Von Experten und fliegenden Hummeln

Einer meiner Dauerkritiker hat mir heute eine Frage gestellt, die ich interessant finde:

„Welche Kompetenz legitimiert Dich, andere Tänzer:innen öffentlich abzuurteilen?“

So lange ich das nicht beantworte, lasse er mich nicht in Ruhe.

Nun habe ich zwar keine Hoffnung, mit einer Antwort der Dauer-Belästigung zu entgehen – aber ich schreibe ja auch für hunderte andere Lesende.

Also: Ich fälle schon mal keine Urteile. Das wären ja verbindliche Richtersprüche, die dem Verurteilten zu einem gewissen Tun oder Lassen verpflichten oder ihm sogar eine Geld- oder Freiheitsstrafe auferlegen.

Meine Beurteilungen verpflichten zu gar nichts.

Im Einzelfall veröffentliche ich mal meine Ansichten zu  einem Tanz oder über eine Tangowerbung, nicht über Tanzende. Wie könnte ich mir Letzteres erlauben? Schon deshalb nicht, weil das ein Vier-Minuten-Tango oder ein einzelner Facebook-Post gar nicht hergibt. Vielleicht tanzt er oder sie morgen ganz anders, zu einer neuen Musik, mit einem anderen Partner? Tänze sind stets Momentaufnahmen – nicht wiederholbar. Oder die nächste Tangowerbung fällt weniger schwülstig aus.

Zudem darf man die Sparten nicht verwechseln. Auch ein Weltmeister (sogar ein echter) muss weder im Tanz noch beim Fußball ein guter Trainer sein. Mag sein, dass ihn ein Verein wegen seines Renommees verpflichtet – aber wenn die Mannschaft zu wenig Tore schießt, ist er bald wieder aus dem Geschäft.

Es stimmt, dass ich zu Vorkommnissen im Tango meine Ansichten publiziere. Voraussetzung ist aber, dass diese Dinge auch veröffentlicht wurden. Wer Antlitz oder Füße in die Kamera hält und das nachher auf YouTube betrachten lässt, setzt sich der Möglichkeit öffentlicher Kritik aus. Damit muss er leben – man hätte der Publikation ja auch widersprechen können. Würde ich über einen Tanzenden, den ich privat erlebe, wiedererkennbar Witze reißen, hätte ich ein juristisches Problem. Darauf habe ich keinerlei Appetit!

Der oben erwähnte Kritiker fragt gerne nach meiner Kompetenz. Gut, ich könnte jetzt wieder ausführlich darlegen, wie lange ich schon tanze, dass ich über tausend öffentliche Auftritte als Zauberkünstler und Moderator absolviert habe, zahlreiche Tanzturniere bestritt – und gelegentlich auch mal bei Veranstaltungen vorgetanzt habe. Aber ich habe keine Lust, dies alles wieder von Neidhammeln anzweifeln zu lassen.

Es ist viel einfacher: Niemand muss in unserer freiheitlichen Gesellschaft Kompetenz nachweisen, um etwas beurteilen zu dürfen. Man braucht auch keine öffentlichen Demonstrationen seines Könnens zu liefern. In den sozialen Medien äußern sich Millionen Menschen beispielsweise über politische Themen, müssen aber nicht belegen, dass sie davon etwas verstehen. Es bleibt dem Urteil des Lesenden vorbehalten, wie er die jeweilige Sachkunde einschätzt.

Es ist sogar noch schlimmer: Wir leben nicht in einer Aristokratie („Herrschaft der Besten“), sondern in einer Demokratie. Jeder und jede darf an Wahlen teilnehmen, wenn er oder sie ein gewisses Alter erreicht hat und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Er oder sie kann sich sogar in ein Parlament wählen lassen. Niemand wird gezwungen, seine „politische Kompetenz“ nachzuweisen. Man mag das bedauern – und manche Wahlergebnisse scheinen einem Recht zu geben. Dennoch: Wer soll denn festlegen, ab wann die Sachkunde ausreicht, um sein Kreuz machen zu dürfen oder gewählt zu werden?

Apropos: Tangolehrer ist ein freier Beruf ohne staatlich anerkannten Abschluss. Ein Nachweis der „Kompetenz“ wird nicht verlangt.

Halten wir fest: In unserer liberalen Gesellschaft darf sich jeder und jede öffentlich äußern, ohne einen Eignungsnachweis vorlegen zu müssen. Der Leser (oder Kunde) muss selber einschätzen, wie sehr er Informationen oder Ansichten vertraut.

Ich glaube, nach über einem Vierteljahrhundert Tango kommt bei mir einiges an Wissen und Erfahrung zusammen. Vor allem, wenn man dann noch für ein Buch (in drei Auflagen) recherchiert hat und an die 2000 Blogartikel veröffentlicht. Dennoch habe ich stets Wert darauf gelegt, mich nicht als „Experte“ aufzuspielen. Es gibt im Tango genug Leute, die sich damit wichtigmachen. Von denen wollte ich mich abgrenzen.

Ich sah meine Rolle stets als die eines Kunden, dem ein bestimmtes Produkt angeboten wird. Und der ist ja angeblich König und darf sagen, wie es ihm gefällt. Wenn er ein Restaurant besucht, muss er kein ausgebildeter Küchenchef sein, um ein Essen zu beurteilen. Er darf auch einfach sagen, ob und wie es ihm geschmeckt hat. Sogar öffentlich!

Die Lesenden müssen halt dann entscheiden, ob sie diese Einschätzungen für überzeugend halten. In der Wahl der Kriterien sind sie frei. Sie können sich der Ansicht von Fachleuten anschließen oder dem eigenen Urteil vertrauen. Beides ist erlaubt.

Experten müssen nicht immer richtig liegen:

In den dreißiger Jahren haben Aerodynamiker ausgerechnet, dass es eigentlich unmöglich ist, dass Hummeln fliegen: Ihr Körper ist mit seinen rund 1,2 Gramm im Verhältnis zur Flügelfläche von 0,7 Quadratzentimetern schlichtweg zu schwer.

Die Unternehmerin Mary Kay Ash sagte dazu: „Aerodynamisch gesehen sollte die Hummel nicht fliegen können, aber die Hummel weiß das nicht und fliegt deshalb trotzdem weiter.“   

Das könnte man auch auf den Tango übertragen!

Hier noch der naturwissenschaftliche Hintergrund:

Kommentare

  1. Der Streit um meine Teilnahme an einem Tangokurs („Sag feig, Riedl!“) hat nun, wie erwartet, zur Exhumierung früherer Kritiker meines Blogs geführt.
    So schreibt Christian Birkholz an Klaus Wendel:
    „Ich denke, durch Euren freundlichen Briefwechsel, ist jetzt allen klar geworden, dass Riedl keine Ahnung hat von was er da eigentlich schreibt. Das hat er mit der Ablehnung des Tangokurses fundamental zum Ausdruck gebracht.“
    Die Zielrichtung des freundlichen Angebots hat nun Klaus Wendel offenbart, der darauf antwortet:
    „Es geht nicht unbedingt darum, ob Riedl an einem Unterricht teilnimmt, sondern dass er sich mit seinen Tanzkenntnissen einer öffentlichen Diskussion über seine Kompetenz stellt.“
    https://www.tangocompas.co/elementor-2446/#comments
    Merke: Bei Tangokursen geht es überhaupt nicht darum, etwas zu lernen. So radikal hätte nicht mal ich es formuliert. Vielmehr soll man öffentlich vortanzen und so seine „Kompetenz“ beweisen.
    Und Tanzkurse sind angeblich „öffentlich“. Da hätte ich juristische Bedenken…
    Und ganz aktuell schreibt Klaus Wendel:
    „Natürlich darf jeder alles sagen. Es geht nicht ums Dürfen, sondern ums Warum sollte man dir zuhören?“
    https://www.tangocompas.co/antwort-von-bienen-burgern-und-beurteilungs-umwegen/
    Ich betreibe schon mal einen Blog und keinen Podcast. Lesen würde mir reichen. Tja, warum sollte man lesen, was ich schreibe? Da kann ich nur sagen: offenbar tun es viele. Aber ich billige jedem seinen persönlichen Grund zu. Selbst Herrn Wendel.

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  2. Klaus Wendel hat nun in diesem Zusammenhang eine interessante Aussage veröffentlicht:
    "Wenn jemand eine Bühne nutzt, darf man auf dieser Bühne antworten. "
    Na, lieber Klaus, ich nehme an, dass es in deiner Gegend ein Stadttheater oder Ähnliches gibt. Einfach mal ausprobieren: Während einer Aufführung auf die Bühne klettern und eigenen Quatsch deklamieren. Und sich bei Aufforderung weigern, sich zu entfernen. Das könnte eine Strafanzeige des Theaters wegen Hausfriedensbruchs geben!
    Hier nachzulesen: https://www.tangocompas.co/antwort-von-bienen-burgern-und-beurteilungs-umwegen/

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