Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählt …18


In meinem letzten Artikel habe ich mir erlaubt, ziemlich kopfgesteuerte Gedankenlabyrinthe zum Tango ein wenig zu veralbern. Konkret ging es um die Improvisation in unserem Tanz. Kann man die überhaupt mit der Birne voran erreichen? Meine etwas flapsige Selbsterfahrung zum Thema lautete:

Ach, mei‘… Ich schau halt mal, denn seh‘ ich’s schon…“

Aber vielleicht sollte ich zu der schwierigen Materie doch noch einige seriösere Ideen beisteuern. Also:

„Improvisation bedeutet, etwas ohne Vorbereitung, aus dem Stegreif dar- oder herzustellen. Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter Improvisation auch den spontanen praktischen Gebrauch von Kreativität zur Lösung auftretender Probleme.“  

Wobei sich der Begriff „Stegreif“ nicht aufs „Stehen“ und „Greifen“ bezieht – was natürlich beim Tango nahe läge (und dennoch ohne „h“ geschrieben wird), sondern den „Stegreif“, sprich Steigbügel, meint: Der Reiter löst also ein bodengebundenes Problem, indem er nicht erst vom Zossen absteigt, sondern von oben her aktiv wird, möglichst noch im vollen Galopp.

Aufschluss gibt uns auch die etymologische Ableitung:

Improvisation ist auf das italienische Wort improvviso (unmittelbar, unvorhergesehen, unerwartet), sowie das lateinische improvisus, bestehend aus der Vorsilbe in– (hinein) und providere (vorhersehen) zurückzuführen.“

Man agiert also ungeplant, spontan, aus dem Moment heraus, löst ein Problem „aus dem Lameng“ (franz. „la main“: „die Hand“) – sprich: schüttelt etwas aus dem Ärmel.

Bekanntlich ist man beim Tango ja erheblich stolz darauf, dass er – im Gegensatz zu den meist verachteten (und oft auch nicht beherrschten) Standardtänzen einen „reinen Improvisationstanz“ darstelle.

Bestenfalls handelt es sich jedoch bei all diesen Tänzen um eine „gebundene“ (nicht: „freie“) Improvisation, da sie stets in Bezug zur Musik geschieht. Diese ist beispielsweise bei der „Contact Improvisation“ nicht unbedingt nötig – da tanzt man gerne nur zu „inneren Klängen“. Die Beschallung von außen würde eher stören (nun gut, dieser Eindruck drängt sich mir auch oft beim Betrachten einer Milonga-Piste auf…).

Ich habe gestern Lebenszeit verschwendet, indem ich auf „YouTube“ unter dem Begriff „Tango Improvisation“ suchte. Die vielen Videos, die sich mir boten, zeigten halt Showtänze, welche wohl nicht durchgehend choreografiert waren. Aber das macht jeder Hobby-Tänzer auf dem Parkett auch: Keiner von uns tanzt ein ganzes Stück nach einem feststehenden Ablaufprogramm – weder im Tango noch in den Standardtänzen. In beiden Bereichen gibt es einen Vorrat an Figuren oder zumindest Grundbewegungen, welche die Akteure je nach Musik, Platzangebot, choreografischem Fundus, Können und Verständigungsgrad hintereinander hängen. Daher rate ich schon einmal ab, hier den Tango als etwas Einmaliges zu betrachten!

Das liegt weniger an den Lehrern als an deren Schülern: Viele wollen eben ein klares Schrittmuster, an dem sie sich festhalten können. Unterrichtet man dagegen Technik oder lediglich Grundbewegungen wie Ochos oder Cunitas und regt frühzeitig zum selbstständigen Kombinieren an, steigt die Rückzugsquote aus den Kursen erheblich.

Daher habe ich schon einmal eine kommerziell niederschmetternde Nachricht: Die große Mehrheit derer, die heute Tango (oder Standardtänze) lernen, sind von ihrer psychischen Struktur her denkbar ungeeignet zur Improvisation: Die Kombination aus mangelndem Körpergefühl, Angst vor Veränderungen und eigenen Entscheidungen verhindert das nachhaltig und wäre nur durch heftigstes Üben teilweise überwindbar. Aber hierzu ist gerade dieser Personenkreis kaum bereit, da sich zunächst nur homöopathische Erfolgserlebnisse einstellen würden.

Die Reaktion normaler Tanzschulen und Tango-Institute auf das hinter den Kulissen durchaus bekannte Elend ist allerdings krass unterschiedlich. Während man im ADTV-Umfeld Marketing nach dem Motto „Tanzen macht Spaß, auch wenn man es nicht kann“ betreibt, lautet das Mantra im Tango-Lehrbereich, Schritte würden eh überschätzt. Viel wichtiger seien Umarmung sowie strikte Einhaltung von Ronda und Codigos.

Was kann man der verbleibenden Minderheit raten, um ihre Improvisation zu verbessern?

Wenn ich manche neo- und contangobegeisterten Körperwelten zu Lounge-Musik übers Parkett schlingern sehe, fällt mir immer wieder ein Satz ein, der in Zauberer-Kreisen bekannt ist: „Wenn du etwas aus dem Ärmel ziehen willst, musst du zuerst etwas hineintun.“ Sprich: Ohne eine solide Tanztechnik kann man Improvisationen vergessen. Balance, Achse, richtige Belastungen, Stabilität, Schulterführung und eindeutige Signale sind keine netten Begleiterscheinungen, sondern die Unterscheidungskriterien zwischen inspirierender Performance und nichtssagendem Bewegungsmüll.

Wahrlich: Von nichts kommt nichts – und schon gar keine Improvisation!

Gift für diese Kunst ist heute vor allem die Ideologie der „engen Umarmung“: Erstens  bedeutet sie den Verzicht auf viele Bewegungsoptionen wie Einzeldrehungen, Schattenpositionen und gar Solo-Passagen. Und wer ständig nur mit Brust und Stirn aneinander klebt, hat schlichtweg kaum Platz, um mehr zu machen als das übliche Klein-Klein-Getrippel. Vor allem aber: Viele Frauen entwickeln keine stabile Achse, weil sie in dieser Haltung den Mann gerne als „Ersatz-Rückgrat“ missbrauchen.

Ich merke es meist bald, wenn ich mit einer Partnerin unterwegs bin, die in den letzten Jahren nach der „traditionellen“ Methode ausgebildet wurde. Solange ich nah dranbleibe und den üblichen „Sechseinhalb-Figuren-Fundus“ tanze, läuft es ganz ordentlich. Doch wehe, ich beginne in Tempo, Abstand oder Choreografie zu variieren: Per „Schreckreaktion“ wird die Dame instabil, was mich zwingt, sie wieder nahe zu führen und auf die ausgetretenen Pfade zurückzukehren.

Sorry, Ladies: Wer nicht allein stehen und tanzen kann, ist zu keinerlei Improvisation fähig!

Von der Berliner Neo-Aktivistin „Vio Tango Forge“ gibt es einen sehr interessanten Artikel: „Real Improvisation“. Eine Idee darin hat mich besonders angesprochen: „One step at a time“ – man sollte also nicht in Schritt-Sequenzen denken, sondern sich in einem Moment nur auf eine Aktion konzentrieren, danach kann alles Mögliche kommen.

Dazu ist natürlich der Mut erforderlich, bewusst „gegen den Strich“ gebürstete Abläufe zu probieren. Warum muss es beispielsweise nach eine Wiege wieder nach vorne weitergehen? Vielleicht doch lieber mal nach hinten, zu Seite oder den Schlussschritt in eine Spot-Drehung verwandeln? Ich gebe Ihnen allerdings die Garantie: Das wird bei den ersten Versuchen schief gehen – wer nicht den Mut hat, über „Fehler“ zu neuen Ufern zu gelangen, soll es lieber gleich lassen!

Ein wirksames Mittel, Improvisationen zu verhindern, ist auch die Kateridee, nun wirklich auf jeden Taktschlag einen Schritt zu setzen und somit einen ganzen Tango „durchzulaufen“. Wo bleiben da Gelegenheiten zur Improvisation? Also: Öfter mal eine Pause einlegen, warten, bis einem (oder dem anderen) was einfällt, darauf dann reagieren!

Die Crux dabei ist aber: Pausen, Tempo-Variationen oder plötzliche Stimmungswechsel sind halt in der modernen Tangomusik viel häufiger. Daher ist „100 Prozent EdO“ ebenfalls ein probates Mittel zur Einschränkung von Improvisationen. Ich erlebe das immer wieder: Wer auch zu zeitgenössischen Klängen tanzt, macht hinsichtlich Improvisation mehr Fortschritte als jemand, welcher sich lediglich durch die konstanten Tempi der Klänge von einst wurstelt.

Und ja, falls es noch unbekannt sein sollte: Auch die Folgenden können und sollen improvisieren. Dazu wäre es jedoch nötig, sie aus der Klammergriff-Haltung zu entlassen und ihnen Freiräume anzubieten. Hierfür gilt: Wer mehr macht, ist weniger stabil. Daher sollte der Führende in solchen Momenten die Flossen still halten, die Dame machen lassen und dann möglichst kreativ darauf reagieren.

Und schließlich Improvisation hat als Voraussetzung drei Dinge: üben, üben, üben! Man muss sehr viel automatisieren, um den Kopf für Kreativität frei zu haben.

Das erlebe ich immer wieder: Frauen, die mit anderen Tanzpartnern brav nach deren Führung tanzen – kein Wunder, bleibt ihnen ja nichts anderes übrig! Viele Männer sehen es als persönliches Scheitern, wenn die Dame nicht genau das tanzt, was sie im Sinn haben. Ich dagegen freue mich darüber!
Wenn ich die Tänzerin dann auffordere und sie alsbald den Freiraum spürt, brennt die manchmal ein Programm ab, dass mir schwindlig wird. Oft genug prangt über ihrem Haupt dann die imaginäre Schlagzeile: „ENDLICH DARF ICH MAL!“
Wegen solcher Highlights gehe ich immer noch tanzen…

Welche umfassende Weisheit zur Improvisation habe ich daher zu vermitteln?

Ich lass‘ halt die Frau machen – und schau dann mal, denn seh‘ ich’s schon…

Ach so, hatten wir bereits… Dann lassen wir lieber zum Schluss eines meiner lokalen Lieblings-Paare tanzen:


Kommentare

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.