerzogen wurde.
Grundschritte gab es für die Milongueros nicht. Es wäre unkorrekt, die
Salida als Grundschritt zu bezeichnen.
Da ‚Salida‘ auf Spanisch wörtlich ‚Ausgang‘ bedeutet, scheint dieses Wort
von den Milongueros eher als Bezeichnung für den Weg hinaus auf die Tanzfläche
verwendet worden zu sein.
In neun Jahren der Beobachtung und des Gesprächs mit älteren Tänzern in
Buenos Aires kann ich zwei feste Behauptungen über die Salida bei Milongueros
aufstellen:
1. Keine zwei Tänzer haben mir
ihre Salida in exakt der gleichen Weise beschrieben. Die Menge der Variationen
bei einem solchen ‚Basis‘-Thema ist bemerkenswert. Als ich sie bat, ihre
Salidas durch Mitzählen zu erklären, war dies eine der amüsantesten Umfragen,
die ich je anstellte. Immer noch ergreife ich jede Gelegenheit, diese
weiterzuführen.
2. Ich habe nie einen
Milonguero gesehen, der einen Tanz mit einem Schritt in den Raum hinter ihm
beginnt, den er nicht übersehen kann – außer in den seltenen Fällen, wenn alle
anderen Wege versperrt sind und es die einzige Option ist (und das habe ich
wirklich nur eine Handvoll von Malen gesehen). Mit Sicherheit führt der Schritt
eines älteren argentinischen sozialen Tänzers zur linken Seite (von ihm aus
gesehen bzw. für die Frau nach rechts).
(Ich spreche von ‚sozialen Tänzern‘, weil es einige ältere Tänzer gibt, die
nicht sozial tanzen, aber unterrichten.)
Der Achter-Basisschritt des Tango im Parallelsystem, wie man ihn in der
Welt außerhalb von Buenos Aires fast universell tanzt, wurde unter Milongueros
nie als ‚Salida' gelehrt und wird von ihnen als ‚el basico academico'
(‚akademische Basse') verspottet. Dieser Grundschritt scheint von der „Tango
for Export-Gemeinschaft“ der Bühnentänzer geschaffen worden zu sein, weil man
ihn den Gringos leicht beibringen konnte. Zusätzlich fing man – auch um der
Gringos willen – zu zählen an, welche, nebenbei gesagt, sie ständig nach dem
Zählen fragten.
Warum also der Schritt nach hinten, um in die Salida zu kommen, die es in
all diesen Export-Grundschritten gibt, fragen Sie?
Die naheliegendste Antwort, mit der ich aufwarten kann, ist die Schule für
Bühnentanz von Antonio Todaro und Raul Bravo, welche bei Weitem den größten
Einfluss auf den modernen Bühnentanz hatte. Todaro und Bravo hatten 16 Jahre
lang eine Tangoschule in Flores während der 60-er und 70-er Jahre.
Todaro machte später mit großem Erfolg als Lehrer von vielen, wenn nicht
fast allen der heutigen jungen Stars weiter. Wer weiß, welche Einflüsse aus dem
Labor der beiden kamen? Bravo war der führende Tänzer für Mariano Mores, Todaro
der Übungspartner für Virulazo, der später in der Show ‚Tango Argentino‘
auftrat.“
(Die Salida, so der Verfasser weiter, sei eine Art Vorbereitungsschritt für
die zu lernende Figur gewesen. Dieser sei dann als Grundschritt von den
Bühnentänzern verwendet worden, die als erste außerhalb Argentiniens
unterrichtet hätten.)
„Um außerhalb Argentiniens Tango zu lernen, muss man sich bewusst sein,
dass sich die gegebenen Bedingungen für aufstrebende Tangotänzer in Argentinien
drastisch geändert haben:
1. Die Schüler haben nicht nur
keinen kulturellen Kontext, um den Tanz zu kennen, ihr Bewusstsein ist auch
erfüllt von Hollywood- und Werbebildern, welche die Bastard-Kinder des
ursprünglichen Tango-Hypes der Pariser Tangoverrückten aus den 1910-er und
20-er Jahren sind.
2. Die Tanzflächen, wo sie den
Tango beobachten, füllen sich immer mehr mit Anfängern, welche dürftige und
irreführende Beispiele anbieten, was Tango sein soll.“
(Dies führe dazu, dass sich die Schüler vom Tangoverständnis abkoppelten,
welches bislang auf den individuellen Fähigkeiten einzelner Milongueros und
ihren sich ständig entwickelnden Kreationen beruhte.)
„Betrachten wir also etwas Fundamentales über die Improvisation des
argentinischen sozialen Tanzes:
Der Tanz wird von Führendem und Folgendem in drei verflochtenen und
überlappenden Teilen ausgeführt:
1. Das Skelett des Tanzes ist
das Gehen des Folgenden, das vom Führenden entworfen wird.
2. Der Führende schafft die
nächste Stufe, indem er einen Schritt in die Räume des Bewegungsmusters setzt,
das der Folgende selbstbewusst ausführt.
3. Beide dekorieren nun diese
zwei verwobenen Schritte mit einer Schicht von Verzierungen.
In diesem Verständnis des Tanzens gibt es folgende Basics:
Der Folgende
1. Muss einen argentinischen
Rahmen lernen, d.h. Konzepte, den Raum für Fußarbeit frei zu halten, und
Wertschätzung der Umarmung.
2. Muss lernen, in einem
gleichmäßigen Schritt zu gehen, während er das begrenzte Vokabular lernt, das
stets vom Führenden für den Folgenden verwendet wird, also
Gehschritte nach vorn und hinten
Vorwärts- und Rückwärtsochos
Rechts- und Linksdrehungen
Einkreuzen als Antwort auf die vom Führenden gewählte Position
3. Muss fähig sein, mit all
diesen Schritten den Rhythmus der Musik zu interpretieren.
Der Führende
1. Muss fähig sein, die
Schritte des Folgenden so zu leiten, dass der bequeme, weiche Gang entsteht,
den er (bzw. sie) als Skelett des Tanzes benötigt.
2. Muss über die Basis der
Navigation verfügen, d.h. folgendes ohne Stopp ihres Gehens bewirken:
wie man vorwärts geht und am Platz bleibt
wie man rechts und links dreht
wie man erkennt, wohin sie geht, während man die Schritte führt
3. Muss verstehen, wie man die
Orientierung der Füße vom parallelen zum gekreuzten System und zurück wechselt,
ohne das Gehen des Folgenden zu stören (…)
4. Muss lernen, die Position
von einer Seite zur anderen zu wechseln, ohne ihr Gehen zu stören
5. Muss fähig sein, dem
Folgenden ein Gefühl des angestrebten Beats zu geben und gleichzeitig mit den
Schritten selber in der Musik zu bleiben
6. Muss ein Minimum an Kraft
in der Führung und eine elegante Behandlung der Folgenden anstreben, um ihr
rundum ein Vergnügen zu bereiten.
7. Oh ja, man muss ins Kreuz
führen können!
Soviel zu den Grundfertigkeiten. Ich hoffe, Sie haben die Lektüre genossen.
Ich liebe das Internet, aber es kostet mich bereits den Schlaf!“
Ich finde, der Text war es wert! Hier das Original:
http://www.cyber-tango.com/art/basic.html#larry
Man sollte es sich auf der Zunge zergehen lassen: „Das Skelett des Tanzes ist das Gehen des
Folgenden“ – während es bei uns heißt: „Der Mann führt.“
Man müsste im Tangounterricht hierzulande nur
ungefähr das Gegenteil lehren wie
bislang, dann würde es halbwegs passen!
Schlafstörung....
AntwortenLöschenToller Text, vielen Dank für das erneute einstellen dieser Gedanken.
Ich finde es aber trotzdem Okay die Basse als Grundlage zur Musik zu vermitteln, wenn man immer wieder den Hinweis bringt, dass aus jedem vollständigen beendeten Schritt in eine andere Richtung variiert werden kann.
Die Berechnung der möglichen Permutationen in einer 8 Takt Phrase lass ich hier jetzt mal weg ;-P
Somit kann man lediglich mit diesen Grundrichtungen eine komplette Tango Tanda variantenreich durchtanzen, wenn beide dazu die Geduld und nötige Großmütigkeit mitbringen, dass nicht mehr notwendig sein muss.
Na klar, kann man variieren bis sonst wohin, kein Problem!
LöschenMir geht es aber um die Basse als ersten Tangoschritt, mit dem man Anfängern gleich alle Tango-Schwierigkeiten auf einmal zumutet. Scheitern inbegriffen, hab ich zu oft erlebt…
P.S. Vielen Dank fürs Lob!