Projekt Piazzolonga

 

Gestern machte eine meiner Tangofreundinnen auf der FB-Seite „Tango München“ ein bemerkenswertes Angebot. Sie wolle noch keine konkrete Veranstaltung bewerben, sondern erstmal das Interesse sondieren:

„Ich bekenne, dass ich keine EdO-Anhängerin bin (ja, es gibt wunderschöne Tangos aus dieser Zeit, aber nein, ich muss/mag nicht den ganzen Abend die gleichen abgenudelten Knisterplatten hören...nach dem 3. Stück wird mir langweilig).

Ebenso fühle ich mich aber auch auf Neo-Veranstaltungen nicht wirklich wohl (zu viel Neo, zu wenig Tango). Was ist mit den vielen interessanten und tollen Tangos dazwischen, von 1945 bis heute? Warum werden die nirgends gespielt??? (Abgesehen von den ca. 20 immer gleichen, genauso abgenudelten Alibi-Stücken)

Nachdem aber Jammern nicht wirklich hilft, wollen wir etwas dagegen tun!

Nach zwei Privat-Milongas als Versuchsballon überlegen wir, das offiziell zu veranstalten.

Eine schöne Location dafür hätten wir, das KIM (Kino im Einstein, neben der Unterfahrt).

Unser Motto wäre: Tangos, nicht älter als wir.

Wäre denn dafür Interesse da? Gibt es in München und Umland noch mehr solche wie wir?

Da die Location ein Nebenraum des Kinos ist, könnte man die Milonga auch mit passenden Filmen kombinieren.

....was mich zu meiner zweiten Idee bringt:

Nachdem mich der Film ‚The year of the shark‘ über Astor Piazzolla ziemlich fasziniert hat und es Piazzolla-Stücke und Interpretationen von klassisch bis modern gibt, basteln wir gerade an einer Piazzolonga (richtig erkannt: ich bin der Meinung, man muss nicht zu Piazzolla tanzen, aber man kann! Und ich kann und mag.). Je nachdem, wie Euer Interesse oder Eure Rückmeldungen ausfallen, wird sie privat (mit persönlicher Einladung, als geschlossene Gesellschaft) oder offiziell als offene Veranstaltung stattfinden.

Also, was meint Ihr???“

Was mich schon einmal freut: Es gibt bislang fast 40 „Gefällt mir“-Angaben und über 30 Kommentare, die oft sehr positiv und interessiert ausfallen.

Glücklicherweise fand ich aber auch einiges, das satirisch verwertbar ist:

So bekennt einer, schon seit 2009 Tango-DJ zu sein und sämtliche Vorgaben der Tango Taliban in den Wind geschossen“ zu haben. Er spiele jedoch „so gut wie keinen Neo- und Nontango“, da er „selber voll auf die Tangos zwischen 1930 und 1960 abfahre“. Es gebe bei ihm aber immer wieder mal „Ausreiser“: So habe er neulich doch glatt „eine gemischte Tanda Pugliese Piazzolla“ aufgelegt – oder mal was von „Sexteto Cristal“. Wow – bei einem derartigen revolutionären Impetus wird mir schwindlig!

Verschiedentlich merkt man an, eine solche Musik scheine „nicht so doll tanzbar“ zu sein.

Auch ein Münchner Tanzlehrer gibt zwar zunächst zu Protokoll:

„Alles, was frischen Wind bringt, finde ich ziemlich großartig. Ich komme also gern.“

Freilich müsse man auch die Gefahren bedenken:

„Schwierig wird es, die Leute dauerhaft für sowas zu begeistern. Ich persönlich tanze sehr gerne auf Musik, die ich nicht kenne, was mich nahezu zwangsläufig zum Neo und Nontango gebracht hat. Aber selbst in diesen Kreisen stelle ich fest, dass die Menschen oft lieber auf bekannte, gewohnte Stücke tanzen.

Da die Waage zu finden wird spannend.

Und Piazzolla gibt es hunderte Versionen... Teilweise leider wirklich nicht zum Tanzen, besser zum Hören, da Tempowechsel nicht immer vorhersehbar interpretiert werden. Da verliere ich den Bezug.“

Ja, wer hätte auch angenommen, dass ein Tanzlehrer in der Lage ist, Tempowechsel zu interpretieren? Verrückte Idee!

Die „spannende Aufgabe“ werde sein, „die richtigen Aufnahmen zu finden“. Nun ist Astor Piazzolla seit über 30 Jahren tot – und schon macht man sich in der Tangoszene auf, passende Einspielungen zum Tanzen zu finden… Nur nichts übereilen!

Ich hätte da gewisse Angebote:

https://milongafuehrer.blogspot.com/search/label/Piazzolla%20zum%20Tanzen

 Eine Kommentatorin meint:

„Die Wenigsten können Tangos außerhalb der EdO rhythmisch/melodisch umsetzen - die späteren innerhalb der EdO sind oft schon schwierig. Ich war nicht immer EdO-Fan, bin es aber, seit ich die Feinheiten hören und tanzen kann, und weil ich verstanden habe, dass nicht einmal alle führenden Musiker:innen den Rhythmus sinnvoll bis in die Tangoschuhe kriegen.

Ich mag es nicht, wenn jemand (späten) Pugliese ungenützt verstreichen lässt oder unmusikalisch tanzt. Kurz: EdO ist einfacher und den meisten Menschen zugänglicher. Gotan und so weiter funktioniert dann wieder super, weil die Musik wieder weniger musikalisch anspruchsvoll ist - was nicht heißt, dass sie nicht gut oder schön ist.“

Toll, da ist es wieder, das Argument von den musikalischen Feinheiten"! Die Entstehungsgeschichte ist wohl die, dass ein musikalisch Grenzbegabter nach drei Jahren merkt, wie ein Bandoneón mal Achtel oder gar Sechzehntel spielt...

Die Verfasserin des Posts entgegnete:

Ich bin da durchaus bei Dir. Aber nur weil es den meisten zu anspruchsvoll ist, muss ja nicht unbedingt die Minderheit darunter leiden ...und wie gesagt, ich will ja nicht jammern, sondern etwas dagegen tun.“

Ein Münchner Tangoveranstalter, der immer wieder durch verrückte Ideen besticht, würde zwar gerne mal kommen, tendiert hier aber zu ungewohntem Realismus:

„Ich find das ganze Konzept zwar ziemlich bescheiden und vergebliche Lebensmüh, aber wenn ihr euch ausprobieren und eure unerfüllten Sehnsüchte ausleben wollt, sollte es so viele wie möglich mit dem Interesse finden.“

Was mich aber regelrecht erschlagen hat, ist ein Kommentar der Urmutter der Musikzensur, Melina Sedó:

Sehr, sehr viele DJs (auch auf Encuentros) spielen heutzutage Tangos, die nach 1960 aufgenommen wurden, und mengenweise zeitgenössische Orchester. Ich find's nicht so toll, aber solange das nicht einen gewissen Prozentsatz überschreitet, kann ich damit leben. Ich tanze ja eh nicht jede Tanda. Fakt ist aber: DJs, die NUR späte 20er - 50er spielen, gibt es gar nicht mehr so viele, also wundert mich dein Wunsch nach Veränderung.“

Also, mich nicht… Aber sollten auf den Encuentros nun auch Aufnahmen nach 1960 gespielt werden, käme das einer Kulturrevolution nahe! Rocken die jetzt zu „Gotan“ oder „Narcotango“? Allein die Vorstellung amüsiert mich grandios!

Im Ernst muss ich allerdings anmerken: Nachdem die Dame 20 Jahre lang gegen jede Modernisierung im Tango angeschrieben hat, finde ich ein solches Statement ziemlich scheinheilig!

Quelle:

https://www.facebook.com/groups/tangomuenchen/permalink/10159834862626186

Fazit

Noch vor einigen Jahren hätte das Angebot einer „Piazzolonga“ im konservativen München wohl einen Wust an verdammenden Kommentaren eingebracht (auch die Verfasserin rechnete wohl mit einem Shitstorm). Da dieser (bislang) ausblieb, sondern der Post eher freundliches Interesse auslöste, ist ermutigend.

Daher wünsche ich meiner Tangofreundin viel Erfolg bei ihren Bemühungen! Und ich werde sicher mal zu der einen oder anderen Milonga erscheinen. Einen ihrer „Probeläufe“ kenne ich aus eigener Anschauung.

Ich fürchte aber, der Zulauf wird – nach einer Phase der Neugier – überschaubar bleiben. Der Münchner Tangotanzende möchte mehrheitlich doch wieder zu seinen liebgewordenen „Schrumm, schrumm, dideldum“-Rhythmen zurückkehren.

Getreu einem Motto, welches das wasserfreie Waschen des Pelzes empfiehlt:

„Wir brauchen eine Anarchie – aber mit einem starken Anarchen!“ 

Musik!

https://www.youtube.com/watch?v=YDlwJS2p9AU

P.S. Tangos, nicht älter als wir?" Ich habe gerade nachgerechnet: Mit meinem Geburtsjahr (1950) bin ich noch späte EdO"  o mei!

Kommentare

  1. Robert Wachinger29. Januar 2024 um 11:17

    Hallo Gerhard

    danke für deine freundliche Besprechung. (ich selber bin kein Freund von Facebook, und deshalb äusserst selten dort).
    Naja, der Hauptgrund für unsere Initiative ist ja schlicht, dass wir eine Milonga für uns und unseren Musikgeschmack machen wollen, und uns freuen, wenn es noch ein paar Leute gibt, denen das auch gefällt. Es soll ja gar keine Riesenmilonga für alle werden, mit der wir dann Millionäre werden ;-)

    Wir hoffen, dass wir es im Februar schaffen ...

    Ciao, Robert

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    1. Lieber Robert,

      das wäre schön!
      Ich fand jedenfalls den FB-Post von Carmen sehr mutig - und wider Erwarten kam er sogar in München recht gut an.
      Wir haben ja mit privaten Milongas viel Erfahrung und wissen, dass es im kleineren Rahmen funktionieren kann.

      Viel Erfolg euch beiden!
      Gerhard

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  2. Hallo Gerhard,
    danke schon mal für Deine Starthilfe ;-)
    Im Gegensatz zu Dir bin ich ja in der Münchner Tangoszene eher unbekannt, da ich nach einem ersten Reinschnuppern vor fast 20 Jahren, für mich festgestellt habe, dass ich keine Lust habe, mich da "Hochzutanzen".
    Wie schon geschrieben, muss ich mit meinen Milongas nichts verdienen. Und da mich auch Encuentros nicht wirklich reizen, verwende ich das dadurch gesparte Geld eben, indem ich mir ab und zu eine Milonga gönne, bei der Musik gespielt wird, auf die es mir Spaß macht, zu tanzen.

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  3. Uuups, da waren die Finger mal wieder zu schnell. Natürlich wollte ich nicht anonym posten, ich stehe zu meinen Aussagen 😉

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    1. Robert Wachinger1. Februar 2024 um 18:34

      Und die Alternative zu zweit im heimischen Wohnzimmer fällt halt öfters mal schlicht dem Schlendrian zum Opfer ... ;-)

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  4. Frage an die Experten: Was würde geschehen, wenn ein DJ auf einer Milonga "Dance Me to the End of Love" von Leonard Cohen spielte?

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    1. Na, dann würde das Stück halt laufen. Und?
      Übrigens falsche Adresse: Hier schreiben keine Experten.

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    2. Robert Wachinger1. Februar 2024 um 18:25

      Hm, wäre das was erwähnenswertes? Ich hab das schon öfters auf Milongas gehört (oft einfach auch ein bisserl im Temppo runtergedreht).

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  5. Es ist schon amüsant, wie diverse DJs und Veranstalter meinen Thread zur Selbstdarstellung und als Werbefläche nutzen....aber auch so kommt unsere Milonga um so besser ins Gespräch.

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    1. Kein Wunder: Diese FB-Gruppe ist zur reinen Werbeseite verkommen.

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  6. Ich würde dafür extra aus Salzburg anreisen 😉 So wie auch immer wieder gerne zur Brunchmilonga ins Interim. Ich würde mir nur wünschen, dass es freitags oder samstags sein wird. Liebe Grüße Manuela

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    1. Ich empfehle, die Autorin via Facebook zu kontaktieren. Dann erhältst du sicher eine Einladung.

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  7. Lieber Gerhard,

    ein herzliches Dankeschön, dieses glänzende Thema auf deinem Blog zu besprechen. Wunderbar finde ich außerdem, dass der Funke direkt aus dem Herzen der Münchner Tangoszene kommt. :-)

    Versteht meinen Kommentar als Ermunterung:

    Unsere Milonga „La Costura“ wagt sich dieses Jahr ebenfalls in die spannenden Gewässer einer „especial“-Edition – geplant ist das für (fast) jeden letzten Freitag im Monat. Die Eröffnungsmilonga am 26. Januar war bereits ein voller Erfolg, mit über 100 (!) tanzfreudigen Tango-Seelen. Ein solcher Ansturm und das durchwegs strahlende Feedback der Tänzer:innen geben uns Schubkraft, auf diesem Weg motiviert voranzuschreiten.

    Wir haben im vergangenen Jahr unsere Köpfe zusammengesteckt und überlegt, wie eine Milonga aussehen könnte, die nicht nur in der EdO-Zeit ihr Zuhause findet. Die lebendige Resonanz aus unserer Gemeinschaft hat uns schließlich den letzten Schubs gegeben, das Ganze in die Tat umzusetzen.

    Für das „especial“-Erlebnis halten wir uns weiterhin an Tandas und Cortinas, die Musik wird in einem ausgewogenen Verhältnis von Klassik bis Neo, von Nuevo bis Non – eine 50:50 Mischung, je nach Publikum, Laune und Tanzniveau der Anwesenden feinfühlig angepasst. Unsere DJs sind daher erfahrene Plattenleger:innen, die mit ihrem Gespür für den Moment die musikalische Kulisse zaubern.

    Alles, was über bekannte Tangostücke (Edo, zeitgenössisch) hinausgeht, erfordert m. E. nebst einer Offenheit gegenüber Neuem in gewisser Weise auch einen höheren Anspruch an die DJs und die Tänzer:innen. "Gassenhauer", welche i. d. R. dafür sorgen, dass sich die Tanzfläche automatisch füllt, können z. B. ersetzt werden durch weniger bis überhaupt nicht bekannte Stücke, die aber in jedem Fall tanzbar sind. Die "Barre" bekannter Phrasierungen und Melodiefolgen wird verlassen, der Fokus des Tanzpaares liegt auf der gegenseitigen Wahrnehmung, empathischer Achtsamkeit und natürlich - der Musik. :-)

    Auch die Rahmenbedingungen sollten "passen". Diese dürfen von einer ausgeprägten Willkommenskultur der Veranstaltenden und einer entspannten Neugier der Tanzenden geleitet werden. Ein in der Szene oft beklagtes "Cliquenverhalten" vor Ort ist vermutlich nicht zuträglich. Für mich ebenso völlig in Ordnung waren z. B. die Rückmeldungen einiger DJs und Stammgäste im Vorfeld, dass sie eine solche Veranstaltung auf keinen Fall besuchen bzw. als DJ unterstützen werden (aus Gründen, die in den vielen Tango-Foren wie u. a. in diesem hinreichend besprochen wurden). Jap, das ist ok!

    Und genau das ist das schöne am Tango Argentino: er ist vielfältig! Deswegen ist es um so erfreulicher, dass es immer mehr Veranstalter:innen gibt, die den Mut haben, etwas auszuprobieren oder gar eine "Nische" zu besetzen. Encuentros oder 100% klassische EdO-Milongas werden deswegen nicht von der Bildfläche verschwinden.

    Unsere nächste La Costura "especial" findet übrigens statt am 23. Februar im Kult-X in CH-Kreuzlingen von 20:30 - 0:30 Uhr. Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob ich hier für diese Veranstaltung Werbung machen darf, da wir aber ein gemeinnütziger Verein sind und keine kommerziellen Interessen verfolgen schreib ich es dennoch: mehr Infos unter www.tangolibre.de ;-) (Gerhard, falls das gegen deine Blog-Regeln verstösst, kannst du es natürlich gerne löschen).

    Mit viel Vorfreude auf das, was kommt und mit herzlichen Grüßen,
    Micha

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    1. Lieber Micha,

      Nein, ist schon okay!

      Ich habe von eurem Projekt schon auf Facebook erfahren und wünsche viel Erfolg!

      Wenn ich mir einen Rat erlauben darf: Solche Neuerungen verlangen einen langen Atem, mit dem man auch Durststrecken überwinden kann. Und man darf sich – das siehst du völlig richtig – nicht von Stimmen beeindrucken lassen, die solche Milongas rundweg ablehnen.

      Also vielen Dank – und ich werde das Ganze aufmerksam verfolgen.

      Herzliche Grüße
      Gerhard

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  8. Es gibt einen Termin für die Piazzolonga im KIM
    Freitag, 23. Februar
    Film "The years of the shark" ab 19:00 Uhr
    Milonga im Anschluss, ca. 20:30 - 23:00 Uhr.
    Da es eine geschlossene Veranstaltung wird, bitte ich um Anmeldung per Email salla-ya-salla@web.de
    oder per PN auf FB

    Liebe Grüße
    Carmen + Robert

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