Liebes Tagebuch... 40
Gerade
erreichte mich die Nachricht
eines meiner Leser. Kommentare
dieser Art, gerade von Anfängern, bekomme ich immer wieder. In dem
Fall ist der Text besonders interessant, da es sich bei dem Schreiber
um einen Menschen handelt, der gerade auf musikalischem Gebiet (wenn
auch nicht speziell im Tango) hoch gebildet ist. Seinem Wunsch
entsprechend habe ich den Beitrag anonymisiert:
„Lieber Gerhard, ich tanze erst
seit (kürzerer Zeit) Tango Argentino, aber ich kann viele deiner
Gedanken nachvollziehen. Vielleicht schießt du manchmal ein wenig
übers Ziel, aber das muss manchmal sein.
Mein Erlebnis: Das Orchester La Juan
D'Arienzo aus Buenos Aires spielte in (…), und ich ging hin,
allein. Sonst wage ich mich derzeit nur mit Tanzpartnerin auf
Milongas. Erster Eindruck: Ca. 200 Leute, von denen sich 190 gut
kennen und mit Bussi-Bussi begrüßen. Dann spielt das Orchester,
natürlich im D'Arienzo-Stil, schrumm schrumm, immer im selben
Rhythmus, man glaubt nach fünf, sechs Nummern, immer dasselbe gehört
zu haben. Dazu Tänzerinnen und Tänzer mit zugegebenermaßen
professionellem Tango-Tanzen.
Aber dieses Insidergehabe erinnert
mich an meine Zeit im Golfclub, wo es ähnlich zuging. Kein Zugehen
auf neue Mitglieder, neue Gäste, neue Tänzer – immer schön unter
sich bleiben. Das Fass zum Überlaufen brachte eine Kommentar, den
ich zufällig belauschen durfte: 'Ich war in Italien, tolles
Encuentro, die Frauen ein Traum, wie sich die haben führen lassen!'
Hallo, geht's noch?
Du kannst meine
Erfahrungen gerne verwenden, aber bitte anonymisieren, denn ich will
doch noch ab und zu auf der Tanzfläche willkommen sein!“
Meine Antwort hierauf:
„Vielen Dank, ich werde den Text
noch ein wenig verfremden und dann als Kommentar auf meinem Blog
verwenden – mit dem Hinweis, dass ich den Autor kenne. Übrigens zur
Beruhigung: Ich bin nun seit sieben Jahren frech und werde (gerade
deshalb?) im realen Tangoleben immer netter behandelt!“
Liebe Anfänger,
dieses schnöselige
Verhalten vor allem auf Tango-Großevents beobachte ich nun seit
mindestens zehn Jahren mit der Tendenz zur Verschlimmerung. Der Tango
hat derzeit von allen Tänzen, die ich kenne, die verheerendste
„Willkommenskultur“.
Als ich vor 18
Jahren anfing, war eine solche „Golfclub-Atmosphäre“ noch die
rare Ausnahme. Zudem schützten mich wohl meine Jahrzehnte
Standardtanz sowie zirka 40 Tanzturniere davor, in Ehrfurcht zu
erstarren oder gar Minderwertigkeitskomplexe zu entwickeln.
Was mir umgehend
klar war: Es hilft nur eins – viel tanzen und dadurch immer besser
werden! Und Tanzen lernt man vor allem auf den Milongas, nicht im
Kurs! Irgendwann können sie dich nicht mehr ignorieren, und es liegt
dann an deiner Großzügigkeit, auf Kontakte einzugehen.
Leider suchen
gerade Anfänger ihr Glück auf Monster-Veranstaltungen „bedeutender“
Tangoschulen. Dort erleben sie genau das, was mein Leser schilderte.
Und ob es in einem solchen Gewühl entgegenkommende Tanzpartner oder
wenigstens genug Platz gibt, ist mehr als fraglich.
Ich würde zu
Beginn erst dann Milongas besuchen, wenn ich einigermaßen navigieren
kann. Und dann eher die kleinen Practicas und Tanzabende, wo man froh
um jeden Gast ist und ihn vernünftig behandelt, ja sogar in seiner
Tanzentwicklung fördert.
Und ganz wichtig –
aufschreiben und auswendig lernen: Ein hoher „Zickenfaktor“
(geschlechtsübergreifend
gemeint) ist selten ein Ausweis bedeutender tänzerischer
Fähigkeiten. (Insofern dürfte die Beurteilung „professionelles Tangotanzen" wohl dem Anfängerblick geschuldet sein...) Könnten diese Herrschaften nämlich wirklich etwas auf dem
Parkett, hätten sie dieses Hochtragen der Nase nicht nötig. In
Wahrheit haben sie irgendwann auf allen Vieren den Zugang zu einer
„bedeutenden Tangogschwerl-Gang" erlangt und profitieren dort vom
Ruhm anderer. Und sie sind so „authentisch“ wie ein
Spanisch-Volkshochschulkurs...
Und wie kommt man
eigentlich darauf, auf solchen Veranstaltungen wirklich inspirierende
Musik finden zu wollen? „Live-Musik" muss nicht lebendig sein. Schließlich gibt es dort keine Setlist, sondern
einen Kodex. Und wie Nationalhymnen dient dies nicht der
musikalischen Unterhaltung, sondern dem Zusammenhalt Gleichgesinnter
und der Abgrenzung gegen den Rest der Welt.
Draußen in den
Vororten, bei den einfachen Menschen, ist dieser Tanz einmal
entstanden – und dort findet man seine Wurzeln mehr denn je. Es
treffen sich in solchen Nischen heute nämlich zunehmend
Tänzer/innen, welche ebenfalls keine Lust mehr haben, in den „feinen
Salons“ der Metropolen das Sozialverhalten von Küchenschaben zu
studieren.
Der Weg, den ich
allen Beginnern vorschlage, ist daher langwierig und sicher nicht
frei von Frust – ganz tangotypisch halt. Aber er beginnt mit dem
Vorsatz, der mich – ob Milonga, Bücher oder Blog, stets angespornt
hat:
Wir
kriegen sie alle!
P.S. Der unten stehende Kommentar von Peter Ripota bezieht sich auf eine ähnliche Geschichte – und das ist nur die Spitze des Eisbergs... Leider kriege ich selten die Erlaubnis zur Veröffentlichung!
http://milongafuehrer.blogspot.de/2015/07/peter-ripota-eine-ansteckende-krankheit.html
P.P.S. Und schon kommt die nächste Erfahrung dieser Art – diesmal in unserer FB-Gruppe „Was Sie schon immer über Tango wissen wollten..."
P.P.S. Und schon kommt die nächste Erfahrung dieser Art – diesmal in unserer FB-Gruppe „Was Sie schon immer über Tango wissen wollten..."
"(Insofern dürfte die Beurteilung „professionelles Tangotanzen" wohl dem Anfängerblick geschuldet sein...)"
AntwortenLöschenDas erinnert mich an meine allererste Milonga (damals noch auf der Münchner Praterinsel). Mei haben die alle toll getanzt...
Das allgemeine Niveau muss dann aber im folgenden halben Jahr dermassen rapide gesunken sein ... ;-)
Da sagst was...
LöschenKann ich aus der eigenen Erinnerung voll bestätigen und empfehle diese Betrachtungsweise nachdrücklich!
Wie wahr! Und leider nicht nur auf München oder andere Großstädte beschränkt (siehe unseren Bericht aus Bamberg). Die Entschuldigung, dass man bei großen Milongas nicht jeden einzeln begrüßen kann, lass ich nicht gelten. Christian Beyreuther ist auf seiner Milonga Garufa ein gutes Gegenbeispiel (hoffentlich bleibt er's auch). Ja, s'ist traurig aber wahr: Viele Menschen beziehen ihr Selbstwertgefühl nur aus der Verachtung anderer. Da hilft nur: gegenverachten, oder gar net ignorieren.
AntwortenLöschenVielen Dank für den Hinweis, ich habe Deinen Beitrag oben unter "P.S." nochmal verlinkt - passt gut dazu. Und Ihr seid wahrhaftig keine Anfänger. Wie wäre es denen erst ergangen?
LöschenEine spannende Frage wäre mal, warum es gerade im Tango derartig asozial zugeht. In vielen anderen Tanz-Szenen (z.B. Salsa) scheint dies nicht der Fall zu sein.
Also, also, pfff, ohne Worte, ohne worte... ;-)
AntwortenLöschenAls ich vor ca. 10 Jahren zum Tango kam, hat mich wenig beeindruckt wie gut alle tanzen (natürlich hatten die anderen mehr Erfahrung) Beeindruckt hat mich das alle Spaß hatten - und alle einbezogen wurden. Wo ist nur der Spaß geblieben - mit Sorge sehe ich das die Jugend sich abspaltet und den Spaß zugunsten des Rituals und der Perfektion verbannt. Wenn mal alle ' Bühnenreif' tanzen ist das der Tod des Tango
AntwortenLöschenNa ja, "bühnenreifes" Tanzen sehr ich auf Milongas sehr selten - ist ja auch verpönt.
LöschenDie "Jugend" hat sich vor allem fast völlig aus der Szene verabschiedet - und wenn, ja, dann tanzen sie so, wie du es beschrieben hast.
Ich denke mir manchmal, in meinem Alter wäre meine Aufgabe eigentlich, an der Tanzfläche zu sitzen und über die "verrückten" Bewegungen der Jungen abzulästern.
Leider ist es eher umgekehrt...
Und Spaß - wie kommst du darauf? Tango ist eine todernste Sache!