Ni una menos - nicht noch eine weniger!
Bekanntlich
ist in Argentinien alles besser – zumindest im Tango. Dies erfahren die
begeisterten Leser/innen einmal mehr im neuesten Blogbeitrag bei „Berlin Tango Vibes“, einem Interview
mit der Tangolehrerin und Showtänzerin Michaela
Böttinger, die mit ihrem Partner Cristian
Miño in Buenos Aires lebt und arbeitet. Ihre Website ziert das allfällige
Osteopathie-Foto:
Unter
dem Titel „Tangokultur“ beschreibt
Böttinger, was uns im deutschen Tango fehlt:
„Die weibliche Rolle,
die weibliche Sicht im Tango. Die ist
gerade kulturell sehr unterschiedlich. Ich habe ja auch hier in Deutschland
angefangen. Als ich dann nach Argentinien kam, habe ich gemerkt, dass ich mit
dem Tango nochmal ganz von vorne anfangen musste.
(…)
Hier sind die
unterschiedlichen Rollenbilder ein bisschen verloren gegangen. Ich glaube, das
ist aber gerade der Reiz im Tango: Sich wieder als Frau und Mann zu finden. Im
Alltag ist hier alles sehr gleich. In Argentinien ist es hingegen ein bisschen
altmodisch. Schon wenn ich ins Flugzeug steige, habe ich das Gefühl, es ist wie eine Zeitreise.
Die Männer halten einem die Türen auf, sie lassen dich zuerst in den Bus
einsteigen, sie bieten dir einen Platz an, also lauter solche Gesten. Das
steckt alles im Tango mit drin. Die Frauen dort kleiden sich auch ganz anders,
sehr figurbetont. Es ist dort auch ganz toll, wenn man einen großen Po hat.
Hier ist alles eher möglichst versteckt. Dort dagegen sind die Frauen richtig
stolz auf ihren Körper.“
In
Punkto Rücksichtnahme auf die weibliche Selbstständigkeit haben wir
germanischen Kerle noch viel zu lernen:
„Das ist wie in einer
Beziehung, wenn ich nur nehme oder mich mitziehen lasse, dann ist sie grau und
leer. Die Männer hier tanzen oft mit der Einstellung, dass sie alles machen
müssen … und lassen der Frau nicht den Raum.“
Vor allem aber marschieren die Frauen am Rio de la
Plata an der emanzipatorischen Spitze
des Fortschritts:
Wenn man auf der
Milonga in Buenos Aires die Paare anschaut, ist das deutlich zu sehen, gerade im
Unterschied zu den Ausländern. Die Ausländerinnen kommen oft ganz schüchtern an
und verstecken sich in der Umarmung. Die
Argentinierinnen, die gehen da hin und umarmen mit dem ganzen Körper, wie
Löwinnen.“
Und ansonsten schütze ja schon
der Cabeceo vor drohenden seelischen Verletzungen…
Hier
der Originaltext:
Ich hatte eigentlich nicht vor,
zum x-ten Werbetext übers Postkarten-Argentinien einen Kommentar abzugeben. Klar, wenn man nicht nur in Buenos
Aires, sondern auch anderswo Tangounterricht verhökern will, ist die Exotik-PR nahezu ebenso ein Muss wie in Bayern das Hochglanzfoto
von Königsee respektive Neuschwanstein oder gar das Logo eines raumfliegenden
Ministerpräsidenten – das Hasenbergl oder sterbende Dörfer in der Oberpfalz
kämen weit weniger gut rüber.
Allerdings habe ich es dann doch
nicht lassen können, einmal das Internet über die Frauenrechte in Südamerika,
speziell im Tangomutterland, zu befragen. Was da schon nach kurzer Zeit
herauskam, lässt, grob formuliert, den Schluss zu:
Was argentinische Frauen mit Löwinnen gemein haben, ist in erster Linie ihre Gefährdung: Zirka alle 30 Stunden kommt in diesem Land eine Frau durch häusliche oder
sexuelle Gewalt ums Leben!
In ganz Lateinamerika stellen
sich die Probleme ähnlich dar: Ungehorsam, gar Untreue gegenüber dem Partner
wird – wie sintemalen in den Tangotexten geschildert – vom (Ex)Mann öfters
mit Gewalt, ja der Todesstrafe belegt. Die Justiz, fest in Männerhand, urteilt
eher milde: Zwar gibt es seit 2012 einen eigenen „Femizid“-Paragrafen, der lebenslänglich vorsieht. Und es heißt nun nicht mehr „Verbrechen aus
Leidenschaft“ wie früher,
dafür aber billigen die Richter den Angeklagten gerne einen Zustand „gewaltsamer Erregung“ zu – was so viel
wie „Totschlag im Affekt“ bedeutet.
Also bleibt es oft bei einer zeitlich begrenzten Haftstrafe. Dies gilt auch,
wenn der Männe sich vorher das Benzin besorgt, mit dem er dann seine Gattin
hexenmäßig abfackelt wie im Fall der dreißigjährigen Wanda Regal im Jahr 2012.
Seit
einigen Jahren machen nun Frauen durch lautstarke Proteste gegen solche Verharmlosungen mobil: Das Schlagwort „Ni una menos“ ist inzwischen in
aller Munde: Nicht noch eine Frau soll Opfer von Gewalttaten werden.
Die
lateinamerikanische Machokultur hat
nicht ganz den Tangocharme, mit dem
sie uns hierzulande angepriesen wird. Mag ja sein, dass die Latinas gerne stolz
auf ihren Körper sind – das Frauenbild in den Medien allerdings ist
katastrophal: In den Fernsehshows werde die Frau „wie eine Sache gezeigt und dargestellt, wie ihre Brüste und ihr
Hintern in der Öffentlichkeit betatscht werden". Ob es dann noch so toll
ist, einen großen Po zu haben, wie Frau Böttinger
meint, erscheint mir fraglich.
Die
Benachteiligung der Frauen in der
argentinischen Gesellschaft ist allumfassend: Frauen verdienen im Schnitt 27
Prozent weniger als Männer. Das traditionelle
Rollenverständnis bezüglich Berufstätigkeit und Haushalt dominiert unangefochten.
Sexualaufklärung an den Schulen ist
weiterhin ein Tabuthema, Verhütungsmittel
gibt es nur gegen Barzahlung, erst heuer scheiterte ein Gesetz zur Liberalisierung der Abtreibung. „Nach Schätzungen des argentinischen
Gesundheitsministeriums werden jährlich in dem Land über 350.000 illegale
Abtreibungen durchgeführt. Rund 50.000 Frauen würden jedes Jahr nach diesen
Eingriffen in Krankenhäuser eingeliefert.“
Auch
dieses Problem gibt es generell im katholisch dominierten Südamerika:
„Nur in drei von 21
Ländern Lateinamerikas, nämlich Uruguay, Kuba und Puerto Rico, ist Abtreibung
innerhalb der ersten drei Monate straffrei. Im Rest der Region ist ein
Schwangerschaftsabbruch verboten und nur bei Lebensgefahr für die Mutter oder
nach einer Vergewaltigung erlaubt. In Chile, Honduras, Nicaragua, El Salvador
und in der Dominikanischen Republik ist die Abtreibung komplett und ohne
Ausnahmen unter Strafe gestellt.“
Nun
werden natürlich Leser, denen das ganze Thema nicht passt, augenrollend fragen,
was denn dies mit dem Tango zu tun habe.
Ich würde mir wünschen: gar nichts.
Dann soll man aber auch das Weihrauchschwenken hinsichtlich der ach so
vorbildlichen „Tangokultur“
Argentiniens unterlassen! Vieles am pomadisierten Kavaliersgehabe und dem
augenzwinkernden Cabeceogetue ist wohl nur die Patina, unter der sich ein
teilweise krasses Machtgefälle verbirgt.
Daher
meine ich: Aufgeklärte Gemeinwesen
wie in Mitteleuropa und anderen Teilen dieser Welt müssen sich wahrlich ihre Blaupausen fürs Geschlechterverhältnis
weder in den betonierten Gesellschaftsstrukturen der 1940-er Jahre suchen noch
gar bei denen, die seither wohl wenig dazugelernt haben. Obwohl auch
hierzulande die Gleichberechtigung
noch nicht in jeder Hinsicht umgesetzt ist, haben wir doch jedes Recht, die
Sitten und Gebräuche auch (!) im Tango unserem aktuellen Verständnis vom Zusammenleben von Frauen und Männern anzupassen.
Verlogene
Klischeebildchen
von der ach so heilen Welt gar nicht guter alter Zeiten helfen da nicht
wirklich!
Und
um noch zum anderen erwartbaren Einwand zu kommen: Nein, ich war noch nie in Buenos Aires. Nach Michaela Böttinger hätte das auch gar keinen Zweck:
„Wenn ein deutscher
Mann in Argentinien auf eine Milonga geht, sitzt er da und tanzt vielleicht mit
einer Ausländerin. Aber nicht mit einer Argentinierin…“
Na
eben!
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