Wenn die Ollen erzählen…



Den argentinischen Tanzstar Gustavo Naveira kenne ich natürlich schon von seiner „Boygroup“ (zusammen mit Fabián Salas und Pablo Verón) im Filmklassiker „The Tango Lesson“. Ebenfalls ist mir geläufig, dass er seit vielen Jahren mit seiner Partnerin Giselle Anne unterrichtet und auftritt.

Dass er früher mit der Tänzerin Olga Besio verheiratet war und mit ihr zwei Kinder hat,  war mir jedoch völlig unbekannt – bis ich neulich den Link auf einen alten Artikel in der „Tango Danza“ (Nr. 1/2014 S. 6-9) entdeckte: Eine argentinische Tanzlehrerin fände es unnötig, Códigos zu unterrichten – wie interessant!

Dieser Artikel von Ute Neumaier ist auch online zu finden:

Olga Besio studierte Kunst und Philosophie, und nebenbei tanzte sie in einer Folkloregruppe.

Über ihre ersten Begegnungen mit dem Tango sagt sie:
„Damals gab es in den Clubs oft mehrere Tanzflächen, auf denen sich unterschiedliche Orchester abwechselten. Auf einer wurde immer Tango gespielt. Manche Freunde meines Vaters waren Tangueros; erst sah ich ihnen dort zu, aber bald tanzten sie mit mir. (…)
Ja, und ich habe mich selbst oft gefragt, warum sie trotz des Größenunterschieds mit mir tanzten. Später stellte ich fest, dass ich wohl schon damals eine besondere Bereitschaft hatte, den Tanz des anderen zu verstehen, mich auf ihn einzulassen. Die Frauen, mit denen sie tanzten, konnten ihnen nicht immer folgen. Aber da ich auf nichts festgelegt war, niemals irgendetwas auswendig gelernt hatte und keine Stereotypen kannte, war ich vollkommen frei. Tanzen war für mich eine völlig natürliche Sache, eine Mischung aus Freude an der Bewegung, der Musik und dem Körper. (…) Ich habe in meinem Leben keine einzige Tangostunde genommen.“

Beim Folkloretanz lernte sie Gustavo Naveira kennen; bald waren sie ein Paar und tanzen, choreografierten und lehrten an die 20 Jahre zusammen. Auch ihre Kinder Ariadna und Federico sind heute begehrte Tangotänzer – von der Mutter selber ausgebildet:
„Vor allem schützte ich sie vor denen, die ihnen Figuren beibringen wollten (…) …sie machten ihren Weg so wie ich: indem sie den Tanz spielerisch entdeckten. (…) Nur wenige Tangolehrer fragen sich, ob das, was sie unterrichten, wirklich essenziell ist.“

Über die „Tangoregeln“ vertritt sie eine Ansicht, mit welcher sie heute hierzulande wohl zu den „Außenseitern“ gezählt würde:
„Essenziell ist ganz sicher nicht, was man heute in bestimmten Szenen sieht, die sich die Kappe des Authentischen aufgesetzt haben und Códigos unterrichten. Diese wurden früher nie so genannt, es waren normale Formen der Kommunikation in einer bestimmten Umgebung. Der Cabeceo war eine ganz natürliche Sache an einem Ort, hatte aber an einem anderen keine Gültigkeit. Unter uns gesagt: Die Milongas, in denen mit Cabeceo aufgefordert wurde, waren nicht so gut angesehen. In eleganten Clubs oder im familiären Ambiente wurde so nicht aufgefordert. Aber mal ehrlich, sowas muss man doch nicht unterrichten!“

Olga Besio unterrichtet bis heute – als Showtänzerin hat sie ihre Karriere nach der Trennung von Gustavo Naveira beendet:
„Aber auf emotionaler Ebene war es nicht einfach; all das Traurige, von dem manche Tangos erzählen, habe ich erlebt: die Lügen, den Betrug, die Trennung. Die Frau im Tango wird oft schlecht behandelt; das war früher so und ist heute nicht anders. Es gibt viele Tänzerinnen, die davon ein Lied singen können. Aber das hat nichts mit dem Tango zu tun, sondern mit den Personen.“

Tja, wie mies werden bis heute Frauen beim Tango behandelt – und das unter dem Deckmantel formaler Höflichkeitsrituale… Man(n) sollte durchaus einmal darüber nachdenken!

Aber immerhin nennt der Ex-Gatte seine Verflossene noch beim Namen (was nicht bei allen Tangolehrern Usus ist):
„Mit Sechzehn wollte ich das Tangotanzen von meinem Vater lernen – aber gut, das war nicht sehr erfolgreich. Als ich in den Zwanzigern war, so um 1981, begann ich bei Rodolfo Dinzel zu lernen. Ich war in diesem Kurs einer der besten Schüler, und er beachtete mich speziell und arbeitete sehr, sehr hart mit mir. Zu dieser Zeit hatte ich eine Übungspartnerin, die ich an der Universität von Buenos Aires beim Folklore-Tanz kennengelernt hatte. Das war Olga (Besio), die später meine Frau wurde. Sie begann mich zu ermutigen, selber zu unterrichten. Ich fing mit ihr zusammen im Jahr 1983 an.”

Ziemlich gleichlautend räumen die beiden mit dem Klischee auf, die Militärdiktatur (1976-1983) hätte dem Tango ein Ende bereitet:

“Ja, die Demokratie wurde 1983 wieder Regierungsform, aber die Militärdiktatur war nicht der Grund, warum der Tango als sozialer Tanz ausstarb – sogar im der Goldenen Epoche des Tango hatten wir Perón, der auch ein Militärdiktator war! In Argentinien schieben viele Leute eine Menge Dinge auf die Regierung, weil das bedeutet, dass sie nichts selber unternehmen müssen. Das ist unser Problem.
Nein, der entscheidende Faktor für den Tango war zu dieser Zeit, dass der neue Präsident, Raúl Alfonsín, einen bedeutsamen Schritt tat. Er schuf ein Netzwerk kultureller Zentren überall in Buenos Aires und etablierte ein Programm, um Leute anzustellen, die Kurse zu einer großen Vielzahl von Themen für die Bürger der Stadt gaben – kostenlos für die Schüler.
Es stellte sich heraus, dass (…) Menschen, die Tango unterrichteten, 50, 70 oder 100 Schüler in ihren Kursen hatten. (…) Ich kenne viele Unterrichtende, welche für sich beanspruchen, ‚authentische Tangolehrer‘ zu sein, und die mit dem Tango in meinen Kursen begannen.“

Und, oh Wunder, mache „Tangogrößen“ kamen dem Newcomer arrogant und starrsinnig vor:
„Wie Sie wissen, begegnete ich in meinem Studium des Tango öfters ‚Tangomeistern‘, und selbst wenn man sich diesem respektvoll näherte, zeigten sie meist eine Attitüde von ‚ich weiß alles, du bist Sch…, belästige mich nicht‘. Dies ist eine typische Haltung einer früheren Art, den Tango zu betrachten. So war es oft sehr schwierig, von ihnen nützliche Dinge zum Tango zu lernen.“

Muss man, wie heute gern behauptet wird, zwecks Erlangung des „wahren Tango“ tief in die argentinische Kultur eintauchen?
„Die wahre Tiefe der Tangosituation ist nicht länger ein Problem der Kultur. Sie stellt ein grundlegendes menschliches Problem dar. Und die, welche noch an das andere glauben, sind altmodische Tangueros… und man kann dies sofort sehen. Und für mich ist es uninteressant.“
  

Und was ist mit der heute zur Pflicht erklärten geschlossenen Umarmung?
„Offene oder geschlossene Umarmung, mit Abstand oder nah zu tanzen, das sind veraltete Begriffe. Es ist eine alte Denkweise, die vom Mangel technischen Wissens in früheren Zeiten herrührt. Diese simple und plumpe Unterscheidung wird oft von denen benutzt, welche versuchen, die Evolution des Tanzes zu verneinen – um ihren eigenen Wissensmangel zu verschleiern. Heute ist es völlig klar, dass die Abstände im Tanz von viel größerer Komplexität sind als ein simples ‚offen’ oder ‚geschlossen‘." 

Gustavo Naveira gilt als einer der Schöpfer des „Tango Nuevo”. Was heißt das für ihn?
„Der Begriff Tango nuevo drückt aus, was mit dem Tangotanzen generell passiert, nämlich dass er sich entwickelt. Tango nuevo ist kein Stil mehr; es geht schlicht darum, dass der Tangotanz wächst, sich verbessert, entwickelt, sich bereichert, und in dem Sinne bewegen wir uns auf eine neue Dimension des Tango zu.“


Fazit

Was mir immer wieder auffällt: Die „total authentischen“ Showtänzer, welche heute auf den Milongas zum Staunen des Publikums zu einem getragenen EdO-Tango drei Runden im Caminar ums Karree stelzen, sind meist unter 40 und beten brav ihre Sprüchlein von Cabeceo und Abrazo herunter. Liest man Aussagen aus der Generation zuvor, wird es erheblich kreativer und weniger angepasst. Evolution rückwärts?

Ich glaube, es ist eher ein Konflikt wie der zwischen Kreationisten und Vertretern der Evolutionslehre – also religiöser, buchstabentreuer Rigorismus contra Naturwissenschaft und Aufklärung. Irgendwann, so die Heilslehre, wurde der Tango vom Schöpfer in der Originalform etabliert – sein Gloria liest sich wie „sicut erat in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum, amen“.

Doch selbst lebende Fossilien können dies nur begrenzt in Anspruch nehmen. Zum Trost: Vom Affen stammen wir Menschen ja – entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil – alle nicht ab. Und den Grad der Verwandtschaft darf jeder für sich selbst einschätzen…

P.S. Der Unterschied nochmal in bewegten Bildern:


Kommentare

  1. Robert Wachinger28. Mai 2017 um 13:02

    Danke für deine Links und die Videos. Sehr interessant zu lesen. Zu den Videos muss ich sagen, mein Tanzstil nähert sich je nach Partnerin (und in weit geringerem Maße abhängig von der Musik) mal dem von Roberto Montenegro, mal dem von Gustavo Naveira an ;-)
    (natürlich in beiden Fällen auf sehr viel niedrigerem Niveau, bin ja kein Profitänzer oder Tangolehrer, und wollte ich auch nie sein ...)
    Ich kann da also Olga Besio nur zustimmen, dass der Tango im Paar geschieht (der Absatz, wo sie sagt "das tanzen war schon immer eine Sache,die nur zu zweit funktioniert...", kann den seltsamerweise nicht kopieren).

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    1. Vielen Dank!

      Also, ich seh Deinen Tanzstil schon näher an Naveira. Außerdem werden wir nie erleben, wie das andere Paar auf moderne Tangomusik tanzt!

      Und ja, "it takes two to tango" - die Reichweite dieses Satzes wird gerne unterschätzt...

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    2. Robert Wachinger30. Mai 2017 um 09:04

      du siehst mich ja nie auf ner Museumsmilonga (wo ich tatsächlich gelegentlich auch bin) ;-)

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    3. Stimmt! In meinem Alter meide ich Museen jeglicher Art - man weiß ja nie, ob sie mich nicht dort behalten.

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