Berliner Weisen mit Schuss
Seit einigen Tagen macht im Netz ein Video die Runde: „Der Tango ohne Umarmung“ betitelt es die Filmemacherin Julia Matyschik. Für Idee und Produktion zeichnen die Berliner Tangolehrer Gaia Pisauro und Leandro Furlan verantwortlich, für die Musik Carlos Libedinsky und Pablo Woiz.
Worum geht es in den knapp 26 Minuten? Glücklicherweise gibt es dazu eine Beschreibung der Produzenten auf YouTube:
„Wie überlebt der Tango in einer Pandemie, ohne körperliche Nähe und Verbindung? 9 Tangotänzer*innen – Amateure & Profis – erzählen, wie sie den plötzlichen Wegbruch ihres Lebensinhaltes und ihrer Leidenschaft in dieser sehnsuchtsvollen Zeit erlebt haben. Die 25 minütige Doku ist eine Hommage an den Tango, der mit seiner Vielseitigkeit, Größe und langen Tradition in der deutschen Hauptstadt überrascht.“
Nachdem ich die Verhältnisse im Berliner Tango zwar nicht persönlich, aber durch jahrelanges Lesen der Posts und Artikel von Thomas Kröter und anderen Zeugen sowie Dialoge mit Szenegrößen kenne, bin ich ebenfalls überrascht: Fast ausschließlich erklingt im Video zeitgenössischer Tango, sieht man bei den Tanzenden öfters Sneakers statt Stilettos und Budapester Schleichern. Zweifellos, die Tangoszene in der Bundeshauptstadt ist jung und modern – zumindest im Film. Da missbrauchen Freaks schon mal eine Rolltreppe für ihre Artistik, wimmelt es von Festivals und Livemusik. Sieht und hört man aber etwas genauer hin, ist die Musik öfters unterlegt – wozu die Herrschaften auf den Milongas wirklich tanzen, ahnt der Insider.
Ansonsten sieht man im Film eine stattliche Anzahl schöner, lässig-elegant gekleideter Menschen, die auf gepflegtem Parkett edler Tanzstudios der subtilen Fußartistik frönen – für Fetischisten des hinteren Geläufs geradezu ein Hardcore-Streifen! Man kann aber auch im Daunenmantel durch den Schnee tanzen.
Entgegen der im Titel geweckten Erwartung sieht man Umarmungen zuhauf, da die für das Video verpflichteten Tangolehrer natürlich schon auch zeigen wollen, was sie – einzeln oder im Paar – drauf haben. Gleich am Anfang erfahren wir, bei der Umarmung im Tango passiere mehr, als man von außen sähe – das sei ja gerade „der Zauber, den wir spüren“. Sehr häufig nähmen wir sogar den Herzschlag des Partners wahr. Das kann beim Durchschnittsalter in unserem Tanz durchaus nützlich sein – nicht, dass wir am Ende des heute angesagten Tretens auf der Stelle überrascht feststellen, dass der Mittänzer bereits verstorben ist…
Die Umarmung sei eben das Sinnbild dessen, was wir in Pandemie-Zeiten vermissten. Von solchen und schlimmeren Worthülsen wimmelt es im Film. Zwei Gustostücke:
„Das ist ein bisschen komisch, weil es gibt Tango noch, aber wir wissen nicht genau, in welcher Form. Aber schlussendlich ist Tango die Berührung, und das haben wir nicht (…) Wenn wir die Umarmung nicht haben, dann entsteht Einsamkeit.“
„Tango ist für mich die Begegnung und die Verbindung mit der Musik, ist die Basis vom Tango. Und dann mit mir selbst auf einer Mikroebene, denn Tango ist immer auch eine Reise nach innen, die Begegnung und dann als Nächstes die Verbindung mit meinem Partner oder meiner Partnerin, und dann die Verbindung mit den anderen Leuten im Raum. (…) Vom Mikrokosmos in den Makrokosmos hinein, das ist unglaublich faszinierend.“
Wenn man die vielen unoriginellen O-Töne auf sich wirken lässt, mehren sich die Ahnungen, was Julia Matyschik wirklich von ihren Protagonisten wissen wollte. Ich fürchte, es lief auf drei äußerst kreative Fragen hinaus: „Was ist Tango für dich?“, „Wie hast du die Folgen der Pandemie erlebt?“ und „Wie wird es weitergehen?“
Herausgekommen ist ein wirklich gelungener Imagefilm für unseren Tanz. Mit der Realität hat er nur am Rande zu tun. Probleme außerhalb von Corona anzusprechen ist ein Tabu. Besonders deutlich wird das bei der Beschwörung der Szene-Harmonie:
„Hier in Berlin die Tangoszene ist fast wie eine Familie, eine riesige Familie.“
„Für mich gehören alle zur Tangofamilie, die diesen Tanz lieben.“
„Mein Eindruck ist, dass die verschiedenen Szenen sich nie verloren haben. Es gibt auch schon so ein bisschen Abdriftungen und Abspaltungen – ist halt eine Szene, gehört auch mit dazu – aber es gibt überhaupt gar keine Lagerkämpfe.“
Man neigt zur Vermutung, die Berliner Szenegrößen hätten bei solchen Äußerungen die letzten 20 Jahre in Patagonien verbracht und nicht der „weltweit größten Tangoszene nach Buenos Aires“. Schöne, heile Welt -– Roy Black meets Anita:
https://www.youtube.com/watch?v=k0cXrif6OQQ
Die grundlegende Schwäche des Films habe ich bereits dem Verein proTango ins Stammbuch geschrieben: Man fragt halt nur die Oberschicht. Bezeichnenderweise kommen die Aussagen des einzigen wirklichen Hobbytänzers im Video ziemlich überzeugend herüber. Ein Herr in meinem Alter bekennt:
„Tango ist für mich eine Herausforderung, also es ist viel schwerer, als ich gedacht habe. (…) Wenn ich nicht tanze, dann fehlt mir ein großer Teil meines wöchentlichen Programms, und dann wird’s eben langweilig, das Leben.“ So einfach ist das.
Im zweiten Teil des Films geht es um die sattsam bekannten Corona-Probleme für die Tango-Kleinunternehmer. Immerhin heißt es fallweise sogar, man habe sehr viele Spenden erhalten und sei froh, hierzulande in einem Sozialstaat zu leben. Ansonsten viel Gerede über seelische Neuorientierung und die Freude darauf, wieder genauso weiterzumachen.
Die letzten fünf Minuten sind Eigenwerbung für den obigen Verein. Schon vorher hatte sich der Vorsitzende Jörg Buntenbach eine bemerkenswerte Aussage geleistet:
„Tango ist nicht nur ein Tanz, nicht nur eine Musik, Tango ist Kultur.“
Aha, Tanz und Musik allein wären also noch keine Kultur, oder wie? Buntenbach meint zu Recht, ohne Corona hätte es seinen Verein nicht gegeben – eine der vielen Pandemie-Folgen, mit denen wir halt zurechtkommen müssen…
Gelegentlich blitzt bei den historischen Filmschnipseln aus den Berliner Tango-Gründertagen etwas Realität durch. Der Kenner bemerkt, dass man damals noch dynamischer und fantasievoller getanzt hat. Altmeister Michael Rühl erzählt dazu, es habe früher keine Rolle gespielt, wie technisch brillant jemand seine Schritte setzte. „Da ging es darum, den persönlichen Ausdruck und den Tango miteinander zu verbinden.“ Tja, Tempi passati…
Leider beweist für mich der Film wieder einmal, dass die Repräsentanten der heutigen Tangoszene in Selbstlob und Kritikferne erstarren. Es gäbe wahrlich interessante Themen für Tangofilme – falls man den Mut hätte, die Kundschaft und nicht die Anbieter sprechen zu lassen. Man könnte beispielsweise einmal Menschen befragen, die – lange vor Corona – mit dem Tango aufgehört haben. Aber da käme möglicherweise Peinliches zur Sprache.
Als geborener Bayer kann ich abschließend nur sagen: Es gelingt – wie bei der „Berliner Weißen mit Schuss“ – jedes vernünftige Bier durch Zugabe von süßlichem Sirup ungenießbar zu machen.
Hier das Original-Video:
https://www.youtube.com/watch?v=nTjTY_8ek1E
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