Schluss mit dem Tango?

 

Warum zieht man sich vom Tango zurück? 2019 veröffentlichte ich dazu eine Umfrage des US-amerikanischen Bloggers und Tangolehrers Clay Nelson:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/08/mit-dem-tango-aufhoren.html

Heute habe ich bemerkt, dass es zu dem Artikel eine große Zahl von Kommentaren gibt, die ich sehr interessant finde. Sicherlich spiegeln sie vor allem die Verhältnisse in den USA, aber vieles trifft wohl auch auf die heimische Tangoszene zu.

Eine Reihe von Beispielen habe ich übersetzt (teilweise auch gekürzt):

„Ich habe mit Anfang zwanzig angefangen, Tango zu tanzen. Ich tanze jetzt seit einem Jahrzehnt, bin immer noch jünger als die meisten Frauen in der Tangoszene, und ich stelle weiterhin häufig fest, dass ich in Milongas selten zum Tanzen aufgefordert werde. Sogar noch seltener als damals, als ich eine Anfängerin war. Zu der Zeit haben mich die führenden Männer adoptiert und mich mit Feedback überhäuft, von dem das meiste Blödsinn war (ältere weibliche Führende gaben mir übrigens auch eine Flut von unaufgeforderten Ratschlägen). Jetzt, als fortgeschrittene Tänzerin, habe ich den Eindruck, dass Männer lieber mit Anfängerinnen tanzen. Ich glaube auch, dass die Lehrer nicht viel Profit aus einem fortgeschrittenen Tanzenden schlagen können. Hinzu kommt das beschissene Geschlechterverhältnis, das oft dazu führt, dass Männer sich für besser halten, als sie tatsächlich sind. (…)

Auch das Beharren darauf, nur zu traditionellem Tango aus dem goldenen Zeitalter zu tanzen, ist ermüdend. Traditionelle Milongas sind großartig, aber nicht JEDE Milonga muss 100% traditionell sein. Das entfremdet die neueren und jüngeren Tänzer, aber auch diejenigen von uns, die schon lange tanzen und ein bisschen experimentieren wollen.“

„Ich bin ein durchschnittlich tanzender Führender; heterosexuell, ledig, gelte als attraktiv, Ende 30. Eine Milonga zu besuchen ist wie in die Arktis nur in Unterhosen zu gehen.“

„Im Tango wird man mit noch einer Realität konfrontiert:

Du wirst freundliche Menschen treffen, ja. Du wirst wunderbare Menschen treffen, ja.

(…) Aber du triffst auch sehr oft versnobte Leute, die so tun, als hätten sie noch nie in ihrem Leben Jeans und Hemd getragen, die auf Veranstaltungen über dich herziehen oder es hinter deinem Rücken tun, während viele Lehrer es verstehen, ihre ‚Nettigkeit‘ und ihr ‚Lächeln‘ aufzusetzen, wenn sie denken, dass sie mit dir Geld verdienen können. (…)

Aber ‚jede Kleinigkeit‘ ist im Tango mit Geld verbunden, und je nach Rang des Lehrers ist das eine Menge Geld für ein ‚Hobby‘, das es eigentlich nur sein soll. (…)

Und wie aufregend ist es, zu einer Veranstaltung zu gehen, bei der man das Gefühl hat, allein inmitten einer Menschenmenge zu sein und niemanden zum Tanzen zu haben, und dann davon abhängig zu sein, ob jemand mit einem tanzen will oder nicht?“

„Es gibt noch ein weiteres Problem: den Dresscode! Wenn du zu den ‚besseren' Veranstaltungen gehst, wie den klassischen Milonga-Veranstaltungen, gibt es fast einen ‚Wettbewerb‘ um das beste Outfit – Fischschwanzrock und Kleider, überteuerte Schuhe für 220 Dollar (...)

Man ist vielleicht nicht direkt ‚gezwungen', modern auszusehen, aber sehen wir der Realität mal wieder ins Auge: Das ist es, was man will. Du willst nicht, dass eine, die du sowieso nicht magst, viel besser aussieht als du auf derselben Piste, also ja: Du wirst diese Art von Wettbewerb anstreben, manche Leute mehr, andere weniger.“

„Es ist wahrscheinlich nicht der argentinische Tango, der dich zum Aufhören bringt (…). Es ist wahrscheinlicher, dass lästige Menschen und lästige ‚Nein'-Strukturen diese Aufgabe für dich übernehmen.“

„Ein weiteres Problem ist, dass die Lehrer den Leuten das Gefühl geben, dass sie immer mehr lernen müssen. (…) Denn bei all den vielen, vielen Figuren und Begriffen, die es in diesem Tanz gibt, könnte man leicht 300 Jahre lang Unterricht nehmen und immer noch nicht alles wissen.

Ein zusätzliches Problem ist, dass sich buchstäblich jeder als ‚Lehrer' bezeichnen kann, und während viele Lehrer wirklich gut, brillant und erstaunlich sind (...), waren viele der ‚anderen‘ schlicht und einfach nichts anderes als Tänzer und ehemalige Tänzer, die halt nur ihren Lebensunterhalt verdienen mussten.“

„Ein großes Problem ist, dass viele Ausbilder nur das Geld zählen... sie würden lieber einen Führenden mit super-arrogantem Macho-Verhalten um sich haben, als sich für die Follower-Damen einzusetzen.“

„Ich habe ähnliche Probleme mit dem Tango. Ich liebe ihn wie verrückt. Die meisten von uns wahrscheinlich auch.

Aber das Problem, das ich sehe, ist: ES BRAUCHT ZWEI ZUM ARGENTINISCHEN TANGO – sonst bleibt man dem typischen lästigen ‚Gruppenverhalten‘ überlassen, und dem, was auch immer sie zu tun beschließen (Mobbing, Mobbing und noch mehr Mobbing).“

„Es ist etwas gar nicht in Ordnung, wenn Ausbilder, egal wie gut oder schlecht sie sind, egal wie bekannt oder unbekannt, keine gute Arbeit leisten (aber trotzdem Geld dafür nehmen!). Es ist auch nicht in Ordnung, wenn Eltern ihre Kinder nicht erziehen, denn wenn sie das täten, würden sie sich später nicht in nervige Menschen verwandeln und andere misshandeln.“

„Mein Tanzlehrer behandelte Frauen schlecht, die in seinen Augen nicht ‚schön‘ waren, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen. Er hat die Frauen, die nicht aufgetakelt waren, buchstäblich nicht einmal angeschaut.

Er ist einer der (vielen) bekanntesten Namen im Tango in den USA (…) Er misshandelte jeden, der auch nur im Entferntesten als ‚Konkurrenz‘ in Frage kam. Er zog die Mädchen von den Jungs weg, wenn sie als Paar zum Tanzkurs kamen, flirtete dann mit ihnen weiter, um dem Kerl, der direkt neben ihnen stand, zu zeigen, wie viel besser er ist ... besserer Tänzer, besser aussehender Mann. Obwohl man nicht genau wusste, ob es sich bei diesen Paaren nur um Tanzpaare oder auch um private Paare handelte, gab er jedem einzelnen Mann das Gefühl, Dreck zu sein.“

„Ich höre teilweise auf; ich beende die Kurse, mache aber mit den Milongas weiter.

Warum?

1. Die sehr steile Lernkurve macht es schwierig, Fortschritte zu machen, wenn man nicht viel übt.

2. Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern (und nicht zu meinen Gunsten)

3. Zu viele Leute, die viel älter sind als ich – obwohl ich nicht so jung bin; auch nicht in der Nähe des Durchschnittsalters des Kurses. Ich muss mit Leuten in meinem Alter tanzen, die Spaß und Energie haben.

4. Ich mag die Musik nicht, die im Kurs gespielt wird. Es ist alte Musik aus der Zeit vor 1950 – die Musik des goldenen Zeitalters, oder noch schlimmer, überhaupt kein Tango.

Aber vor allem sind es die anfallenden Kosten. Ich kann die meisten der oben genannten Probleme bei Salsa, Merengue usw. lösen, warum also mit Tango weitermachen?“

„Ich bin ein Führender und denke, es ist an der Zeit, dass es für Frauen gesellschaftsfähig wird, Männer zu fragen. Es ist verrückt, dass Männer die Kontrolle über die Situation haben, sie haben die Möglichkeit zu entscheiden, ob sie abgelehnt werden können oder nicht, aber Frauen nicht? Ich sage, wenn Frauen die Verantwortung dafür übernehmen wollen, ob sie angenommen oder abgelehnt werden, warum soll man sie nicht lassen?“

„Ich habe letztes Jahr gekündigt, nachdem ich die widerlichste Erfahrung mit einem bekannten Tanzlehrer gemacht hatte. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht bereit bin, an Kursen teilzunehmen, in denen Menschen misshandelt werden. (…) Er redete grundlos auf die Leute ein, schrie sie sogar an und erlaubte den männlichen Tanzschülern, dasselbe mit den weiblichen Folgenden zu tun.“

Quelle: https://tangoclay.us/a-hundred-and-one-reasons/

Beiträge, welche die Verhältnisse im Tango positiv darstellen, fand ich kaum. Ich meine daher wirklich, dass es auch außerhalb der USA vor allem selbstgemachte Probleme sind, die eine Weiterentwicklung hemmen.

Nicht nur Lehrkräfte und Veranstaltende missbrauchen den Tango in vielfältiger Weise zur Ego-Show, was eine herbe Rangordnung entstehen lässt. Darunter leiden vor allem Anfänger und Frauen, namentlich ältere. Und auch Leute, die nicht das Geld für teure Ausstattung und hohe Kosten bei Festivals und anderen Luxus-Aktivitäten haben oder viel Unterricht zu bezahlen. Wohl auch diejenigen, die nicht bereit sind, angesagte Cliquen auf allen Vieren zu betreten.

Übrigens beziehe ich solche Erkenntnisse nicht von YouTube (wo man diese Themen geflissentlich meidet), sondern (auch noch in meinem fortgeschrittenen Alter) von vielen Milonga-Besuchen.

In unserer Gegend gibt es durchaus Veranstaltungen, die von (gemeinnützigen) Vereinen oder privaten Initiativen durchgeführt werden. Wo es nicht ums Geld geht, sondern um die Chance, sich und anderen eine schöne Tanzgelegenheit zu verschaffen. Raumverdränger und Ego-Booster sieht man dort kaum, die Atmosphäre ist freundlich und zugewandt, Cliquenbildung die Ausnahme. Die Musik ist oft modern und vielfältig, und siehe da: Die Gäste tanzen im Schnitt besser!

Und wenn es mal an Terminen mangelt, haben wir ja noch unser Wohnzimmer

P.S. Mehr Kundenstimmen aus diesem Blog habe ich bereits veröffentlicht:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/08/mit-dem-tango-aufhoren.html

Illustration: www.tangofish.de

Kommentare

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