Eng oder offen tanzen?
Auf das heutige Thema kam ich durch eine sehr amüsante Geschichte der Berliner Autorin Lea Martin: „Eng oder offen…?“
Sie berichtet von ihren Schwierigkeiten bei der „geschlossenen Tanzhaltung“, die man in ihrem Tangounterricht wohl voraussetzte: Während andere Frauen sich hingebungsvoll an die Brust ihres Partners schmiegten, sperrte sie sich wie ein „störrischer Esel“ bei ihrem Gegenüber, „bis beide frustriert sind“.
Sie freue sich zwar, aufgefordert zu werden, aber sobald die Musik starte und der Partner auf Tuchfühlung gehe, spanne sie sich an und atme flach. Vielleicht solle sie lieber Salsa tanzen?
https://www.tangosociety.de/tango-eng-oder-offen-tanzen
In den sozialen Medien führen Frauen durchaus Klage über den Zwang, sich an wildfremde Männerbrüste pappen zu sollen. Vor allem, wenn sie aus Kulturkreisen stammen, in denen enges Körpergefühl eher auf sehr nahe Menschen beschränkt ist.
Ein Beispiel:
„Oft höre ich erfahrene Menschen, die eine enge Umarmung vorschlagen.
In der Kultur, aus der ich stamme, kommen wir Fremden oder auch nur Bekannten einfach nicht so nahe. Es ist eine Geste und Nähe, die Freunden und Familie vorbehalten ist.
Gibt es technische Gründe, warum eine enge Umarmung besser sein soll? Das verstehe ich als Anfängerin noch nicht. Oder ist es die Stimmung, welche die Umarmung widerspiegelt?
Ich habe auch andere Gedanken dazu, aber ich möchte wissen, was ihr alle darüber denkt.“
Typisch männliche Antworten:
„Ich will deine Bedenken nicht abtun, aber warum hast du dich entschieden, Tango auszuprobieren? Einer der einzigartigsten Aspekte des Tango ist, meiner Meinung nach, dass er Intimität und Verletzlichkeit zwischen Fremden ermöglicht. Es braucht viel Selbstvertrauen und Reife, um dies geschehen zu lassen. Ich denke, deshalb fangen die meisten Leute erst Mitte zwanzig mit dem Tanzen an.“
Oder Mitte fünfzig…
„Um es mal zu verallgemeinern: Argentinischer Tango zieht Leute an, die mit wenig Körperkontakt aufgewachsen sind. Menschlicher Kontakt ist wissenschaftlich erwiesen gut für die psychische und physische Gesundheit. Egal, ob jemand in einer Kultur mit wenig Körperkontakt aufgewachsen ist, manche Leute sehnen sich einfach nach Nähe, und Tango ist eine super Möglichkeit, dieses Bedürfnis zu befriedigen.“
Hinzugefügt wird, dass im Tango halt die Mehrheit eng tanzen wolle. Wer also viele Tanzpartner haben wolle, sollte sich diesem Trend fügen.
https://www.reddit.com/r/tango/comments/dc4hk2/open_embrace_or_close_embrace/?tl=de
Ich fürchte, die Mär von der heilsamen engen Körperlichkeit ist eine männliche Erfindung, die einem immerhin teure, tanzfreie Liebesdienste anderer Art erspart. Und das für ein paar Euro Milonga-Eintritt… Genial!
Das weckt bei mir Erinnerungen an unsere Tango-Anfängerzeit, wo wir im Kurs die Damen – teilweise ohne Hand- und Armkontakt, Brust an geneigter Brust („Apilado“) umherzuschieben hatten. Das führte bei starken Größenunterschieden dazu, dass die Nase der Frau nicht weit überm Nabel des Führenden landete. Meine Frau kann dazu heute noch tränentreibende Geschichten erzählen.
Auch Kollege Wendel scheint allmählich auf den Trichter zu kommen:
„Ja, es ist schon bezeichnend, dass sich 2 Personen, Mann & Frau, die sich oft noch nie begegnet sind, für 10 Minuten in diese co-abhängige, körperlich-nahe Vertrautheit einer Umarmung begeben; und das oft einen ganzen Abend lang mit anderen Personen. Da könnte man auf die Idee einer Polyamorie kommen und vielleicht ist das ja die Erotik, die wir zwar sexuell lustbetont verneinen, aber tänzerisch ausleben.“
Über „sexuell lustbetonte Verneinungen“ müsste ich noch länger nachdenken…
https://www.tangocompas.co/gedanken-ueber-tango-unterricht-20-teil-b/#comments
Ich halte den heutigen Zwang zum Aneinanderpappen für tänzerischen Blödsinn. Er behindert weit mehr als er nützt. Wenn ich mit einer unbekannten Tanguera loslege, bleibe ich zunächst stets auf Abstand. Im weiteren Verlauf spüre ich ja dann, in welcher Distanz sich meine Partnerin wohlfühlt – und was die Musik von uns verlangt. Selber versuche ich, permanente Nähe zu vermeiden, weil sie mich tänzerisch behindert.
Für mich ist der jeweils sinnvolle Abstand eine Funktion von Musik, Choreografie und persönlichem Geschmack. Wenn ich mit Frauen tanze, die Tango vor mehr als 20 Jahren gelernt haben, ist die Distanzfrage eh keine. Die nehmen sich stets den Raum, den sie brauchen. Und wenn sie es nah möchen, kommen sie von selber heran. Die Körper handeln das dann schon alleine aus!
Ich erinnere mich noch heute an eine Buchlesung mit anschließender Milonga. Eine begnadete junge Tänzerin ließ keinen Zweifel daran, wie sie es jeweils wollte. Und das zur damaligen, höchst temperamentvollen Musik! Ich war froh, ihr nicht allzu sehr im Weg zu sein. In drei, vier Tänzen lernte ich mehr, als mir ein Kurs je hätte bieten können.
Damals erkannte ich ansatzweise, was „Fluid Lead“ bedeutet. Es hat meinen Tanzstil bis heute entscheidend geprägt.
Was geschah nun mit der armen Lea Martin? Sie wurde endlich doch von einem „Felix“ aufgefordert, der sie anfangs sogar nach dem gewünschten Abstand fragte. Der weitere Verlauf war mehr als zufriedenstellend:
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie ja als Frau (theoretisch) über den Abstand entscheidet – und auf einmal lief es: „Der Schwung reißt uns mit, und irgendwann, ich spüre kaum, wodurch, finde ich mich wieder... Brust an Brust. Die geschlossene Umarmung ergab sich von allein, als Ergebnis einer Annäherung, die sich ereignete, einfach so, und ich genieße eine Nähe, die beim Tanzen entstand, und mich von der Angst vor enger Umarmung fürs Erste befreit.“
Na also – und wenn sie nicht gestorben sind, dann tanzen sie noch eng. Klar, es ergibt sich halt je nach Situation. Wobei hier auch der Ideologie Genüge getan ist!
Und nun lassen wir uns das Ganze nochmal genau erklären:
https://www.youtube.com/watch?v=EVA_izyDOA4
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