Im Bannstrahl der Weltverbesserungs-Kollektive
Gut, dass ich es nun weiß: Ich habe in meiner Kindheit die Bücher einer Autorin verschlungen, die „rassistisch, sexistisch, homophob und nicht sehr hoch angesehen“ war. So jedenfalls das Beratungskomitee der britischen Königlichen Münzanstalt, die sich daher weigerte, eine Gedenkmünze zum 50. Todestag der Schriftstellerin herauszugeben.
Auch die Organisation „English Heritage“, welche das Andenken an Wohnsitze von Berühmtheiten pflegt, ist nun zurückgerudert: Die Dame sei wegen „ihres Rassismus, ihrer Fremdenfeindlichkeit und wegen ihres geringen literarischen Werts“ kritisiert worden.
Die Rede ist von der Kinderbuchautorin Enid Blyton (1897-1968). Mit über 750 Büchern und 10000 Kurzgeschichten sowie Auflagen von mehr als 600 Millionen Exemplaren in 40 Sprachen gehört sie weltweit zu den Erfolgreichsten am Buchmarkt. In ihrer produktivsten Phase von 1943 bis 1964 brachte sie ein Werk pro Woche heraus.
https://de.wikipedia.org/wiki/Enid_Blyton#Werkliste
Hat die Schriftstellerin nun zum Rassenhass aufgerufen, Schwule verunglimpft oder männliche Gewaltfantasien unterstützt? Im Gegenteil: Ihre Kinderbücher beschrieben die heile Welt des britischen Mittelstands in den 1950er-Jahren. Für ihre Zeit erstaunlich selbstständige Kinder bestanden – meist gruppenweise – spannende Abenteuer und brachten dabei oft Bösewichte zur Strecke.
Wikipedia erklärt uns die Schwächen dieser Werke: Die Sprache sei „anspruchslos“, der Wortschatz „eingeschränkt“ und die Attributierungen fielen „konventionell und gleichbleibend“ aus. Ach – und ich dachte immer, das müsse bei Kinderbüchern so sein… Die Kindergruppen lebten von „männlichen“ Werten wie Treue, Verschwiegenheit, Verlässlichkeit, Kameradschaft, Mut und Einsatzbereitschaft. Echt? Mädchen sind dazu nicht fähig? Halte ich für sexistisch!
Weiter lernen wir:
„Blytons pädagogische Ziele wie Fair Play, Mitleid für den Unterlegenen, Verachtung für Schleicher und Großsprecher, absolute Gerechtigkeit, Tierliebe und Begeisterung für edle Vorbilder werden in spannende Unterhaltung verpackt. Dabei werden direkte Darstellungen von Brutalität und Gewalt vermieden, verbergen sich jedoch in der Rigidität von Normen und emotionaler Kälte.
Das Familienleben in Blytons Büchern vermittelt feste Botschaften. Die Mutter versorgt und erzieht. Sie fordert absoluten Gehorsam, lässt den Kindern dafür aber Freiheiten, wenn diese ihre Normen anerkennen. Väter sind unfehlbar und setzen sich durch. Bricht ein Familienmitglied aus dem traditionellen Rollenschema aus, so muss es die Sanktionen der anderen ertragen.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Enid_Blyton
Ja und? So war das halt auch in meinen Jugendjahren! Vieles von dem, was Autoren verfassen, ist natürlich zeitgebunden. Und nicht immer endet das als recht harmloses Kinderbuch.
Bei meinen Recherchen stellte ich fest: Bei missliebigen Autoren zieht man besonders genüsslich über deren Privatleben her. So las ich in vielen Quellen vom Drama der Scheidung von Blytons Eltern und der Trennung von ihrem ersten Mann, der wohl Alkoholprobleme hatte – und den Seitensprüngen der Ehepartner. Inklusive der entsprechenden Verdrängungsreaktionen.
Besonders unappetitlich fand ich die Recherche des SPIEGELS, die Autorin habe zunächst keine Kinder bekommen können, weil ihre Gebärmutter nur die Größe von der eines jungen Mädchens hatte. Das befördert dann die Botschaft: Enid Blyton sei eben nie erwachsen geworden und habe daher Kinderbücher verfasst. So weit die Amateur-Gynäkologen des Hamburger Magazins.
Nun, nach einer Hormonbehandlung bekam sie zwei Töchter. Die eine lobt sie im Rückblick als strenge, aber gerechte Mutter – die andere lässt kein gutes Haar an ihr. Wie das in Familien halt so ist…
All das bestätigt mich in meiner schon lange bestehenden Entschlossenheit, mich bewunderten Künstlern nicht irgendwie privat zu nähern. Dort findet man meist all die Fehler, welche auch Durchschnittsmenschen im Leben begehen – und wegen der speziellen Passion oft noch mehr. Aber: Soll ich einen Musiker nicht mehr gut finden, weil er böse zu seinem Partner war? Was hat das mit seinem kulturellen Schaffen zu tun?
Ich habe als Kind die Bücher der englischen Autorin jedenfalls verschlungen, ebenso wie unzählige Karl May-Bände. Noch heute verbinde ich die „5 Freunde“ mit dem Geruch nach Bohnerwachs. Der Grund: In unserer Kleinstadt gab es damals noch nicht einmal eine öffentliche Bücherei. Einzig in einem Haushaltswarengeschäft standen etliche Regale mit Werken für Kinder – für je 30 Pfennig konnte man sich die Bücher ausleihen. Wenn das Taschengeld noch reichte, erstand ich ebenfalls noch eine Tüte billiger Karamellbonbons. Diese Kombination und ein Sofa verschafften mir die glücklichsten Stunden meiner Kinderzeit.
Und trotz dieser Beeinflussung durch rassistische Schundliteratur wurde aus mir kein AfD-Anhänger. Nicht mal eine Nähe zur CSU konnte ich trotz meines bayerischen Beamtenstatus finden – aus mir wurde ein halbwegs aufrechter Sozialdemokrat. Allerdings einer, der über die momentanen Verirrungen seiner Partei etwa so unglücklich ist wie der nun auf der Landesliste nicht mehr vertretene SPD-Bundestagsabgeordnete Florian Post. In einem Beitrag für Focus Online schrieb er:
„Wir befinden uns mitten in einem Kulturkampf! Wer bestimmt, wie gesprochen und geschrieben werden darf, hat die Macht. Wer Ausdrücke setzt, bestimmt schließlich das Denken!
Dieser Kulturkampf spaltet, grenzt aus und ist im Kern reaktionär. Die Mehrheit der Bevölkerung empfindet es nicht als drängendstes Thema, eine Sprache zu benutzen, die ihnen fremd ist und die sie abstoßend finden. Eine Mehrheit der Bevölkerung denkt, dass dies das Thema einer kleinen akademischen Elite ist, die ihnen nun vorschreiben will, wie sie zu sprechen und schreiben haben. (…)
Und zudem steckt dahinter der seit Jahren nicht nur in meiner Partei vorherrschende Irrglaube, dass man aus der Summe einer Politik für Minderheit eine Mehrheit formen kann! Wie gut so was funktioniert, mag als Zwischenbilanz der Wahlabend in Sachsen-Anhalt zeigen!“
Eher spaßeshalber recherchierte ich einmal, ob nach den momentan vorherrschenden Moralkriterien ein Autor wie Goethe eigentlich noch tragbar ist. Aber auch da hat die Wirklichkeit die Satire längst überholt:
Eine Frankfurter Künstlergruppe beispielsweise bewarf das Goethesche Gartenhäuschen in Weimar symbolträchtig mit Klopapier. Der Grund war die Frauenfeindlichkeit des Meisters – von Gretchen bis Christiane Vulpius ging er ja mit den Damen nicht sehr rücksichtsvoll um. Und sein „Heideröslein“ sei „humoristische Vergewaltigungslyrik“.
Von der bahnbrechenden Aktion gibt es sogar ein Video:
https://www.youtube.com/watch?v=anmhpdj8X6I&t=1s
Das Redaktionsnetzwerk Deutschland kommentierte das wie folgt:
„Die halbe Menschheit besteht aus behäbigen, bürgerlichen Typen. Es wäre vertane Zeit, alle behäbigen, bürgerlichen Menschen, die sich ollerweise der Revolution verweigern, den schmalen Denkwelten eines hessischen Weltverbesserungskollektivs anpassen zu wollen. Zumal der Aufruf zur Veränderung bei Toten selten Früchte trägt. Und zweitens: Jedes moralische Empfinden ist eine Momentaufnahme der Zeitläufte. (…)
Man darf das mal ganz deutlich sagen: Die Weimarer Klopapierperformance ist für den Arsch. Oder wie Goethe – etwas feiner – schrieb: ‚Gewissen Geistern muss man ihre Idiotismen lassen.‘“
Hochverehrter Meister Riedl,
AntwortenLöschenich bin ja nur als Bauernkind aufgewachsen, Frau Blyton hatte nie die Gelegenheit, mich mit ihren Werten einer besseren Geisteshaltung zu zu führen. Was sich auch daran erkennen lässt, dass ich gerade etwas unsicher bin, ob man zuzuführen zusammen oder getrennt schreibt. Andererseits ist sie da auch nicht hilfreich, die Bücher wurden ja noch vor der Rechtschreibreform verlegt. Einer meiner Mitschüler verschlang jedoch die Bücher, seine Geisteshaltung zu dieser Zeit war jedoch mehr als fragwürdig, weil er die Panzerschlachten aus dem 2. Weltkrieg nachstellte und naja eher ziemlich rechts war. Das scheint sich heute geändert zu haben, ähnlich wie sie scheint er sich nun eher der Sozialdemokratie zugewendet zu haben. Das würde ich aber nicht Frau Blyton anrechnen, eher seiner Ausbildung in einer namhaften deutschen Journalistenschule.
Trotz meiner Verweigerung für Frau Blytons Werke hat mir das deutsche Bildungssystem das große Latinum verpasst und ich meine mich zu erinnern, die damalige Kultur, deren Namen ich jetzt auch nur linguistischen Zufällen verdanke, hätte den Ausdruck "damnatia memoriae" dafür verwendet. Jene die es getroffen hat, war es, glaube ich, letztlich egal, weil nicht mehr am Leben. Getroffen hat es ihre Parteigänger und somit hat das immer auch etwas aktuelles.
Der von Ihnen angesprochene Geheimrat aus Weimar, und damit schaffe ich jetzt den Schwenk zum Tango, hat ja noch immer viele Anhänger in der anthroposophischen Gemeinde, wo er sowas wie der Johannes der Täufer unter Rudolf Steiner ist, sowie der Tango in etwa zur Eurythmie in diesen Kreisen steht. Mit dieser Blickrichtung finde ich es persönlich gut, wenn der Epigone an die Bronzeplastik des alten Hessen pinkelt, damit die Patina mal wieder sichtbar wird, die seine Jünger eifrig wegwienern.
Viele Grüße
Ihr Johann Petrus Römer
Lieber Herr Römer,
LöschenIhr Beitrag zeugt sicherlich von hohem Bildungsniveau. Für meine Begriffe bewegt er sich jedoch in Spären, die sich meinem Verständnis entziehen.
Daher bedauere ich, darauf nicht eingehen zu können - und zu wollen.
Beste Grüße
Gerhard Riedl
nein, tut er definitiv nicht. Mein Bildungsniveau ist ganz ok, aber sicher nicht hoch. Der Sprachcode ist höchstens ein bisschen verschnörkelt. Das macht aber noch kein Bildungsniveau. Deswegen ist der Text halt nicht so leicht zugänglich. Aber ich hatte meinen Spaß daran. Es sei Ihnen anheimgestellt, sich damit zu befassen oder auch nicht. Mag sein, er fällt auch zu sehr aus dem Rahmen der auf ihrem Blog üblichen Diskurstechniken. Ein Bedauern ist nicht erforderlich. Insofern besteht kein Widerspruch zwischen Ihrem Wollen oder Können.
LöschenSchöne Grüße nach Pörnbach