Die Scheine trügen



Um dieses Thema kreisen meine Gedanken schon lange Zeit:
Wie teuer darf (oder muss) der Tango sein?

Ein Extrembeispiel ist sicherlich unsere Wohnzimmer-Milonga: Wir verlangen keinen Eintritt. Jeder Besucher darf für den Selbstkostenpreis konsumierten Essens sowie für Getränke ein paar Euro in eine Kasse werfen. Bis auf diesen Faktor (und neue Tango-CDs) sind ja unsere Aufwendungen praktisch null. (Übrigens sind unsere Gäste so großzügig, dass die Spenden – und mitgebrachten Geschenke – allemal reichen: vielen Dank!) Der Hintergrund: Wir haben beide etwas Anständiges gelernt und müssen nicht vom Tango leben.

Bevor der Tango zur Branche wurde, galt dies für viele Milongas: Irgendwie hatte man eine kostenlose Räumlichkeit aufgetan, irgendwer legte (natürlich für lau) auf, die GEMA wurde ignoriert – und für das mitgebrachte Mineralwasser kamen die paar Euro schon irgendwie zusammen.

Dies hat sich in den letzten Jahren drastisch geändert: Großevents mit hundert und mehr Gästen sind schon bei „normalen“ Milongas keine Seltenheit – gar nicht zu reden von Festivals, Marathons und Encuentros, ausländischen Tangolehrern, Musikern, Schuh- und Kleiderverkauf plus Seminaren für alles und jedes. Räumlichkeiten müssen gemietet, Unterrichtende, DJs und Musiker bezahlt, Steuern und Abgaben entrichtet werden. Letzteres ein in der Tangoindustrie gut gehütetes Tabu-Thema: Wahrscheinlich wären die Kosten noch viel höher, würden sich die meisten Veranstalter an alle gesetzlichen Regelungen halten…

Was darf (und muss) ein Milonga-Eintritt kosten? Für eine Kinokarte sind statistisch derzeit 7,34 € zu löhnen – Tendenz steigend Richtung 10 €. Beim Tango ist der Personalaufwand allerdings höher, und ein Kino muss außer den Sitzplätzen nicht noch eine Tanzfläche bereitstellen. Dennoch verlangen die Tango-Veranstalter heute höchstens 8 €, bei kleineren Events und auf dem flachen Land eher weniger. Zudem sind die Getränkepreise in der Regel äußerst moderat.

Was würde man ausgeben, wenn man sich außerhalb des Tango einen ganzen Abend lang amüsieren, tanzen und trinken möchte, beispielsweise in einer Disco (heute meist als „Club“ bezeichnet)? Ich fürchte, man wäre schon beim zweiten Getränk über den Gesamtkosten eines Milongabesuchs!

Daher meine feste (und vielleicht als skandalös empfundene) Ansicht: Milongas sind zu billig! Ich stelle mir einen Eintrittspreis von mindestens 10 € vor, bei edlerem Ambiente gerne auch mehr.

Um die nun einsetzende Schnappatmung wieder zu beseitigen: Voraussetzung wäre allerdings, dass wir professionell agierende Veranstalter hätten. Dies ist nach momentaner Lage nicht zu befürchten:

Schon die Einladungen sind oft – optisch und sprachlich – lausig gemacht: Unterbelichtete, schemenhafte Fotos der Milonga (oder Weitwinkel-Aufnahmen eines Kohlenkellers) gehen eine innige Verbindung mit fehlerhaften Texten ein. Dabei wären die Investitionen für einen guten Fotografen bzw. Illustrator sowie eine Fachkraft, welche wirklich Deutsch kann, ja nicht unermesslich, da wiederverwendbar! Und dieser Müll füllt dann mit ständigen Wiederholungen soziale Netzwerke! Nicht selten bekomme ich Korrektur-Mails, da man sich manchmal sogar außer Stande fühlt, auf Anhieb das richtige Datum, den zutreffenden Wochentag oder die korrekte Uhrzeit zu nennen.

Auch sonst dümpelt im hiesigen Tangounwesen der Service-Gedanke selbst noch unter deutschem Gastronomie-Niveau: Ob der Gast beispielsweise einen Parkplatz findet, geht Organisatoren offenbar an der gestreiften Hose vorbei: In der Regel null Information hierzu! Ebenso uninteressant scheint es zu sein, ob der Besucher seine Klamotten ordentlich aufhängen kann oder auf einer verstaubten Fensterbank zwischenlagern muss. Und der Gebrauch von Wischmopp und Seifenlauge zur Reinigung des Parketts ist offenbar nicht „authentisch argentinisch“, so dass ich nachher an meiner Hose mehr „Hochwassermarken“ habe als in donaunahen Vierteln von Passau. Und auch außerhalb Augsburgs scheint es eine unzumutbare Belastung zu sein, genügend Sitzgelegenheiten aufzutreiben…

Freundliche Begrüßung der Gäste, Fragen, ob alles in Ordnung sei oder man gar einen Wunsch habe? Forget it – schließlich beginnt das soziale Verhalten erst beim Cabeceo und der Navigation auf dem Parkett! Und was den DJ betrifft: Ich plädiere erst dann für dessen ordentliche Entlohnung, wenn dieser mehr unternimmt als das Abspulen einer vorbereiteten Playlist und auch bereit ist, gelegentlich selber auf dem Parkett zu probieren, wie spannend sich die Umsetzung seines Musikprogramms anfühlt. (Übrigens fehlt auch hierzu oft jegliche Information.) Das Schönste daran: Ein zugewandtes Verhalten wäre nicht mal ein Kostenfaktor!

In der Praxis sind also 7 € Milonga-Eintritt in Anbetracht der Leistungen recht hoch gegriffen…

Doch nicht nur hierbei trügen die Scheine:

Wieviel sollte Tango-Unterricht kosten? Für Nachhilfestunden im Schulbereich verlangt man zwischen 15 und 40 € pro Stunde, und eine Fahrschule kassiert für 45 Minuten locker um die 35 €, bei „Sonderfahrten“ mehr. 30 € pro Tangostunde erscheinen mir daher realistisch – wohl gemerkt für Einzelunterricht, alles andere bringt nur einen Bruchteil des Effekts und ist daher stets zu teuer.

Nebenbei: Wer einmal sehen möchte, was ein Laie nach einer Woche Training mit einem Profi tänzerisch hinbekommt, sollte sich eine Folge der RTL-Show Lets Dance" gönnen!

Und, da es für „Tangolehrer“ keine staatlich kontrollierte Qualifikation gibt: Wer nicht mindestens 10 Jahre aktiv getanzt hat (mit mindestens 3 Milongabesuchen pro Woche   also insgesamt zirka 1500 „Praxis-Einheiten“) sollte sich überlegen, ob er den Schülern nicht lieber Geld für seine dringend benötigten Erfahrungen zahlt… Die paar Privatstunden in Buenos Aires sind mir da vergleichsweise schnuppe. Im Schnitt ist also derzeit angebotener Unterricht zu teuer.

Das krasse Gegenteil gilt aus meiner Sicht für Musiker: Aus meinem persönlichen Umfeld weiß ich, wie viele Jahre (und bezahlten Unterricht) man benötigt, um ein Instrument so zu beherrschen, dass man dessen Bedienung der Öffentlichkeit zumuten sollte. Und da hat man sich dann noch nicht in die speziellen Anforderungen des Tango hineingearbeitet!

Wenn es dann immer mehr in Mode kommt, dass man die finanziellen Risiken per Aufstellen eines Hutes voll auf die engagierten Künstler abwälzt, finde ich dies im Regelfall zu wenig. (Ausnahmen im „non profit“-Bereich gibt es natürlich!) Aber welcher Handwerker würde sich ein solches Verfahren gefallen lassen? Freilich erwartet man von dem auch, dass die Klospülung nachher wieder funktioniert – was ich bei mancher „Live-Musik“, welche ich schon erleben durfte, stark bezweifle…

Wie teuer sind Konzertkarten außerhalb des Tango? Im Anhang findet sich eine hübsche Modellrechnung: Aus 28 € für ein Ticket werden durch unverschämte Vorverkaufs-Gebühren an die 40 €, davon bleiben für die Künstler schließlich etwa 4 €. (Hierbei ging man von 1500 Besuchern aus, was für die Band immerhin noch 6000 € ergibt.) Das mag für den Tangobereich übertrieben sein, jedoch halte ich eine Gage von weniger als 100 € pro Musiker und Abend (Freundschaftsdienste" einmal ausgenommen) für skandalös.

Insgesamt erscheint mir der Tango derzeit irgendwo zwischen Subkultur und Branche zu dümpeln: Man versucht, die Preise annähernd auf Marktniveau zu bringen und scheitert oft an dilettantischem Herumgewurstel. Wie hoch ist die Überlebensrate einer durchschnittlichen Milonga? Ich halte zwei Jahre schon für ziemlich optimistisch. (Hauptgrund ist meist, dass man sich die Saalmiete spart und dann der Gastronom irgendwann sauer ist, dass er vorwiegend Mineralwasser verkauft oder die Gäste ihre Thermosflasche auf dem Klo nachfüllen.)

Dazu kommt, dass professionelle Veranstalter in anderen Bereichen meist Geld zur Verfügung haben und dieses in ein neues Projekt investieren. Bei Tango-Organisatoren, so fürchte ich, ist regelmäßig eher das Gegenteil richtig: Mit null Kohle möchte man etwas verdienen – aber, so lautet ein ehernes Marktgesetz: Von nix kommt nix.

So landet man schließlich bei einem Paradoxon: Der heutige Tango ist zu billig und zu teuer zugleich! Und Scheinheiligkeit leitet sich semantisch nicht von den Scheinen ab…

Abschließend noch zur sozialen Frage: Würden sich manche den Tango nicht mehr leisten können, wenn man marktgerechte Preise forderte? Bei der momentanen Akademiker- und Pensionisten-Population wohl nicht das Hauptproblem. Dennoch wäre ich sehr für freien Eintritt bei Personen, welche im Gegenzug eine halbe Arbeitsstunde für die Veranstalter anböten. Vielleicht nähme dadurch ja der Dreck auf dem Parkett ab und die Anzahl der Stühle zu!

P.S. Links zum Thema:
http://www.nachhilfe-vergleich.de/information/ueberblick/was-kostet-nachhilfe.html

Kommentare

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