Die Prinzen auf der Erbse
„Da freute sich die
Königin, denn daran konnte man sehen, dass sie eine echte Prinzessin war, denn
sie hatte durch zwanzig Matratzen und zwanzig Daunendecken die Erbse gespürt. So
feinfühlig konnte niemand sein, außer einer echten Prinzessin.“
(Hans Christian
Andersen: „Die Prinzessin auf der Erbse“)
„Junge Herren der heutigen Generation
ziehen sich häufig bei Festen, bei denen als Tänzer auf sie gerechnet wird, in
das Spiel- oder Rauchzimmer zurück, mit vollkommener Ignorierung der
Tanzpflicht. Das ist taktlos und unhöflich, aber auch anmaßend gegen die meist
sehr tanzlustigen Damen.“
So
heißt es in einem Benimmratgeber um 1900.
Während
bei uns die Politik händeringend versucht, eine Frauenquote von zumindest 30
Prozent zu etablieren, ist auf dem Parkett der weibliche Anteil seit jeher
deutlich höher: Frauen und Frisöre tanzen halt lieber, während der
bundesdeutsche Hetero-Mann unter Umgehung dieses Balzrituals eher gleich zur
Sache kommen will. Diese Tatsache liegt wohl an einer genetischen Anlage
des weiblichen Geschlechts: dem „Zum Tanzen-Gen“.
Die
Freunde des traditionellen Tango, welche sich auch sonst lieber gegen den
Uhrzeiger bewegen, befinden nun zunehmend, ab 50 Prozent sei es mit der
Emanzipation genug: Auf Encuentros, Marathons und ähnlichen geschlossenen
Tangoveranstaltungen gilt für die überzähligen Damen das
Metzgerei-Verbotsschild: „Wir müssen
draußen bleiben.“
Wie
immer dürfte bei Verknappung der Andrang zunehmen: Zu welchen Varianten
trickreichen Wohlverhaltens es in der weiblichen Tangoszene kommen mag, möchte
ich mir lieber nicht vorstellen...
Wozu
eigentlich der ganze Sums? Als ich mit dem Tango anfing, waren auf den Milongas
Frauenquoten von 70 Prozent keine Seltenheit. Ich erinnere mich noch an einen
Tangoabend, auf dem zirka zwanzig Frauen gerade einmal fünf Männer
gegenüberstanden. Nun, wir taten halt unser Möglichstes, und ich hatte nicht
den Eindruck, dass auf der anderen Seite pure Verzweiflung herrschte. Übrigens
mit einer Ausnahme: Der anwesende Tangolehrer und Buchautor zog sich meditativ
sowie nicht tanzend in eine stille Ecke zurück. Einer Tanguera reichte es
irgendwann, und sie forderte ihn auf. Nach dem Meister-Tango fragte ich meine
Bekannte, wie es denn gewesen sei. Ihre legendäre Antwort: „Das Buch war besser.“
Wieso
das „Problem Frauenüberschuss“ nun gerade heute als so dringlich erachtet wird,
erschließt sich mir überhaupt nicht: Seit Jahren beobachte ich einen deutlichen
Rückgang des Anteils der Tänzerinnen – im Schnitt auf nicht viel mehr als 50
Prozent (für uns Herren nicht gerade ein Kompliment). Zudem stamme ich noch aus einer Epoche, in der Tango als Abenteuer
gesehen wurde und Spaß machen durfte. Milongas besaßen für uns „Wundertüten-Charakter“.
Wenn es einmal – aus welchen Gründen auch immer – mit dem Tanzen nicht so lief,
konnten wir uns ja unterhalten, der Musik zuhören oder (für mich immer noch
eine Lieblingsbeschäftigung) uns an den Absonderlichkeiten auf dem Parkett
delektieren.
Natürlich
kenne ich die Klagen von Tänzerinnen über das stundenlange Herumsitzen. Dies
resultiert aber weniger aus dem niedrigen Männeranteil, sondern aus deren
mangelndem Mut, erstens mehr und zweitens auch einmal mit unbekannten
Partnerinnen die Tanzfläche zu betreten. Auf Milongas beobachte ich manchmal
Kerle, die eineinhalb Stunden nachdenken, bis sie sich endlich trauen, eine
Dame aufzufordern, welcher sie sich garantiert nicht unterlegen fühlen. Ein
Tipp, Jungs: Die allermeisten Frauen wollen sich einfach bewegen (drum heißt es
ja „Frauenbewegung“) – ihr braucht da
kein „Pablo Verón-Repertoire“
abzuspulen! Und fordert auch mal sehr gute Tänzerinnen auf: Die tanzen nämlich
brav das, was ihr geführt hättet, wenn ihr führen könntet…
In
der noblen Welt der einladungspflichtigen Encuentros und Marathons mögen solche
Gedanken kaum eine Rolle spielen. Dafür gehören dort offenbar neben Gürteln und
Hosenträgern auch noch Sicherheitsgurte zur mentalen Grundausstattung: „Berechenbarkeit“
ist das Zauberwort. Man will genauestens wissen, auf welche Musik man sich
einlässt (natürlich zur Vermeidung von Überraschungen nur hundertmal gehörte
Aufnahmen), und dann natürlich nur mit bestimmten Tänzerinnen zu den genau
passenden Klängen hinter dem Vordermann herdackeln. Alles muss seine Ordnung
haben, und daher müssen die Paarungen ohne Rest aufgehen. Wie spannend! Wechsel
der Führungsrollen, gleichgeschlechtliche Paare? Hat wohl alles keinen Platz beim Micky Maus-Tango in Entenhausen…
Vor
diesem Hintergrund glaube ich nicht mehr an das Märchen, man wolle mit dem „Frauen-Pflichtteil“
oder dem Cabeceo die Damenwelt vor Zumutungen beschützen. Diese männliche
Zwecklogik ist für mich genauso überzeugend wie die Behauptung, man unterließe
lieber das Abspülen, als – wegen der eigenen Ungeschicklichkeit – zu viele
Teller fallen zu lassen. Schlau ausgedacht, ihr Burschen, aber genau andersrum
wird ein Schuh draus: Je mehr Frauen da sind und je öfter die sich trauen
würden, in hartnäckigen Fällen auch verbal aufzufordern, desto geringer
eure Optionen, mit der Wurst nach der Speckseite zu werfen! (Meine Tangofreundin Annette nennt das zu Recht "Bachelor-Verhalten".)
O
mei‘, mit irgendeiner Tänzerin zu irgendwelcher Musik, wie schrecklich! Nein,
der konservative Tanguero von heute ist nicht nur am Hintern derartig
dünnhäutig, dass er trotz Matratzen und Eiderdaunendecken das Gefühl hätte, nicht auf einer Erbse, sondern auf
einem Basketball zu nächtigen. Risiko, Abenteuer und Herausforderung? Nö,
lieber nicht! Ein solches Herumgememme verzogener Prinzen hat allerdings mit
dem Mut der Männer, die vor über hundert Jahren mit einem Handköfferchen in die
neue Welt auswanderten und dort unseren Tanz erfanden, nicht das Geringste zu
tun. Traditioneller Tango? Dass ich net lach…
Gott sei Dank
müssen heute die Männer hierzulande ihre Tapferkeit nicht mehr beweisen, indem
sie sich der Mensur auf schwere Säbel stellen oder gar in den Krieg ziehen. Ein
wenig „preußische Disziplin“ würde aber über das Zusammenkneifen der
Arschbacken dazu führen, dass man die Erbse nicht mehr spürt!
Zu
wilhelminischen Zeiten durften Offiziere zwar keinen Tango tanzen – in Punkto „Knigge“
war man allerdings auf dem Parkett schon weiter. In dem sehr
lesenswerten „Gentleman Blog“ (http://www.gentleman-blog.de/2015/03/16/tanzen-knigge)
berichtet der
Sänger und Benimmexperte Christoph Sauer
vom Hausball eines Obersts um 1900. Dessen Gattin rief den Offizieren zu:
Hallo Gerhard,
AntwortenLöschendas ging ja schnell mit dem angekündigten Kommentar zu Thema!
Ja, Fakt ist, dass es nun mal mehr Damen als Herren gibt, die gern Tango tanzen. So ist das Leben, und das wäre kaum ein Problem, wenn sich genügend Männer fröhlich auf Überraschungen einlassen würden. Denn viele Damen wollen gar nicht ununterbrochen tanzen, sie sitzen auch gern mal (und beobachten, schwatzen, hören der Musik zu usw), aber natürlich natürlich wollen sie AUCH und nicht zuwenig tanzen, und das gern mit verschiedenen Männern.
Das Problem entsteht durch das Verhalten einiger (zum Glück nicht aller) Männer, die große Angst vor dem Unbekannten haben.
Ein Prachtbeispiel für solche Ängstlichkeit zeigt sich im folgenden Zitat aus Christian Toblers Gastbeitrag bei Cassiel zum Thema "Encuentros" (nach dessen Lesen mir übrigens klar war, dass ich in diesem Leben niemals ein solches Encuentro besuchen werde):
Nachdem er sich über einige Tricks von Singledamen aufgeregt hatte, sich eine Einladung für ein solches Event "zu erschleichen":
"Denn ein bis zwei Dutzend solcher Tänzerinnen ohne Anhang können die Stimmung eines Abends unwiederbringlich kippen lassen.
Ich habe das vor nicht allzu langer Zeit eins zu eins erleben müssen. Der Stress für die Männer wurde so groß, dass oft über 30 der anwesenden männlichen Tänzer den Tanzraum für längere Zeit verlassen haben, um anderswo aufzutanken. Im Tanzraum standen dann jedem verbliebenen Tänzer zwei bis drei Frauen gegenüber, die um jeden Preis tanzen wollten. Entsprechend aggressiv war die Stimmung. "
Die armen, armen Männer, was für ein Stress! Toblers Wortwahl zeigt, welche Aggressionen diese armen Männer aufstauen müssen:
"Da Frauen sehr gewieft darin sein können, Ziele allen Hindernissen zum Trotz zu erreichen, tricksen rücksichtslose Exemplare dieser Spezies für solche Veranstaltungen längst rabiat."
".. solchen Exzessen.."
"...solche Machenschaften..", "..Konsequenterweise müsste man dergestalt tricksenden Frauen während der Veranstaltung ausladen, .." Ja, wir brauchen eine Tangopolizei!
Jaja, diese armen Kerle sich die wahren Opfer und werden von den unverschämten Damen bedrängt.
Liebe Annette,
Löschendas Gepolter des Herrn Tobler kenne ich natürlich – wollte extra darauf verzichten, ihn abermals zu zitieren, denn er ist – nachdem ihm ein Gegner mal mit dem Anwalt gedroht hat – blogmäßig völlig in der Versenkung verschwunden. Jetzt hast Du diese Sprüche entdeckt, und ich bin aus dem Schneider!
Übrigens schreibt er auf seiner Website www.argentango.ch inzwischen über die „Tangoplauderei“: „Lange das intelligenteste deutschsprachige Blog zum Thema Tango argentino“. Finde ich lustig!
Wie gesagt, für mich ist der Tango stets ein Abenteuer: Was sich auf einer Milonga ergibt, weiß ich erst hinterher – und ich bin froh, dass es so ist.
Ein größerer Teil der heutigen Population dagegen sucht im Tango die per Satzung verordnete Glücksgarantie und zahlt dafür mindestens 500 € pro Wochenende. Da ist man dann schon sauer, wenn eine Handvoll Weiber einem den ganzen Spaß verderben…
Die echten Taliban erwarten die 60 Jungfrauen erst nach dem Märtyrertod im Paradies. Da ist der traditionelle Tango schon weiter.
Herzliche Grüße
Gerhard
Herrlicher Text. Hatte heute übrigens wieder Gelegenheit zu Feldstudien. Ca 120 Besucher, vielleicht eine Handvoll Frauen mehr...null Stress. Vielleicht ist es mit der Selektion so wie in der Geschichte mit den Löwen...ein Mann klatscht alle paar Minuten in die Hände. Fragt ein zweiter nach dem Warum. "Wegen der Löwen...das hält sie ab.". "Aber hier sind doch gar keine Löwen!" "Ja, es funktioniert..."
AntwortenLöschenDazu passt der von Alfred Hitchcock geprägte Begriff “Mac Guffin”: ein vorgeblicher Handlungsanlass, der den “suspense” eines Films befördert, ohne wirkliche Bedeutung für den Ablauf zu haben – „the thing the spies are after and the spectators don’t care“.
LöschenSchön ist diese Erklärung Hitchcocks im Gespräch mit Francois Truffaut (zu Ehren Yokoitos in Englisch):
“It might be a Scottish name, taken from a story about two men in a train. One man says ‘What’s that package up there in the baggage rack?’, and the other answers ‘Oh, that’s a McGuffin’. The first one asks ‘What’s a McGuffin?’. ‘Well’, the other man says, ‘It’s an apparatus for trapping lions in the Scottish Highlands’. The first man says ‘But there are no lions in the Scottish Highlands’, and the other one answers ‘Well, then that’s no McGuffin!’. So you see, a McGuffin is nothing at all.”
Manchmal, werte Prinzesin, ist der alte Drache die bessere Wahl. (Und der brät Dir auch amal ein ordentliches Stück FLEISCH!)
AntwortenLöschenWer den Gag nicht versteht: Einfach mal in der Neufassung des "Milonga-Führers" die Seite 76 aufschlagen!
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