Magst du führen?


Im Tango vom Rio de la Plata, einem sinnlichen Paartanz, gibt es einen führenden und einen folgenden Tanzpartner. Traditionell führt der Mann, und die Frau folgt (oft mit geschlossenen Augen). Im Ursprungsgebiet des Tangos, in den Hafenstädten am Río de la Plata, beschreibt man dies mit dem Reim: ‚El hombre conduce, la mujer seduce y se luce.‘ („Der Mann führt, die Frau verführt und glänzt.“). Mit „Tango“ verbindet man Machismus, männlichen Chauvinismus und Heterosexualität.

Es ist noch nicht so lange her, dass es als ziemlich unschicklich, ja verdächtig galt, wenn auf einer Milonga zwei Frauen miteinander tanzten. Oh, oh, sind die nicht doch vom anderen Ufer? In Ländern mit stark homophoben Tendenzen führt dies schon mal zum Verweis von der Tanzfläche. Ich habe darüber berichtet:

Auch in unserer eher aufgeklärten Gesellschaft müssen Damen, die mit ihresgleichen tanzen, immer noch damit rechnen, von bestimmten Männern nicht mehr aufgefordert zu werden. Dass dabei die obigen Ressentiments eine Rolle spielen, liegt für mich auf der Hand. Zudem stehen die Damen dann fallweise den Tänzern nicht als Partnerin zur Verfügung – und, noch schlimmer: Sie konkurrieren mit ihnen um begehrte Tangueras.

Seit einiger Zeit deutet sich allerdings ein Umschwung an, da man eine Marktlücke entdeckte: Die „Tangoindustrie“ bietet zunehmend Kurse und Workshops für Frauen an, welche das „Führen“ erlernen wollen – und selbst geschlossene Tangoveranstaltungen mit Partner-Proporz berücksichtigen immer mehr die Rolle der Tanzenden und nicht ihr Geschlecht. So kann man eine kommerziell unerwünschte Abwanderung von Frauen verhindern, weil sie wenig aufgefordert oder wegen des Männermangels auf geschlossenen Events gar nicht erst zugelassen werden.

Selbst die extrem konservativ gestrickte Tangolehrerin und Veranstalterin Melina Sedó veröffentlichte kürzlich einen flammenden Appell an die Frauen, das Führen nicht nur den Männern zu überlassen und ihnen so auch die Teilnahme an Encuentros und Marathons zu ermöglichen:
  
„Denn so sollte Tango sein: eine angenehme Begegnung zwischen zwei offenen, fürsorglichen und aktiven Partnern. Kein historisches Rollenspiel. Kein Dating-Event. Keine Aktivität, bei der eine Mehrheit (Frauen und alle, die nicht geschlechtsspezifisch tanzen möchten) nicht das bekommt, was sie verdienen: viele schöne Tänze.“

Bei alledem, so scheint mir, geht es weniger um die Moral denn um Einkünfte!

Ich möchte hier einmal „aus dem Nähkästchen“ plaudern, da ich in meiner engeren Tango-Umgebung überdurchschnittlich viele Tänzerinnen kenne, welche inzwischen die „führende Rolle“ beherrschen. Auf unserer „Wohnzimmer-Milonga“ trifft dies auf eine deutliche Mehrheit der weiblichen Gäste zu.

Die positive Wirkung besteht zunächst einmal darin, dass sich der ganze Krampf um „Männermangel“ und „Sitzenbleiben“ in Luft auflöst: Wenn gerade kein Typ frei ist, tanzt man eben mit einer Frau. Oft auch, obwohl es männliche Alternativen gäbe – man hat in dem Moment eben mehr Lust, die nächste Runde mit einer Tänzerin zu drehen. So einfach ist das!

Sexuelle Motive konnte ich dabei noch nie feststellen – aber das mag an der generellen Einstellung der Gäste unserer Veranstaltungen liegen: Denen geht es halt fast ausschließlich ums Tanzen – und nicht um irgendwelche hetero- oder homophile Annäherungen. Und wenn doch (man kann ja niemand hinter die Stirn schauen), so ist es deren Privatsache, die mich nichts angeht, so lange man sich einer gewissen Diskretion befleißigt.

Allerdings – das gehört zur Wahrheitspflicht – habe ich in wenigen Fällen schon mit eher führenden Frauen getanzt, bei denen ich das Gefühl hatte, nicht zur erotischen Zielgruppe zu gehören. Das behindert dann schon ein wenig die emotionale Bindung – kommt aber bei eindeutig hetero-orientierten Tangueras ebenso vor.

Interessant auch der Weg, auf dem meine „führenden“ Tango-Freundinnen zu dieser Betätigung fanden: In den meisten Fällen durch „learning by doing“ und (sorry, liebe Tangolehrer) nicht in Kursen oder „Workshops“. Und es sind Tänzerinnen, die schon in der folgenden Rolle viel Eigeninitiative zeigten. So fiel ihnen der Übergang wohl relativ leicht. Allerdings und das sehe ich als Voraussetzung an beherrschten sie zu dem Zeitpunkt schon grundlegende Basistechniken. Führen lernen zu wollen, weil man noch nicht richtig folgen kann, bringt eher wenig!

Weiterhin stelle ich gelegentlich fest, dass Tänzerinnen, die zu führen beginnen, als Folgende plötzlich härter" tanzen. Nach meinen Erfahrungen ist dies jedoch lediglich ein Übergangsstadium.
    
Männer sehen diese Weiterentwicklung häufig als Mängel-Bewältigung: Bevor man lange herumsitze, fordere man halt Geschlechtsgenossinnen auf. Das mag anfänglich bei einigen so sein – beim Führen bleiben allerdings nur diejenigen Damen, welche daran auch Freude haben und es als interessante neue Option erleben. Ich kenne jedenfalls viele, die eine gut tanzende Partnerin einem Kerl vorziehen, der nur an ihnen herumzerrt. Und: Es hilft sehr beim Verständnis des Paartanzes, auch die Perspektive des Gegenübers zu kennen.

Was mir ebenfalls immer wieder auffällt: „Führende“ Frauen arbeiten äußerlich deutlich weniger mit dem „Weibchen-Klischee“. Flatternde Röckelein, glitzernde Highheels und heftiges Makeup sind weit weniger üblich als bequeme Hosen, flache Sneakers und das fehlende Bedürfnis, sich ein Gesicht auf die leere Fläche zu malen. Klar, solche Tänzerinnen sind ja nicht darauf angewiesen, durch weibliche" Attribute männliche Blicke  anzuziehen.

Wie gut tanzen führende Frauen? Nach oben hin ist die Grenze geschlechterübergreifend: Ausnahmetänzerinnen sind ebenso selten wie ihre männlichen Pendants. Das andere Extrem ist viel unterschiedlicher: Absolut lausig führende Damen erlebe ich sehr selten, während die entsprechende männliche Spezies je nach Milonga in einer Häufigkeit zwischen 20 und 60 Prozent vorkommt. Bei der Selbsteinschätzung trennen sich offenbar die Welten: Frauen, die etwas nicht können, lassen es meist (oder erlernen es gründlich), während bei den Kerlen eher die Überzeugung herrscht: Kann ich nicht – gibt’s nicht.

Einen „Abnäher“ halte ich allerdings für wichtig: Es gibt keinen „Rollenwechsler-Bonus“. Führende Frauen müssen die Konkurrenz mit ihren männlichen Kollegen auf Augenhöhe bestehen.

Die kanadische Tänzerin Laura Riva schreibt dazu auf einem Blog:

„Ich sage nicht, dass die Leute nicht mit der anderen Rolle experimentieren oder sich mit ihr beschäftigen können. Ich sage auch nicht, dass Sie gut in der Rolle sein müssen, um das zu dürfen (zum Teufel, jeder fängt als Anfänger an!). Das wäre doch lächerlich. Was ich damit sagen möchte, ist, dass das Tanzen auf niedrigem Niveau nicht als großartiges Tanzen gelobt werden sollte, nur weil der Tänzer nicht traditionell ist. Dieses Tanzen kann gefördert, gelobt usw. werden – aber es wird nicht nur wegen des Geschlechts und der Rolle des Tänzers zu einem hochwertigen Tanz.“

Selber habe ich mit dem Rollenwechsel nur sehr begrenzte Erfahrungen. Es kommt gelegentlich vor, dass eine meiner Partnerinnen während eines Tanzes urplötzlich zu führen beginnt oder ich sie dazu veranlasse. Mir macht das Spaß, obwohl ich ein lausiger „Folgender“ bin. Aber die Damen müssen ja auch „Krisen-Management“ erlernen…

Meine Tanzerlebnisse mit Männern halten sich gleichfalls in engen Grenzen, wobei ich dann meist die führende Rolle übernahm, da meine Partner deutlich besser folgen konnten als ich.

Von daher weiß ich: Bei einem „Männertango“ läuft vieles mehr über Kraft und Athletik, beim Tanz zwischen Frauen ist deutlich mehr Sanftheit und Sensibilität zu erkennen. Aber ist es deshalb „kein Tango“? Ich halte diese Varianten im Gegenteil für interessante Bereicherungen.

Um noch das größte Tabu anzusprechen: Von meinen Tangofreundinnen weiß ich, dass sie normalerweise keine Probleme haben, eine Frau aufzufordern – nur wenige sperren sich gegen einen Tanz mit ihresgleichen. Bei Männern ist die Aversion gegen einen Tanz miteinander ungleich größer.

Ich fürchte, wir stecken da mental noch in den 1950-er Jahren. Bekanntlich war weibliche Homosexualität nicht einmal zu Nazi-Zeiten strafbar, während man gegen entsprechende Männer mit drakonischen Strafen vorging. In der Bundesrepublik wurde der berüchtigte Paragraf 175 (nach Reformen in den Jahren 1969 und 1973) erst 1994 ersatzlos gestrichen.

Und noch 1957 befand das Bundesverfassungsgericht diese Diskrepanz als konform mit dem Grundgesetz-Verbot einer Diskriminierung wegen des Geschlechts. Aus der gruseligen Begründung:
       
„Schon die körperliche Bildung der Geschlechtsorgane weist für den Mann auf eine mehr drängende und fordernde, für die Frau auf eine mehr hinnehmende und zur Hingabe bereite Funktion hin. (…)
Anders als der Mann wird die Frau unwillkürlich schon durch ihren Körper daran erinnert, dass das Sexualleben mit Lasten verbunden ist. Damit mag es zusammenhängen, dass bei der Frau körperliche Begierde (Sexualität) und zärtliche Empfindungsfähigkeit (Erotik) fast immer miteinander verschmolzen sind, während beim Manne, und zwar gerade beim Homosexuellen, beide Komponenten vielfach getrennt bleiben. (…)
Diese Verschiedenheiten des Geschlechtslebens machen sich bei der Gleichgeschlechtlichkeit womöglich noch stärker geltend als bei heterosexuellen Beziehungen, da der auf Mutterschaft angelegte Organismus der Frau unwillkürlich den Weg weist, auch dann in einem übertragenen sozialen Sinne fraulich-mütterlich zu wirken, wenn sie biologisch nicht Mutter ist, während eine entsprechende Kompensation beim Manne fehlt. So gelingt der lesbisch veranlagten Frau das Durchhalten sexueller Abstinenz leichter, während der homosexuelle Mann dazu neigt, einem hemmungslosen Sexualbedürfnis zu verfallen.“
(BVerfGE 6, 389)

Es wäre schön, uns auch im Tango von solchen Vorstellungen zu befreien. Vielleicht hilft dieses Video dabei. Übrigens ist es auch interessant, die nach Geschlecht sehr unterschiedlichen Zuschauer-Reaktionen zu verfolgen!

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