Die heilige Zweifaltigkeit der Tangomusik

 

Wer in den letzten Jahren neu zum Tango kam, erlebt es als Selbstverständlichkeit, dass die Musik auf den Milongas streng geordnet daherkommt: Die Tanzrunden nennen sich „Tandas“ („Reihen“) mit drei bis vier Titeln, welche zwingend von denselben Interpreten zu kommen haben. Wenn es besonders orthodox zugeht, müssen die Aufnahmen noch dazu aus einer eng umgrenzten Schaffensperiode eines Orchesters sein – und entweder nur gesungene oder ausschließlich instrumentale Versionen darstellen.

Zwischen den Tandas erklingt ein kurzes Stück einer tangofernen Zwischenmusik, welche der Insider als „Cortina“ („Vorhang“) bezeichnet. Dazu darf in der Regel nicht getanzt werden, vielmehr hat man das Parkett zu räumen und neu aufzufordern.

Da der Anfänger dies meist auf einer sich „traditionell“ nennenden Milonga erlebt, geht er fest davon aus, diese Musikordnung fuße auf uralten Tangoriten. Diese Annahme wird von den Veranstaltern gerne unterstützt – oder man widerspricht jedenfalls nicht.

Bereits vor über fünf Jahren habe ich nachgewiesen, dass es sich dabei um Legenden handelt. Frühestens ab den 1970er-Jahren strickte man daran. So schreibt der „EdO-Papst“ Michael Lavocah:

„Ursprünglich war eine Tanda oft nur zwei Stücke lang – die zwei Seiten einer 78-er Schellackplatte – obwohl man in einigen Clubs gewöhnlich zwei Platten des gleichen Künstlers auflegte, also eine Vierer-Tanda. Die Tandas, wie wir sie heute kennen, wurden erst in den frühen 70-er Jahren Allgemeingut, als die alte Musik wieder auf LPs herausgebracht wurde.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2015/11/tantras-und-cortinas.html

Vor zwei Jahren schrieb ich dazu:

„Ich habe seit 2013 in einer Vielzahl von Artikeln immer wieder darauf hingewiesen, dass die historischen Quellen solche ‚Traditionen‘ nicht hergeben: In der EdO spielten vor allem Live-Orchester – tangomäßig wurden somit meist Stücke eines einzigen Ensembles geboten – nix also mit der heutigen Tandastruktur! Die Cortinas waren wohl in erster Linie Umbaupausen, da auf größeren Veranstaltungen zwei oder mehr Orchester auftraten – mindestens eines davon spielte mitnichten Tango, sondern andere Rhythmen. Man wollte schlichtweg nicht den ganzen Abend einem einzigen Tanz frönen.“

http://milongafuehrer.blogspot.com/2019/06/traditionelle-milongas.html

Um es mit der europäischen Ball-Tradition zu vergleichen, die etwas weiter zurückreicht: Bis heute bestehen da Tanzrunden aus drei oder vier unterschiedlichen Tänzen. Gäste aus dem Standardbereich können die oft noch. Im heutigen Tangopublikum dominiert das „One Trick Pony“: Außer ihren geheiligten paar Schrittelein von Rio de la Plata haben die meisten tänzerisch nichts drauf. Die Mängel reichen sogar so weit, dass sie sich unwohl fühlen, wenn sie in einer Tanda zu Stücken verschiedener Orchester oder gar abwechselnd zu Tango, Vals und Milonga tanzen sollen.

Seltsamerweise hört das Unwohlsein auf, wenn am Ende der Tanda irgendein Non Tango-Gedudel erklingt. Dieser stilistische kalte Wassereimer wird dann als Cortina dankend akzeptiert. Ich fürchte, beim „traditionellen“ Tango geht es nicht ums musikalische Gehör, sondern ums Regeleinhalten. Noch schlimmer wird es für mich, wenn der DJ mal eine Cortina-Musik auflegt, zu der ich gerne tanzen würde – dann ärgere ich mich, meine Zeit vorher mit langweiligem Geschrammel verschwendet zu haben.

Aber der moderne Konservative von heute überlegt im Extremfall sogar, eine solche Cortina mal auszuspielen, wenn welche dazu tanzen. Wow, wie fortschrittlich… Mein dringender Appell: Sorgt lieber dafür, dass eure Tandas Lust auf Bewegung erzeugen!

Für mich gibt es jedenfalls kein besseres Mittel zur Verhinderung von Tänzen als die Kombination der Tanda- und Cortinastruktur mit dem Cabeceo. Buchstabieren wir es einmal durch:

Ich darf also schon mal eine Viertelstunde lang überhaupt nicht auffordern – denn das soll bekanntlich erst zu Beginn einer neuen Tanzrunde geschehen. Dann aufgepasst: Nach dem Verklingen des Cortina-Gedudels startet die Musik einer neuen Tanda. In den nächsten höchstens 30 Sekunden soll ich mich dann im einsetzenden Blickehagel für eine Tänzerin entscheiden und versuchen, sie auf mich aufmerksam zu machen – danach ist erstmal wieder Sense.

Zudem muss ich ja bei den ersten Takten des neuen Stücks sofort erkennen, um welches Orchester es sich handelt. Das Argument der ach so vielseitigen Improvisationstänzer: Sie wollten ja nicht bei einer Dame landen, welche in der D‘ Arienzo-Disziplin zwar unschlagbar, bei Pugliese jedoch ein Totalausfall sei. Mich amüsiert an dem Argument schon die Annahme, der durchschnittliche Milongabesucher könne Tangoaufnahmen dem jeweiligen Orchester zuordnen. Also, det wüsst‘ ick…

Warum darf ich als mündiger, volljähriger, an eine offene demokratische Gesellschaft gewöhnter Mitteleuropäer nicht selber entscheiden, wann ich tanzen möchte und wie lange? Es geht ja weiter: Nach drei bis vier Stücken ist Schluss – auch, wenn man vielleicht Lust hätte, noch ein wenig weiterzumachen – oder schon früher aufzuhören, weil es nicht wirklich läuft. Und wieso dürfen meine Partnerin oder ich den Tanzwunsch nicht in netten Worten zum Ausdruck bringen? Gilt bei uns das Grundgesetz oder die Scharia?

Ebenso wenig hat mich beim Auflegen das Getue um die „Tandagesetze“ überzeugt. Nachdem ich noch altmodische CDs abspiele, wechsle ich die Silberscheibe ungern nach jedem Stück. In der Praxis kommt es daher schon vor, dass ich hintereinander einige Stücke desselben Interpreten bringe. Zwang sehe ich dabei aber keinen. Erst recht nicht, dass es nun vier Tangos oder drei Valses sein müssen. Sicherlich vermeide ich grobe Stilbrüche: Nicht jeder, der an „Gotan Project“ Spaß hat, möchte sofort danach einen sämigen Fresedo interpretieren. Wohl aber kann ich mit drei oder vier Stücken eine Entwicklungslinie aufzeigen – oder schlicht mit Abwechslung dafür sorgen, dass immer wieder neue Lust am Tanzen entsteht.

Zu meinen Vorstellungen höre ich immer wieder das Argument, die Gäste wollten das so. Klar, die heutige Tango-Population wurde auf diese Verfahrensweisen ja auch konditioniert wie Entenküken. In der Verhaltensbiologie wird dazu ein so genanntes „Prägungskarussell“ eingesetzt, um die jungen Tiere ans Befolgen der „Ronda“ zu gewöhnen – im Video ab 3:10 zu sehen:

https://www.youtube.com/watch?v=yyqilGz79qI

Bei den Enten wirkt die Nachfolgeprägung nicht mehr, wenn sie erwachsen werden. Im Tango funktioniert diese Grenze nicht. Doch bei Primaten ist generell auch ein Umlernen möglich. Daher rate ich: Einfach mal einen Abend lang auf das Cortina-Gedudel verzichten und schauen, ob ein Blitz vom Himmel fährt! Oder mit einer einzigen Partnerin hintereinander die „vier großen Orchester“ tanzen! Das wäre schon ein Anfang.

Bis vor zehn oder 15 Jahren herrschte auf den meisten Tangoveranstaltungen ein solch „kreatives Durcheinander“. Es fasziniert mich immer wieder, wie einige wenige Leute es geschafft haben, den Trend zu „Spaßbremsen-Events“ zu gestalten. Dabei will ich niemandem seine persönlichen Präferenzen ausreden, im Gegenteil! Ich bitte nur herzlich darum, nach dem eigenen Empfinden zu entscheiden, ob man sich diesem Regelwerk weiter unterwerfen will - und nicht, weil es alle machen". Einfach ist das nicht.

In der Szene hat sich nämlich ein sehr wirksames Verfahren entwickelt, „Abweichler“ zur Raison zu bringen: Sie werden gnadenlos ignoriert nach der Devise „Wenn du so denkst, gehörst du nicht mehr dazu“. Aus vielen Zuschriften weiß ich, dass gerade Frauen fürchten, nicht mehr aufgefordert zu werden: „Du hast ja recht mit deinen Ansichten, aber bitte erwähne meinen Namen nicht!“ Es treibt sie die Angst, eine mentale Burka übergestülpt zu bekommen. Und wie ich aus eigener Erfahrung weiß, versucht man auch bei Männern, sie sozial zu isolieren.

Doch wir sind Kinder der Aufklärung und nicht der Hexenverfolgung. Daher zum Abschluss noch mein Lieblingsvideo, in dem ich die Glaubensdiktate des Tango veralbere. Darin heißt es:

Liebe Brüder und Brüderinnen, stärket einander im Glauben an die Vierfaltigkeit der Gran Orquestas unserer Heiligen D’Arienzo, Di Sarli, Troilo und Pugliese (und vergebet ihm seinen Kommunismus). Höret nicht auf Tandas mit mehreren Sängern oder Mischungen instrumentaler und vokaler Einspielungen, welche euren Glauben gefährden! Lasset euch nicht in Versuchung führen durch moderne Musik, die doch kein Tango ist und eurer tanzbaren Seele schadet! Vertrauet auf die Dreifaltigkeit von Cassiel als Blogger, DJ und unscheinbarer Milonguero, die Zweifaltigkeit von Mirada und Cabeceo und die Einfaltigkeit unserer Tänze!“

https://www.youtube.com/watch?v=2Nch85CVhDE

Kommentare

  1. Lieber Gerhard,
    die Idee der Tandas mag ich - und gewöhnlich weiß ich auch nach ein paar Takten, ob ich nach sowas ähnlichem tanzen mag. Die "Reihe" deutet dabei ja auch schon an, dass da was geordnet wurde. Als schön wird das empfunden, wenn der Rezipient glaubt, dass da was sinnvoll geordnet worden sei. Wie in der Kunst. Ich denke, die Anzahl möglicher Ordnungskriterien ist dabei zwar nicht unendlich, aber groß.

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    1. Lieber Martin,

      das sehe ich prinzipiell genauso.

      Wer meine Playlists betrachtet, wird durchaus viel Ordnung erkennen. Ich wehre mich allerdings dagegen, dass diese in kleinkarierte Vorschriften mündet.

      Letztlich geht es mir stets um die Mitte zwischen den Extremen, die Tanzenden mit Kontrasten zu nerven oder sie mit Einerlei zu langweilen.

      Liebe Grüße
      Gerhard

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