Die One Trick Ponys
„…man kann ja auf alles Milonga tanzen, wenn man nur fest daran glaubt.“ (Klaus Wendel)
Aktuell hat der Kollege einen Text veröffentlicht, den ich sehr gut finde – und der ihm deshalb in der heutigen Tangoszene wenig Sympathie einbringen dürfte: Er kritisiert die „Monokultur in der öffentlichen Tanzwelt“.
https://www.tangocompas.co/monokultur-in-der-oeffentlichen-tanzwelt/
Na ja, wohl nicht insgesamt – in den normalen Tanzschulen werden schon noch die üblichen Standard- und Lateinamerikanischen Tänze unterrichtet. Wobei es schon stimmt: Noch vor einigen Jahrzehnten war es durchgehend üblich, dass Schülerinnen und Schüler zirka ab der 10. Klasse praktisch geschlossen einen Tanzkurs besuchten. Dieser Trend scheint abzunehmen.
Im Tango aber sammeln sich immer mehr die Leute, welche in ihrer Jugendzeit mit dem Tanzen wenig bis nichts anfangen konnten. Der große Cassiel schrieb einmal von den eigenen schrecklichen Erlebnissen im Schultanzkurs – und da dürfte er nicht der Einzige sein:
„Als Sprössling eines Elternhauses des sog. Bildungsbürgertums war es natürlich in der gymnasialen Mittelstufe Pflicht, einen Tanzkurs zu absolvieren. Die Abschreckung hat nachhaltig funktioniert. Ich habe es seit dieser Zeit gründlichst vermieden, mich in Situationen zu begeben, in denen ich tanzen musste.“
https://tangoplauderei.blogspot.com/p/ueber-dieses-blog-und-cassiel.html
Dass diese Sichtweise den Blick aufs Tanzen verengt, kann nicht verwundern. In seinen vielen Artikeln geht es wohl deshalb eher um die Musik oder irgendwelche Regularien. Der Tanz selber stand bei ihm selten im Fokus. Und wenn, dann muss es natürlich ausschließlich Tango sein.
Der Kollege Wendel schreibt: „In der Tango-Szene prallt man erstaunlich oft auf eine merkwürdige Abwehrhaltung gegenüber anderen Tänzen – und auf dieses Bedürfnis, dem eigenen Tango-Dasein ein kleines Elite-Abzeichen anzupappen. Das Muster ist alt: Der eigene Stil wird hochgehoben, der Rest abgewertet.“
Veröffentlicht man vor Tango-Publikum gar das Video eines Turniertanz-Paars, häufen sich in den Kommentaren die Ekel-Bezeugungen: Wie könne man sich nur derart unnatürlich, gar gesundheitsgefährdend bewegen?
Originalton Wendel: „Die Abwertung anderer Tanzrichtungen – allen voran der Standardtänze – ist ein Klassiker in der Tango-Szene.“
Wendel beneidet die Standardtänzer um etwas, das im Tango fehle: rhythmische Vielfalt.
Der Autor beschreibt eine „kuriose Logik“: „Dass man mit Salsa-Schritten problemlos einen D’Arienzo tanzen könnte – auf diese Idee kommt kaum jemand. Wäre sofort ‚Stilbruch‘. Aber tangofremde Musik mit Tango-Schritten zu verarbeiten, das findet man dann wieder völlig legitim.“
Der Unsinn geht sogar noch weiter: Während man es auf konventionellen Bällen völlig normal fand, in einer Tanzrunde beispielsweise Foxtrott, langsamen Walzer und Rumba geboten zu bekommen, ist man beim Tango schon irritiert, in einer Tanda zu unterschiedlichen Orchestern tanzen zu sollen!
Heute bildet man sich schon darauf etwas ein, wenn man zu Tango, Vals und Milonga mit meist sehr ähnlichem Repertoire tanzen kann!
Auf die „Goldene Epoche“ sollte man sich dabei nicht berufen: Früher war es im Mutterland des Tango durchaus üblich, dass auf großen Veranstaltungen zwei Orchester auftraten: Eins für Tango, das andere für „otros ritmos“, also die damals gängigen Modetänze. Bei der „Cortina“ ging noch wirklich der Vorhang zu, damit die nötigen Umbauten erfolgen konnten. Heute legen die DJs zu solchen Zwecken irgendein oft tanzfremdes Gedudel auf.
Als ich mit dem Tango anfing, hatten viele noch Ahnung von den üblichen Tanzschul-Tänzen. Gut, Tango argentino hatte seine Eigenheiten – dennoch war er halt ein weiterer Tanz, in dem man vieles vorfand, was man längst in der Tanzschule gelernt hatte.
Das heutige Publikum besteht immer mehr aus Personen, die mit der Bewegung auf dem Parkett lange Zeit wenig bis nichts anzufangen wussten. In Richtung Sechzig, nach der zweiten in die Brüche gegangenen Partnerschaft, entschließt man sich dann zum Tango – der ja bekanntlich nur das „Gehen“ verlangt. Und er bietet – viel wichtiger – den Kuschelfaktor, den man im wirklichen Leben längst gegen Sorgerechts-Streitigkeiten eintauschen musste. Daher wird der „Abrazo“, also die zärtliche Umarmung, förmlich zur Zweitreligion erhoben – sicherlich auch in dem Bewusstsein, der nächste körperliche Kontakt könnte sonst vom Pflegedienst kommen…
Wendel plädiert nach eigenem Bekunden „für mehr Tanzvielfalt“. Für mich gehört dazu zwingend auch mehr musikalische Variation. Man sollte dann aber aufhören, vom eigenen Geschmack abweichende Klänge mit Hasstiraden zu verfolgen. Nicht die Musik ist ungeeignet, sondern das eigene tänzerische Vermögen.
Aus dem Pony, das nur einen Trick kann, sollte ein universell brauchbares Ross entstehen!
Schön ist Wendels Geschichte, als er es einmal wagte, zu einem Klassiker im Django Reinhardt-Sound das zu tanzen, was natürlich dazu passte: Swing. Damit erntete er auf einer Milonga wegen seines Tanzens am Platz die Bezeichnung „Pisten-Sau“.
https://www.youtube.com/watch?v=mP7hDZzuQ90
Ach, der Arme! Das ist aber kein Grund, ähnliche Beschimpfungen nun anderen angedeihen zu lassen. Und ich hätte meine Interpretation mit ein wenig Quickstep ergänzt, dann wäre ich auch von der Stelle gekommen.
Persönlich sehe ich manche Grobheiten in Tango-Diskussionen gelassen: Wie sollen es die Armen denn besser wissen, wenn sie außer Tango keine weiteren Tänze gelernt haben?
Zweifellos wird die Tangoszene Wendels Artikel mit donnerndem Schweigen begleiten. Er ist einfach zu nahe an der Realität. Gerade deshalb ist er aber so wertvoll.
Ich rate daher: Zunächst tanzen lernen – und dann Tango!
Zum Weiterlesen: https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/06/die-heilige-zweifaltigkeit-der.html
Ich hatte vorhergesagt, dass sich Klaus Wendel mit seinem „Monokultur-Artikel“ in der Tangoszene keine Freunde machen würde. Jetzt geriet er ausgerechnet mit seinem Mitstreiter Yokoito (Wolfgang Balzer) aneinander:
AntwortenLöschenWenn jemand halt statt Milonga Swing tanze und deshalb nicht von der Stelle komme, seien die Ronda-Freunde zu Recht empört! So Yokoito.
Er bringt ein Beispiel, das typisch für das tänzerische Elend in unserer Szene ist: Vor ein paar Jahren habe er beim Tanzkurs-Abschlussball seiner Tochter das Drehen beim Walzer nicht hingekriegt. Und beim Tango? Auch dort wird doch gedreht, oder?
Zum Mitschreiben: Das sind Leute, die sich via Blog über Tangofragen äußern!
Wendels Antwort ist lesenswert. Nur ein Zitat:
„Ich verlange nicht, dass jeder alle Tänze können muss.
Ich verlange nur, dass man versteht, dass unterschiedliche Musik unterschiedliche Logik hat – und dass es in einer Tanzwelt, die kulturell nicht verarmen will, normal wäre, mehrere Tänze zu kennen. So wie es früher übrigens üblich war.“
https://www.tangocompas.co/monokultur-in-der-oeffentlichen-tanzwelt/#comments
Da kann ich nur sagen: Recht hat er!
Dazu gibt es noch einen Kommentar im legendären „Kevin Seidel-Stil“. Wunderbar!