Tango ist Tango
Gerade wurde ich auf ein neues Tango-Blog aufmerksam, das von Yannik Vanhove ins Netz gestellt wurde. Zusammen mit seiner Frau Liz unterrichtet er seit langer Zeit Tango.
Ganz simpel „The Tango Blog“ nennt sich seine Seite – und auch der erste Beitrag ist unspektakulär betitelt: „Tango is Tango“. Dennoch ist dem Blogger mit seinem Einstand wohl ein ziemlicher Knaller gelungen.
Bereits den fettgedruckten Absatz, mit dem Yannik Vanhove seinen Artikel einleitet und abschließt, erwartet man durchaus nicht von einem Tangolehrer:
„Tango ist Tango. Traditioneller Tango ist Tango, Tango de Salon ist Tango, Tango Milonguero ist Tango, Tango Nuevo ist Tango, Tango Escenario ist Tango, Wettbewerbs-Tango ist Tango. Wir tanzen einen Tanz, der jung ist, immer noch sehr lebendig und sich weiter entwickelnd. Wir sind alle hier, um den Tanz zu genießen, den wir lieben, egal, welchen Stil. Des Tangos Schönheit liegt in seiner Vielfalt. Wir respektieren alles, denn alles davon ist Tango.“
Als reisender Tangolehrer werde er von seinen Schülern oft nach den verschiedenen Stilen befragt: Milonguero-Stil, Salon-Stil, Tango Nuevo oder Tango Escenario. Es herrsche große Unsicherheit und Verwirrung ob der ganz unterschiedlichen Informationen dazu.
In der Folge rechnet der Autor mit einem meiner „Lieblingssätze“ ab:
„Das ist kein Tango.“
„Es ist zu viel Bewegung in der Umarmung, das ist kein Tango. Es ist eine Choreografie, die Schritte sind riesig, Meisterschaften sind sinnlos, Vorführungen sind kein echter Tango, es ist alles nur Show, es ist so steif .... "
Im Verlauf der letzten 17 Jahre habe er all dies oft gehört – schlimmer noch: gelegentlich auch selber gesagt. Er sei derartig eingenommen von seiner Rolle als vermeintlich „traditioneller“ Tangotänzer gewesen, dass er es nicht schaffte und vermutlich nicht wollte, die Kunst der Tanzenden in den anderen Stilen zu sehen. Es sei ein typisches Gruppendenken: wir gegen sie. Man möchte irgendwo dazugehören. Doch nach vielen Jahren des Lernens komme er zur Überzeugung: Ob man es nun mag oder nicht – es ist alles Tango.
Das sei zugleich das Problem und die Schönheit des Tango: Obwohl es derartige Unterschiede gebe, sei letztlich alles „korrekt“ (so lange es nicht zu Verletzungen führe). Was viele Menschen verwirre und frustriere: Wenn viele Lehrer behaupteten, dass ihre Informationen die einzig richtigen seien – der einzig wahre Stil, der einzig mögliche Tango.
Die Erfahrungen von Liz und Yannik in den ersten 6 Monaten Buenos Aires: Wenn sie am Tag 4 Tangostunden bei verschiedenen Lehrern nahmen, hörten sie 4 unterschiedliche Versionen zum selben Thema. Als die beiden schon fast aufgeben wollten, gerieten sie an einige Lehrer, die ihnen tatsächlich logische Gründe nennen konnten, warum sie etwas so und nicht anders machten. Die beiden stellten nämlich stets die Frage „Warum?" und gaben sich nicht mit der Antwort zufrieden: „Weil das so gehört." Und ja, man könne in Buenos Aires durchaus großartige Lehrer finden, wenn man die „Touristen-Fallen" überwunden habe.
Sein Tipp: „Bewegen Sie Ihren Körper so, wie er sich bewegen soll, und stellen Sie sicher, dass die von Ihnen verwendeten Techniken logisch und natürlich sind. Dies ist der ‚richtige Weg', um Tango zu tanzen, unabhängig vom Stil."
Weiterhin rechnet der Autor mit dem ab, was heute als „authentischer Milonguero-Stil" verkauft wird und angeblich die einzige Tango-Art sei, welche in Buenos Aires getanzt werde. Das sei eher die Folge häufig gelesener Blogposts und der Äußerungen von Personen, welche diese Tanzweise kommerziell nutzten.
Milongueros tanzten jedoch nicht notwendigerweise den „Milonguero-Stil", sondern seien schlicht Tänzer, die sehr häufig Tangoveranstaltungen besuchten – nicht nur wegen des Tanzens, sondern auch aus sozialen Gründen, vor allem, um Spaß zu haben. Und sie legten sehr großen Wert auf die Qualität ihrer Tänze, nicht auf deren Menge.
Ihr Stil sei sehr individuell, denn in den 40-er und 50-er Jahren versuchte jeder, sich von anderen Tanzenden zu unterscheiden und möglichst nicht kopierbar zu sein. Heute dagegen wollten alle tanzen wie die anderen, die Figuren seien gleich und ziemlich vorhersehbar.
Den Ursprung des Begriffs sieht der Blogger so: Auf den überfüllten Milongas im Zentrum von Buenos Aires musste man halt sehr klein und reduziert tanzen. Auf Touristen-Fragen, was für ein Stil das sei, hörten sie wohl um 1990 die Antwort, es handle sich um Milongueros. Den „Übersetzungsfehler der letzten drei Jahrzehnte“ nennt Yannik Vanhove diese Verwechslung. Tatsächlich habe diese wohl eher aus räumlichen Gründen entstandene Tanzweise schon längst vorher „Estilo del Centro“ oder „Estilo Petitero“ geheißen.
Ein paar Leute hätten dann sehr heftig und aggressiv diesen Stil als Milonguero-Stil verkauft: „Das Eine, das Einzige, das Authentische. Und da Tango-Neulinge nicht die vielfältigen Möglichkeiten von Stilen kennen, sind Behauptungen wie diese eine sehr effektive Möglichkeit, um sicherzustellen, dass die Leute Tango ‚auf die richtige Art' tanzen möchten. Es ist ein überzeugendes Verkaufsargument, ein brillanter Schritt. Leider ist es auch sehr irreführend. Es gibt so viele Tanzende, die denken, Milonguero zu sein bedeute, Milonguero-Stil zu tanzen, oder sie glauben, dass es sich um ‚den ursprünglichen Tango' handle, während dies mit Sicherheit nicht der Fall ist.“
In den letzten 13 Jahren habe der Autor insgesamt 4 Jahre in der argentinischen Hauptstadt verbracht, und diese Form sei definitiv nicht die einzige, welche dort auf den Milongas getanzt werde. Tango sei sehr lebendig und nehme verschiedene Formen an.
„Es gibt keinen Weg, Tango zu tanzen, der ‚mehr' als andere Stile ist.“
Ebenso sei der Nuevo-Stil „echter“ Tango: Man habe versucht, Beschränkungen aufzubrechen, Bewegungen zu erweitern und dennoch energiesparender zu gestalten. Ohne das wäre der große Zustrom zum Tango ab Mitte der 1990-er Jahre ausgeblieben, der Tango ein zweites Mal fast gestorben.
Auch der heute in der Szene wenig geschätzte Bühnentango habe ab 1983 dafür gesorgt, dass unser Tanz durch Shows wie „Tango argentino“ wieder in aller Munde war:
„Wenn Sie also das nächste Mal jemanden sagen hören, dass Show-Tango kein Tango ist, erinnern Sie ihn daran, dass es ihm zu verdanken ist, dass wir Tango heute in fast jedem Land der Welt tanzen. (...) Wenn das Tanzen von Tango in einer Milonga die vollste Repräsentation des sozialen Aspekts des Tangos ist, dann ist Tango Escenario die vollste Repräsentation des – gleichermaßen wichtigen, aber oft vergessenen – künstlerischen Aspekts des Tango.“
Der Autor bricht auch eine Lanze für Wettbewerbe, die es zumindest schon seit 1920 gegeben habe. Sicherlich sei vieles vom subjektiven Geschmack der Preisrichter abhängig, aber die Vorteile überwögen: Meisterschaften seien vor allem eine Möglichkeit, tolle Tänzerinnen und Tänzer kennenzulernen, eine „Feier des Tango“.
Keinen Zweifel lässt Yannik Vanhove daran, ein Anhänger des traditionellen Tango (oder Tango de Salón) zu sein. Für ihn ist dieser Stil eine intellektuelle und künstlerische Herausforderung. Und es wäre verwunderlich, wenn er Tango-Unterricht nicht dringend empfehlen würde. Aber die anderen Stile – und das lässt aufhorchen – seien ebenso gültig!
Wahrscheinlich hänge es halt davon ab, was einen anfangs zum Tango ziehe. An dem bleibe man im Endeffekt auch hängen. (Für mich sehr interessant angesichts der Behauptungen, der Weg führe geradezu zwangsläufig vom modernen zum traditionellen Tango!)
Der Autor plädiert dafür, verschiedene Stile zu erlernen und zu mischen, allerdings auf der Basis technischer Kenntnisse:
„Eines der größten Probleme, das wir heute in der Tango-Welt sehen, ist die Verwendung der Milonguero-Umarmung, während sie versuchen, Figuren aus dem traditionellen Tango zu führen. Das ist Mord auf der Tanzfläche! Die Rückenmuskulatur der Folgenden kann nicht mit dem Druck des Armes umgehen, der den Rücken blockiert, während sie aufgefordert wird, zu dissoziieren.“ (Anm. d. Übers.: die Hüften unabhängig von der Schulterpartie zu drehen)
Sein Fazit:
„Es gibt wirklich keinen Grund für Gruppendenken, keine Notwendigkeit, andere für das zu verurteilen, was sie zum Tango zieht. Lassen Sie Tango-Tänzer Tango-Tänzer sein und erlauben Sie ihnen, sich auf jede mögliche Weise auszudrücken, solange sie sich und andere dabei nicht verletzen. Tango ist Tango.“
Hier der Original-Text:
http://liz-yannick.com/blog/2019/04/25/tango-is-tango/
Ich finde dieses Statement eines Lehrers, der traditionellen Tango tanzt und unterrichtet, wirklich beachtlich: Respekt vor anderen Tanzweisen, abweichenden Einstellungen zum Tango.
Vielleicht hilft das dabei, nun endlich ein Totschlag-Argument zu eliminieren, mit dem ich – auch persönlich – oft genug konfrontiert wurde: Das, was da Leute trieben, welche man (oft aus ganz anderen Gründen) nicht ausstehen kann, sei eben „gar kein Tango“.
Um nicht missverstanden zu werden: Das ist kein Aufruf zur Beliebigkeit! Sicherlich kann man Tanztechnik, Verbindung, Musikalität und vieles mehr im Tango beurteilen und bewerten. Es wäre allerdings nicht schlecht, wenigstens gelegentlich hinzuzufügen, dass dabei subjektive Sichtweisen eine große Rolle spielen. Das Verdikt jedoch, etwas sei halt gar kein Tango, ist das, was Yannik Vanhove „tribalism“ nennt: Ausgrenzung – du gehörst nicht zu unserer Horde – weitere Diskussionen daher überflüssig!
Ich bin daher auf kommende Artikel in diesem neuen Blog sehr gespannt. (Edit 9.8.22: Leider blieb es bis heute der einzige Artikel auf diesem Blog. Sehr schade!)
Hier ihre Website: https://liz-yannick.com/
Für heute sollten wir uns noch ansehen, wie Liz und Yannik Vanhove selber tanzen. Auf YouTube findet man eine Reihe von Videos. Ich habe eines ausgesucht, bei dem es die beiden etwas flotter als gewöhnlich angehen:
Hier ein Kommentar von Klaus Wendel:
AntwortenLöschenHallo Herr Riedl,
der Artikel „Tango ist Tango“ ist wirklich gelungen. Die Bezugsquelle war mir allerdings bekannt und witzigerweise hatte ich in meinem gerade in Bearbeitung befindlichen Artikel ein Zitat von Yannik bereits eingebaut. Allerdings in Englisch. Ich habe mir erlaubt Ihre Übersetzung zu gebrauchen, allerdings den Artikel noch nicht veröffentlicht:
"One of the single biggest problems that we see today in the world of Tango is leaders using the Milonguero-style embrace while they’re trying to lead figures from Traditional Tango. That’s murder on the dancefloor! The followers’ back muscles can’t handle the pressure of the arm blocking the back while being invited to dissociate."
Allerdings schreibt der Autor hier von dissociate, was dissoziieren - die Drehung der Hüfte unabhängig zur Schulter bedeutet.
„Eines der größten Probleme, das wir heute in der Tango-Welt sehen, ist die Verwendung der Milonguero-Umarmung, während sie versuchen, Figuren aus dem traditionellen Tango zu führen. Das ist Mord auf der Tanzfläche! Die Rückenmuskulatur der Folgenden kann nicht mit dem Druck des Armes umgehen, der den Rücken blockiert, während sie aufgefordert wird, zu dissoziieren.“
Wenn Sie jedoch Einwände haben, werde ich das ganze selbst übersetzen.
Liebe Grüße
Klaus Wendel
Hallo Herr Wendel,
Löschenklar dürfen Sie meine Übersetzung verwenden.
Das mit dem "Dissoziieren" habe ich bei der Bearbeitung übersehen. Ich habe es nun in meinem Artikel korrigiert.
Beste Grüße
Gerhard Riedl
Hier ein Kommentar von Helmuth Schaller:
AntwortenLöschenLieber Gerhard,
schon lange nichts mehr gehört von mir, gell? Aber keine Angst: Es kommt ein großes Lob von mir. Der Beitrag "Tango ist Tango" ist wunderbar! Da steht alles drin, was Du versucht hast, in hunderten Beiträgen zu schreiben. Und das ganz ohne auf andere Leute hinzuhauen. Siehst Du, SO geht das.
Und dann veranschaulicht Dir auch noch Klaus Wendel, wie man sich als normaler Mensch richtig benimmt: Will man etwas von anderen verwenden, fragt man höflich nach, ob das auch o.k. ist. Da kannste was lernen!
Gruß vom Haustroll
Tja, kein Zweifel: Ich bin von Vorbildern umzingelt...
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