Androiden-Tango
Ein Avatar ist eine
künstliche Person oder eine Grafikfigur, die einem Internetbenutzer in der
virtuellen Welt zugeordnet wird, beispielsweise in einem Computerspiel. (…) Das
Wort leitet sich aus dem Sanskrit ab. Dort bedeutet „Avatāra“ Abstieg, was sich
auf das Herabsteigen einer Gottheit in irdische Sphären bezieht.
(Quelle: Wikipedia)
Das
Netzwerk für einen modernen, kreativen Tango wächst!
Kürzlich
erreichte mich der Artikel eines Lesers – offenbar angeregt durch einen
Artikel in der letzten „Tango Danza“ – den ich hier gerne als Gastbeitrag veröffentliche.
Leider
möchte der Autor ungenannt bleiben. Daher übernehme ich stellvertretend die
volle presse- und strafrechtliche Verantwortung für den Text. Hinzugefügt sei,
dass mir der reale Name des Verfassers natürlich bekannt ist!
Jetzt
aber viel Vergnügen beim Lesen!
Reportine Tanga hatte
Gelegenheit, den Veranstalter der Münchner Tischmilonga Gustav Fausser in der
Academía de Tango Argentino Auténtico zu interviewen.
Gustav Fausser („El
Faussero“) wurde vor sechs Jahren durch den famosen Ruf der Münchner Szene in
die Tangometropole gelockt. Als Kind war er mit seinen Eltern nach Argentinien
ausgewandert, kam dort bald mit dem Tango in Berührung, sog ein halbes
Jahrhundert den authentischen Tangogeist in sich auf und kehrte nun als
ausgereifter Tangomissionar zurück.
Frau Tanga: Herr Fausser, wie kamen Sie auf die Idee,
eine Tischmilonga zu veranstalten?
Herr Fausser: Ganz
einfach, während einer gewöhnlichen Milonga wurde ich an meine Kindheit erinnert.
Damals spielte ich Fußball, und mich ärgerte immer das Gerenne, Geschubse und
Gerempel, die häufigen Blessuren und Verletzungen, die verschwitzte und mehr
oder weniger dreckige Kleidung. Bis mich eines Tages ein Kumpel zu sich nach
Hause zum Tischfußball einlud. Da hatte ich meine neue Leidenschaft entdeckt.
Frau Tanga: Wie
kann ich mir aber eine Tischmilonga vorstellen?
Herr Fausser: Schauen
wir doch einfach mal rein! In der Mitte des Raumes stehen die Tische mit den
runden Tanzbrettern – vollendete Ronda garantiert. Auf den Stuhlreihen an den
Längsseiten des Saals nehmen rechts die Milongueros, links die Milongueras
Platz. Auf dem Podium im Hintergrund wirkt der diensthabende argentinische TJ.
Vorne im Eingangsbereich hält sich das Aufsichtspersonal auf.
Bei den
Tischmilongas, die vornehmlich als Marathons veranstaltet werden, handelt es
sich natürlich um Encuentros, zu denen nur Mitglieder der Welt-Tischmilonga-Vereinigung
Einlass finden.
Frau Tanga: Entfällt
denn die heutige Milonga?
Herr Fausser: Nein,
keineswegs. Die ersten Milonguer@s werden standesgemäß gegen 00:30 Uhr
erscheinen und letzte Hand an ihre Tanzavatare anlegen, die sie dann auf den
Tischchen vor den Stuhlreihen präsentieren. Dort stehen auch die Operngläser
bereit, um den Cabeceo zu erleichtern, sowie rote und grüne Fähnchen für die
notwendigen Signale.
Frau Tanga: Das
heißt grün für „Ja“ und rot für „Nein“?
Herr Fausser: Die
Cabeceo-Zeremonie gestaltet sich natürlich nicht so banal, dass ich Ihnen das
Regularium auf die Schnelle darlegen könnte. Schließlich bedarf es des
erfolgreichen Abschlusses mehrerer aufeinander aufbauender Seminare, um sich dieser
Signalmittel bedienen zu dürfen. Jene wiederum können nur authentisch in Buenos
Aires gebucht werden.
Frau Tanga: Kommt
es während der Tanzrunden um die Tanzbretter herum nicht zu einem erheblichen
Gedränge?
Herr Fausser: Aber
nein. Bei uns wird ja streng auf die Einhaltung der Tandas und Cortinas
geachtet. Nur während letzterer dürfen sich die Milonguer@s von ihren Plätzen
erheben. Sie praktizieren zunächst das Cabeceo-Zeremoniell, erheben sich
sodann, treffen sich auf der Tanzfläche und schreiten paarweise zu den
Tanzbrettern, wo sie authentisch-traditionell-erdig-sozial ihre Avatare in
einem innigen traditionell-authentischen Abrazo con Corazón für die nächste
Tanda postieren. Zu Beginn der nächsten Cortina bringen die Tanguer@s nach dem
Dankes- und Lobzeremoniell ihre Avatare/Avatarinnen an ihren Platz zurück. Und
das neue Cabeceo-Zeremoniell kann beginnen.
Frau Tanga: Reicht
für all das die Zeit während der Cortina?
Herr Fausser: Das
Cabeceo-Zeremoniell ist ja der wesentliche Bestandteil des gesamten Encuentros.
Ihm wird daher entsprechend Zeit eingeräumt. Während die Tandas, hier Rondas
genannt, circa 12 Minuten dauern, gibt der Zeremonienmeister dem TJ erst das
Zeichen für die nächste Ronda, wenn alle Tanguer@s zurück auf ihren Plätzen
sind. Das kann gut eine halbe Stunde in Anspruch nehmen.
Frau Tanga: Wie
können die Milonguer@s aus der Entfernung den Tanz ihrer Avatare verfolgen?
Herr Fausser: Das
Ges(ch)tehen auf den Tanzbrettern wird pausenlos aus verschiedenen Perspektiven
gefilmt und live an die vier Saalwände projiziert, so dass sich alle
uneingeschränkt daran delektieren können.
Frau Tanga: Was
können Sie uns zu den Avatar/innen erzählen – Bezugsquellen, Preislage etc.?
Herr Fausser: Das
Preisniveau schwankt natürlich erheblich. Sie können einen Billig-Reimport aus
China bereits ab 300 Euro beziehen. Wesentlich tiefer in die Tasche greifen
müssen Sie bei deutschen Wertprodukten, und schließlich landen wir im
Premium-Segment, das direkt aus Buenos Aires bezogen wird, bei über 40.000
Euro. Dabei handelt es sich um Avatare im Dauer-Zen mit eingebauter
Vize-Weltmeisterschaft, die oro-traditionell-milonguitisch getauft und geweiht
sind.
Darüber hinaus bedarf
es noch eines beträchtlichen Budgets für die Ausstattung. Sie können die
Avatare ja nicht Abend für Abend in derselben Garderobe auftreten lassen. Aber
wenn wir uns auf dieses Thema einlassen würden, stünden wir nächste Woche noch
hier. Am ehesten kämen wir da ans Ziel, wenn wir über die Tango Nudo-Abende
sprechen würden.
Frau Tanga: Darüber
können wir bei anderer Gelegenheit reden. Mich würde insbesondere noch die
Musikauswahl interessieren. Kommt an den einzelnen Wochentagen ganz bestimmte
Musik zu Gehör, z.B. montags traditionell, dienstags gemischt, mittwochs
modern, donnerstags Nontango?
Herr Fausser: Jetzt
wollen Sie mich aber provozieren! Selbstverständlich wird unterschiedlich
aufgelegt. Bei jedem Marathon wird ein anderes Werk aus der Época de Oro
kredenzt. Alles andere wäre ein Frevel und würde gegen das göttliche erste
Hoheitsgebot der Carta Milonguera verstoßen und zum Ausschluss aus der
Milonguer@ Weltvereinigung Buenos Aires führen, was das Aus für unser
Etablissement bedeuten würde.
Frau Tanga: Wünscht
sich der eine oder andere im Laufe von 12 Stunden nicht manchmal ein zweites
Stück? Es kann ja ebenfalls aus der EdO-Epoche sein.
Herr Fausser: Nein, sehen
Sie, die Milonguer@s, denen wir Einlass gewähren, sind allesamt zertifizierte
EdO-Hörer. Sie sind geschult, aus ein und derselben Aufnahme, wenn sie 12
Stunden lang präsentiert wird, immer wieder neue, reizvolle, ja ekstatisierende
Nuancen herauszuhören.
Frau Tanga: Eine
letzte Frage: An diesen Saal schließen sich vier weitere an. Wird dort
Standard/Latein, Zumba, Humba, Contact-Tango, Hupf-Tango usw. getanzt?
Herr Fausser: Aber
Frau Tanga… Es sollte sich doch herumgesprochen haben, dass niemand in den erlauchten
Kreis der Tischmilonguer@s aufgenommen wird, der sich nicht dem Examen der vier
Vorstufen erfolgreich unterzogen hat.
Frau Tanga: Die da
wären?
Herr Fausser: Die
erste, primitive Vorstufe ist der Tango Argentino Escenario oder banal als
Bühnentango bezeichnet. Das führt dann relativ schnell und unkompliziert zum
Tango Nuevo hin. Danach wird es heikel. Auf dem Weg zum Tango de Salón scheitert
das Gros der Tänzer/innen. Aus den wenigen Verbliebenen kristallisieren sich
sodann im Verlauf von Jahrzehnten die Koryphäen heraus, die sich an den Tango
Milonguero heranwagen können. Und nun, der steinigste und schmalste Weg ist der
hin zur Tischmilonguer@reife, schon aus biologischen Gründen kaum erreichbar.
Als höchste, bisher unerreichte Stufen, gelten die Auszeichnungen mit den
bronzenen, silbernen und schließlich goldenen Cassi-Fauss.
Frau Tanga: Wollen
Sie unseren Lesern noch etwas mitteilen?
Herr Fausser: Ich
möchte ihnen Mut machen, auf dem langen Weg zum lohnenden Ziel nicht zu
resignieren. Und auf vielfachen Wunsch hin setzen wir uns intensiv dafür ein,
dass die Vorstufen des Tischtango so bald wie möglich aus dem Kanon des
immateriellen Weltkulturerbes herausgenommen werden.
Frau Tanga: Danke
für das offene Gespräch.
Wem
das Szenario zu fantastisch erscheint: Meine Satiren wurden in der
Vergangenheit schon öfters von der Realität überholt… Und gelegentlich habe
ich, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, Tango-Avatare in Lebensgröße
schon wahrgenommen!
Nochmals
herzlichen Dank an den Autor für den schönen Text!
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