Liebes Tagebuch… 39
„Ach Rina“, sagte er,
„wenn du wüsstest, wie kostbar mir dein Schweigen ist. Abends, wenn müde bin,
wenn ich hier sitzen muss, lasse ich mir dein Schweigen ablaufen. Bitte sei
nett und beschweige mir wenigstens noch drei Minuten…“
(Heinrich Böll: „Dr.
Murkes gesammeltes Schweigen“)
Es
gibt von mir sehr geschätzte Tänzerinnen, mit denen ich dennoch ganz wenig auf
dem Parkett unterwegs bin. Der Grund ist ziemlich einfach: Andere schätzen sie
ebenso – wenn nicht sogar mehr.
Meist
kann ich dies mit buddhistischer Gelassenheit hinnehmen: Ist ja nur zu
verständlich, auch wenn manche Kollegen ihren Alphaweibchen-Harem bewachen wie
die Gorillas im Zoo, sie ständig betanzen, in den Pausen nicht von ihrer Seite
weichen und sie mit Dauergedöns auch akustisch von der Umwelt isolieren.
Tänzerinnen, welche (aus ihrer Sicht) nicht über die Strahlkraft der
Auserwählten verfügen, bleiben von ihnen unbeachtet. Um die darf ich mich dann
kümmern…
Wie
ich schon einmal geschrieben habe, lege ich mich meist entspannt unter einen „Beatrice-Baum“
und warte ab, bis die Beatrice eines Tages herunterfällt… In selten Fällen aber
gibt es doch Situationen, wo mir das Glück sehr nahe scheint und die
Finger für einen erfolgreichen aktiven Zugriff jucken.
So
auch an diesem Abend: Zwar erschien das schöne Kind mit einem Rudel gackernder
Jungs und Mädels, welche – teilweise zum Glück – die fallweise schreckliche
Musik übertönten. So konnte ich die Gruppe jederzeit akustisch orten: auch ein
Vorteil!
Des
Weiteren fehlte diesmal ihr testosterondünstender Stamm-Macker – vertreten durch
ein schwaches Beta-Minus-Männchen mit Gästehandtuch in der Gesäßtasche – plus zwei
weitere Herren, bei welchen ich eher Anfänger- oder Unbelehrbarenstatus
vermutete. Zudem saßen dort noch zwei andere, offenbar schwer aufs Tanzen scharfe
Chicas im Weg: Da sollte sich doch eine Zugriffsmöglichkeit ergeben!
Freilich,
so lehrte mich die Erfahrung, hieß es noch warten, bis sich die sechs
Herrschaften in jeder möglichen Hetero-Paarkombination aneinander abgearbeitet hatten.
Erschwerend kam hinzu, dass durchschnittlich jede zweite Tanda von so lausiger
Qualität war, dass ich sie nicht einmal einer durchschnittlichen Tanguera
zugemutet hätte – dem Objekt meiner Begierde natürlich keinesfalls! Aber nur
die Ruhe… irgendwann musste der Moment ganz sicher kommen. Dann aber nix
verpassen und schlagartig zugreifen!
Nach
zirka zwei Stunden war die Chance da: Die Anfänger waren auf dem Parkett anderweitig
zugange, und der Haupt-Bewacher der Spitzen-Tänzerin musste das Gästehandtuch
gerade dorthin tragen, wo es eigentlich hingehört. Andere männliche Konkurrenz
war nicht auszumachen. Jetzt noch die richtige Musik… Ja, das war es! Libertango!
Beim
Aufstehen stoppte mich eine Stimme, welche ich nur zu gut kannte: „Ja grüß euch, wie geht’s denn?“ Mist,
ein Tangobekannter, dem – wie in unserer Generation üblich – das Motto „Gesundheit ist die Hauptsache“ als
Grundlage seiner zwar inhaltlich, nicht aber quantitativ überschaubaren
Rhetorik dient. Ächzend ließ er sich auf dem Stuhl neben uns nieder: „Jetzt war ich neulich doch noch mal beim
Internisten, hab ich euch das schon erzählt?“ („Nein, du Trottel, aber es
interessiert mich sowieso nicht die Bohne – und erst recht nicht jetzt! Seit Jahren
nervst du uns mit deinen Verdauungsproblemen, aber vernünftigen Ratschlägen
gegenüber zeigst du die Compliance eines durchschnittlichen Oberstudienrats!
Ich hab nicht die Spur von Lust, dir irgendwelche Tipps zu geben, die du eh
nicht befolgst. Friss halt weniger, und schon gar nicht diese
nahrungsmittelähnlichen Fertigprodukte!“)
All
dies dachte ich mir natürlich nur, laut antwortete ich lediglich: „Ach so?“ „Ja, und stellt euch vor, er hat
mir diesmal Blut abgenommen und…“ („Oh Scheiße, Piazzolla, und dort sitzt ganz
allein meine Traumtänzerin – blöder Höflichkeitszwang – wieso lasse ich
den Deppen nicht einfach sitzen? Aber vielleicht kann ich’s ja abkürzen…")
„Du, das interessiert
mich sehr, kannst mich nicht mal anrufen...“ „Ja, klar, nur noch ganz kurz…“
Am
Ende der Tanda wurden wir zu „Verano porteño“
mit der Erkenntnis verwöhnt, wie nutzlos doch die Schulmedizin sei, welche
nicht einmal aus einem simplen Pfortaderstau die richtigen Schlüsse ziehen
könne. Apropos: Die Gruppe um die Dame machte nun auch einen – man begab sich
zum Schuhwechsel.
Auch
unser Gesprächsgeber meinte nun: „Ja, das
war jetzt wirklich interessant – aber nun muss ich mal wieder tanzen.“
Prima,
ich wollte jetzt auch mal raus – dringend eine rauchen. Und wem dabei nur
einfällt, wie ungesund dies ist: Hätte mir draußen jemand einen Joint angeboten,
ich hätte nicht abgelehnt!
An
der kalten Nachtluft beruhigte ich mein Gemüt allmählich wieder: Wie komme ich
nur auf die Idee, dass es den meisten Milongabesuchern vorwiegend ums Tanzen
geht? Das kann man vergessen…
https://www.youtube.com/watch?v=dF-IMQzd_Jo
P.S.
Für die Tatsachen-Rechercheure: Die Geschichte ist personell und thematisch verfremdet. Um Gesundheitsprobleme
ging es nicht! Es war aber genauso schlimm wie beschrieben.
Wenn die Geschichte einen Hauch von Wahrheit hat, dann sag ich da nur: selbst schuld.
AntwortenLöschenBei einer Milonga gibt es nichts Wichtigeres, als mit einer Frau zu tanzen, mit der man tanzen will. Ein Freund oder Bekannter, der einem wegen einem "du, entschuldige, ich muss grad dringend tanzen" beleidigt o.ä. ist, hats verdient, ein Ex-Freund/Bekannter zu sein ;-)
Die Geschichte hat mehr als einen Hauch von Wahrheit!
LöschenAllerdings gab es da noch einige Nebenumstände...
Insgesamt hast aber völlig recht. Ich werde in Zukunft versuchen, meine übermäßige Höflichkeit deutlich zu reduzieren!
Das Problem ist: das hätte mir auch genauso passieren können, wie du beschrieben hast. Und das hätt mich sehr geärgert. Drum wohl meine doch recht heftige Reaktion ... ;-)
LöschenAch wieso, passt schon!
LöschenIch nehm mich nicht immer so ernst, wie es vielleicht scheint...
Robert Wachinger hat es schon gesagt, also dies nur noch mal, damit die Datenpunktzahl steigt. Höflichkeit ist toll - aber jemanden zu Beginn einer Tanda durch Vollquatschen stoppen zu wollen ist ein unfreundlicher Akt. Sowas wie ein "musst Du mir nachher unbedingt erzählen" im Weggehen scheint mir eine angemessene Antwort darauf zu sein.
AntwortenLöschenStimmt schon - ist nur je nach persönlichem Verhältnis nicht immer einfach.
LöschenAber es freut mich, dass ich endlich mal von den Kommentatoren Lebenshilfe erhalte - so rum macht es noch mehr Freude!
Lieber Gerhard,
AntwortenLöschenhattest Du mir nicht letzthin ein paar Zeilen zum "freundlich-aber-ehrlich-sagen-was-man-will" geschrieben ;-) ? War zwar in einem anderen Zusammenhang, aber gilt das nicht irgendwie in vielen Situationen?
Mir ging's mal genau anders. Ein Bekannter kam auf der Milonga zu mir, wir wechselten kurz Höflichkeiten über Befindlichkeiten, woraus sich ergab, dass es dem Bekannten nicht sonderlich gut ging, er aber gerne tanzen wolle, um dies womöglich damit ändern zu können.
Später am Abend kamen wir nochmal in's Gespräch und ICH erkundigte mich ehrlich teilnehmend etwas genauer nach seiner Situation, wollte dies auch gerne hören und wurde nach kürzester Zeit quasi mitten im Satz aufgefordert.
Da die Lichtverhältnisse so schlecht waren, dass selbst auf 5m kein Cabaceo möglich gewesen wäre, will ich dem Auffordernden unterstellen, dass er nicht wirklich mitbekommen hat, dass wir ein ernstes Gespräch führten.
Jedenfalls hatte ich echt ein schlechtes Gewissen, denn ich hab ihn - noch eine Entschuldigung murmelnd - einfach sitzen gelassen.
Das ging mir noch Tage nach. Und ich hab mir die Frage gestellt, ob ich so oberflächlich bin, dass mir der Tango, das Tanzen wichtiger ist als der MENSCH, der dazu gehört.
Liebe Grüße
Sandra
Liebe Sandra,
Löschenich würd mir in der Hinsicht kein schlechtes Gewissen machen.
Für mich ist eine Milonga dafür da, der Musik zuzuhören und zu tanzen (na ja, und gelegentlich Stoff für neue Artikel zu kriegen…).
Im Ernst: Ich finde, wichtige oder sogar tiefschürfende Gespräche sollte man woanders führen. In obigem Artikel biete ich dem Betreffenden dies ja auch an. Basis ist halt, dass man sich für den Anderen wirklich menschlich interessiert bzw. eh mit ihm befreundet ist.
Leuten, wie ich sie im Text beschreibe, ist das aber zu viel Aufwand. Ihr Bedürfnis ist es eher, eine Geschichte loszuwerden – und wenn sich die günstige Gelegenheit bietet (sprich: ein „Opfer“ greifbar ist), nützt man das halt aus.
Nochmal: Wenn ich tatsächlich Rat und Hilfe brauche, suche ich eine Gesprächssituation, die dafür geeignet ist. Die durch die Umstände eingeschränkte Lage während einer Milonga löst schwierige Probleme sowieso kaum. Dass dann die geschilderten Schwierigkeiten beim Auffordern entstehen, kommt noch hinzu. Daher finde ich Small Talk in den meisten Fällen völlig ausreichend.
„Freundlich-aber-ehrlich-sagen-was-man-will": Tja, ich fürchte, das fällt mir beim Schreiben leichter als im wahren Leben…
Danke für Deinen Beitrag und liebe Grüße
Gerhard