Die Kunst des Unterspielens

 

Mir gehen im Moment zwei Videos nicht aus dem Kopf. Das eine zeigt die Sieger des diesjährigen European Song Contest, die italienische Gruppe Måneskin mit ihrem Titel „Zitti é Buoni“ („Ruhig und lieb“):

https://www.youtube.com/watch?v=RVH5dn1cxAQ

Der Refrain:

Ich bin verrückt, aber anders als sie
Und du bist verrückt, aber anders als sie
Wir sind verrückt, aber anders als sie
Wir sind verrückt, aber anders als sie

https://www.songtexte.com/uebersetzung/maneskin/zitti-e-buoni-deutsch-1bd7b564.html

Das andere Stück stammt aus dem Jahr 1943 – geschrieben hat es der Sänger, welcher es dann auch populär machte – Charles Trenet: „La Mer“

La mer
Qu'on voit danser le long des golfes clairs
A des reflets d'argent
La mer
Des reflets changeants
Sous la pluie

Das Meer
Das wir entlang der klaren Buchten tanzen sehen
Mit silbernen Spiegelungen
Das Meer
Mit wechselnden Reflektionen
Im Regen

https://de.wikipedia.org/wiki/La_Mer_(Chanson)

https://www.youtube.com/watch?v=PXQh9jTwwoA

Der Wettbewerb hieß bis 2001 „Grand Prix Eurovision de la Chanson“. Nomen est omen: Den Krach, den heutige Interpreten erzeugen, kann man wirklich nicht mehr unter dem Begriff „Chanson“ einordnen. Vor allem ist diese Kunstgattung bekannt für gute Texte. Davon kann im heutigen Schlagergeschäft keine Rede mehr sein.

Was mich aber noch mehr beschäftigt, ist eine Entwicklung, die ich in verschiedenen künstlerischen Bereichen feststelle: Das gnadenlose Übersteigern. Musiker, Sänger, Schauspieler und Comedians versuchen, mich mit grotesken Übertreibungen zu unterhalten.

Da wird geplärrt und auf die Tube gedrückt, dass mir ganz schwindelig wird. Mit dem Holzhammer versucht man, mich zu beeindrucken, zu belustigen oder zu erschrecken.

Bei der Band Måneskin toben krass kostümierte Herrschaften über die Bühne, das Gedöns wird durch Feuerwerk und Lichtspektakel kiloweise verstärkt. Die Musik kommt aus der Konserve. Ich bin aber nicht beeindruckt oder gar ergriffen, sondern fühle mich belästigt.

Beim Vortrag von Charles Trenet hat man den Eindruck, er müsse Jahrhunderte zurückliegen: Da steht ein reiferer Herr im grauen Anzug vor dem Mikrofon und lässt ganz einfach, mit sparsamer Mimik und Gestik, die Worte und Klänge wirken. Selbst die notwendige Steigerung im Ablauf fällt eher unaufdringlich aus. Der Sänger will gar nichts von mir – und daher bin ich ergriffen.

Ganz ähnlich geht es mir in der Disziplin, welche man heute als „Schauspiel“ bezeichnet. Kaum ein neuzeitlicher Fernsehkrimi, der ohne Blutvergießen literweise und sonstige Ekel-Beigaben auskommt. Pyromanische Effekthascherei inklusive. Mein aktuelles Lieblingsbeispiel ist Til Schweiger:


https://www.youtube.com/watch?v=QLpPQWFwS6I

Kommt bei mir da Spannung, ja gar ein Mitfiebern auf? Nö. Es geht mir nur auf den Wecker. Zudem wird ein Menschenbild transportiert, das ich zum Abgewöhnen finde.

Meister des Understatements ist und bleibt für mich James Stewart. Da er sich selber zurücknimmt, lässt er mir Platz für meine Gefühle. Ich habe als Beispiel extra eine sehr dramatische Szene ausgewählt:

In Frank Capras Film „Mr. Smith geht nach Washington” (1939) spielt Stewart den jungen, idealistischen Senator Jeff Smith, der sein Projekt eines Jungencamps verwirklichen will. Dabei gerät er in Konflikt mit einem mächtigen Medienmogul, welcher ein unnötiges, aber gewinnträchtiges Staudammprojekt durchsetzen will. Mit Hilfe seines eigenen Fraktionsvorsitzenden (Claude Rains) wird Smith erfundener krimineller Machenschaften bezichtigt und droht, aus dem Senat ausgeschlossen zu werden.

Mit einer fulminanten Dauerrede (Filibuster) leistet der junge Senator Widerstand. Die Szene zeigt deren Ende: Waschkorbweise hat man ihm fingierte Nachrichten vorgelegt, die seinen Rücktritt fordern. In einem letzten Appell wendet er sich an seinen Fraktionsführer und erinnert ihn daran, dass der einst als junger Anwalt mit dem Vater von Smith, einem kritischen Journalisten, zusammengearbeitet habe. Dieser wurde schließlich von der Mafia ermordet. Die beiden Männer galten als die „Spezialisten für verlorene Fälle“.

„Ich vermute, dies ist ein weiterer verlorener Fall, Mister Paine“. Seine Worte gelten dem früheren besten Freund seines Vaters. „Sie sagten einst, das seien die einzigen Fälle, für die es sich lohnt, zu kämpfen.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Mr._Smith_geht_nach_Washington


https://www.youtube.com/watch?v=aAjDmw6IrFg

Ich sah den Film vor über dreißig Jahren zum ersten Mal. Es gibt darin Schlüsselszenen, die ich nie vergessen werde. Ebenso wenig Hitchcock-Klassiker wie „Das Fenster zum Hof“, „Der Mann, der zu viel wusste“ oder „Cocktail für eine Leiche“ mit James Stewart. Nicht zu vergessen „Harvey“, den zwei Meter großen Hasen, der mir gelegentlich beim Zaubern hilft.

Apropos: Ich mag auch da die Poesie der leisen Töne. Das beste Zauberkunststück, das ich je gesehen habe, ist das „Herz aus Glas“ des Altmeisters Punx (Ludwig Hanemann). Als purer Durchdringungseffekt vorgeführt wäre es läppisch. Mit seiner Botschaft „Geld macht nicht glücklich“ erreicht es jedoch die Herzen des Publikums:

https://www.youtube.com/watch?v=rvgBCgmgAfE

Um auf die Musik zurückzukommen: Reinhard Mey hat sich in einem Lied für „Ein Stück Musik von Hand gemacht“ eingesetzt. In einer Strophe heißt es:

Wenn der große, wilde Rock‘n Roller rockt und rollt,
Mit der Wahnsinnslasershow über die Bühne tollt,
Wenn die Lautsprecher dröhnen und das Hallendach schwingt,
Dass mir der Bruch raustritt und die Brille springt,
dann denk‘ ich d‘ran, daß, wenn jetzt jemand an der Sich‘rung dreht,
Der Rockstar mucksmäuschenstill, lammfromm und im Dustern steht.

https://www.youtube.com/watch?v=B185-xPHM_c

Für eine bewusste Reduktion hat sich auch die Wiener Kinderärztin Dr. Marina Marcovich eingesetzt, als sie sich für eine natürlichere Behandlung Frühgeborener ohne Apparate-Großeinsatz aussprach. Nachdem ihre Methode zunächst kriminalisiert wurde, ist sie inzwischen Standard in der Neonatologie:

„Man muss ganz viel können, um wenig zu tun.“

P.S. Das ist nicht als verspätetes Pladoyer für Encuentros zu verstehen: Da müsste ja schon der erste Satzteil stimmen…

Kommentare

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