Was ist denn nun der „echte Tango“?
Die
Frage nach dem „authentischen Tango“
habe ich schon einmal gestellt:
Die „Echtheit“
des jeweils angebotenen Tangos (also der Rückbezug auf alte „Traditionen“) scheint
auf dem Markt von hoher Bedeutung zu sein. Erläuterungen, was man damit meint,
finden sich aber so gut wie nie. Im obigen Artikel hatte ich das am Beispiel der
Werbung eines argentinischen Tanzlehrerpaars dargestellt.
Dadurch handelte ich mir die Kritik eines Tangoveranstalters ein, welche mich allerdings
thematisch auch nicht weiterbrachte: Der Maestro tanze halt schon seit
Kindertagen, sei also „durch und durch
echt“, und man solle seine Texte, da kein Deutsch-Muttersprachler, nicht so
hart kritisieren – schließlich sei man „ausländerfreundlich“.
Schön und gut – aber was ist denn nun, verdammt noch mal,
der „echte“ Tango? Diese Frage ließ mich (und Google) nicht ruhen, bis ich auf den
höchst interessanten Text von Vicky
Kämpfe stieß:
„Tango der Metropolen –
Bedeutungsveränderungen des Tango auf seinem Weg von Buenos Aires in die
europäischen Metropolenkulturen“
Es handelt sich um die Magisterarbeit der Kulturwissenschaftlerin an der Universität
Lüneburg. Vicky Kämpfe verfügt
durchaus über praktischen Tangobezug, insbesondere durch ihre Mitarbeit bei „Proyectango“,
einem Tanztheater mit dem Argentinier Roberto
Barcena. Die Autorin hat bei der deutschen UNESCO-Kommission und der
Kulturbehörde im argentinischen Cordoba mitgearbeitet.
Soviel
zur „Authentizität“…
Vicky Kämpfe beschreibt die kulturelle
Verwurzelung und Entwicklung des Tango in der argentinischen Hauptstadt und seine
beiden „Auswanderungen“ in europäische Metropolen Anfang des 20. Jahrhunderts
sowie ab den 1970-er Jahren.
Im
Kern geht es ihr um den Begriff der Semiotisierung:
Die ursprünglichen Zeichen und Symbole des Tango wurden in einem neuen kulturellen Kontext umgedeutet
und den Bedürfnissen anderer sozialer
Schichten angepasst (für eine solche Aussage benötigen Soziologen übrigens
Dutzende von Seiten…).
Als
Beispiele beschreibt die Autorin Bilder wie das „Stadtzentrum“ mit seinen vor allem erotisch-dekadenten
Versuchungen, „Hut und Dolch“ für
die Darstellung männlicher Existenzkämpfe und Krisen, die „Nacht“ als Parallelwelt unbefriedigter Sehnsüchte, das „Café“ als Ort der Erinnerungen und
Träume sowie das „Bandoneón“ als
Stimme der Seele mit ihren Klagen.
Die
Soziologie der Menschen zur Gründerzeit in Buenos Aires und der europäischen
Rezipienten unterscheidet sich drastisch: Tango war in Argentinien der Tanz einfacher Menschen, speziell der
Unterschicht. Vom ersten europäischen „Tangofieber“
ab zirka 1905 wurde diese Bevölkerungsgruppe nicht erfasst – dort tanzte man lieber „Schieber“. Infiziert wurden eher Offiziere,
Adelige und das Kapital- und Bildungsbürgertum, teilweise auch Künstler.
In
der zweiten „Einwanderungswelle“ ab
den 1970-er Jahren (welche von Flüchtlingen vor der argentinischen Militärdiktatur
sowie Musikern wie Piazzolla ausging) wurde eine ganz andere Schicht erfasst: gebildete, beruflich engagierte kinderlose
Singles mit Affinität zur Hochkultur. „Das
Spektrum reichte jedoch von der alternativen zwanzigjährigen Studentin bis zum
siebzigjährigen konservativen Rentner.“(S. 82) Wobei wir inzwischen die
erstere Gruppe verloren haben dürften…
Schön
sind die von Raimund Allebrand
entliehenen Tango-Typen:
„Der Paar-Typ sucht die Aktivität und
Freizeitgestaltung mit dem Lebenspartner. Der Profi-Typ verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Tango (…). Der Klassische Typ nutzt die
erotisch-sexuelle Komponente und verkörpert den eher erfolglosen ‚Abschlepper‘.
Der Sportive Typ begeistert sich für
die körperliche Bewegung im Tango (…). Der Tanguero-Typ
ist Tango, d.h. er lebt im kulturellen Tango-Universum (…). Der Lern-Typ sieht den Tanz als eine zu
meisternde Herausforderung. Der Kommunikative
Typ sucht Freunde und Gesprächspartner. Der Ambiente-Typ genießt die stimmungsvolle Atmosphäre und den
exotischen Touch der Milongas. Der Narzisstische
Typ ist fixiert auf die Bewunderung und Inszenierung seiner selbst. Der Ersatz-Typ kompensiert einen im Leben
nicht realisierten Bereich.“ (S. 82-83)
Einen
Typ hat Allebrand aus meiner Sicht
noch vergessen: den „Machtausüber“!
Auf
jeden Fall zeigen aber schon diese ganz unterschiedlichen Bedürfnisse, dass es
den „einen, echten Tango“ nicht geben kann.
Auch
die Tanzstile veränderten sich
entsprechend: vom lasziven, anarchischen Machotanz des Prekariats von einst über
den schicken, eleganten, leicht verruchten Tango der 1920-er Jahre, den Nuevo-Stil ab zirka 1980 bis zum eher
reglementierten und reduzierten Tango heute.
Welchen
Stellenwert nimmt derzeit die ursprüngliche
„Tangokultur“ ein? Da ist die Verfasserin ziemlich pessimistisch. Sie
meint, dass den Tangotexten „und somit
deren Inhalten in der heutigen Tango-Rezeption in Europas Metropolen wenig bis
kein Interesse und Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Einerseits beherrschen
die meisten Tanzenden die spanische Sprache nicht so gut, um die Texte zu
verstehen. Andererseits interessieren sich die Tanzenden auch nicht für die
Inhalte der Texte der getanzten Musik.“ (S. 89)
Vicky Kämpfes Schlussfolgerung: „Der Tango nahm eine eigenständige ‚europäische‘
Entwicklung, die ihn vom Tango der Metropole Buenos Aires unterscheidet.“
(S. 88)
Offenbar
waren die Symbole und Zeichen des Tango geeignet, sie auch mit anderen Wünschen und Ansprüchen auszufüllen:
Die Autorin nennt hier beispielsweise Ausleben von Traurigkeit, Suche nach
Trost, Alltagsflucht und kulturelle Nische, Körperlichkeit des Tanzes und
Normensetzung für die zwischenmenschliche Kommunikation. Tango, so ihre
Vorstellung, ist immer dann nahe, wenn es zu Krisen kommt – welchen auch immer.
Und,
so auch meine Erfahrung aus fast 20 Jahren: Menschen mit einer stabilen Paarbeziehung (die dann auch
noch den Tango übersteht) sind deutlich in der Minderheit…
Gerade
bei seiner zweiten „Auswanderungswelle“ habe der Tango „Warencharakter“ angenommen: Kämpfe spricht von einer „teilweise bewusst praktizierten
Selbstexotisierung“ (S.103), welche
ich schlicht als „Pferdeschwanz-Syndrom“ bezeichnen würde: „Sowohl die Lehrenden als auch die Tanzenden
hatten ein Interesse, ihre ‚Tangokultur‘ nicht zu verändern (…). Denn diese
Gemeinschaft hatte einen Sinn: Den Lehrenden war sie materielle Basis, um in
ihrer Emigration finanziell, strukturell und sich Identität gebend überleben zu
können, den Tanzenden war sie ein vermeintlicher Ausweg aus der Situation ihres
täglichen Lebens. Die (…) Gruppe der ‚geschlossenen Gesellschaft‘ verfestigte
sich.“ (S. 104)
Abschließend
widmet sich die Autorin der „Frage nach
dem ‚echten‘ Tango“. Hier braucht man eigentlich nur noch zitieren:
Es
habe beim Tango eine „Vereinnahmung im
Sinne einer Akkulturation“ stattgefunden: „Die Gesellschaft der europäischen Metropolen lernte den Tango kennen,
nahm ihn in wenigen Teilaspekten auf, adaptierte ihn an eigene Wünsche und
Notwendigkeiten und gab damit dem Tango (…) einen völlig neuen Charakter. Die
Tanzenden beharrten jedoch darauf, einen ‚echten‘ Tango aus Buenos Aires zu
tanzen.“ (S. 107)
„Zugleich beschreibt
es ein stillstehendes oder eher rückwärts gerichtetes Verhalten, mit einem
Rückgriff auf alte Werte von Ordnungen und festen Orientierungen in Form
sozialer Regeln und tänzerischen Bewegungsfestschreibungen. (…) Die Suche der
Tanzenden nach dem ‚Echten‘ war rückwärts gerichtet. (…) Anstatt in der eigenen
Persönlichkeit und Gegenwart zu suchen, suchten sie im Vergangenen, und man
hielt sich an Werten einer Zeit fest, die mit dem Gegenwärtigen wenig gemein
hatten. (…)
Die europäischen
Tanzenden konnten nur die Ausdruckformen und Inhalte des Tangos aus der
Metropole Buenos Aires nachahmen. Da sie einer anderen Metropolenkultur zugehörten,
konnten sie nicht tatsächlich diesen Tango tanzen.“ (S.108-110)
Dem
eingangs erwähnten Tangoveranstalter
antwortete ich damals:
„Die Marketing-Masche
vom ‚authentischen argentinischen Tango‘ ist mir einfach zu platt. Was soll das
sein? Aber Du kannst gerne (auch öffentlich) einmal erklären, was Du darunter
verstehst – oder auch, was Du mit ‚durch und durch echt‘ meinst.“
Dessen
Antwort fand ich erfrischend ehrlich:
„Dieses... durch und
durch echt ...ist ein blödsinniger Jargon, nichts Ernstes.“
Früher
habe er einmal einen Kasatschok
erlebt, getanzt von sowjetischen Soldaten: „Jeder
von denen hatte mindestens eine Flasche Wodka intus. Damit ist es nun vorbei,
ist für immer nicht mehr authentisch
möglich.“
Zitat: "In der zweiten „Einwanderungswelle“ ab den 1970-er Jahren ... wurde eine ganz andere Schicht [i.e. als Kunden] erfasst: gebildete, beruflich engagierte kinderlose Singles mit Affinität zur Hochkultur." Wie wahr. Bis jetzt habe ich auf einer Milonga noch keinen unterbelichteten Penner mit Fuselvorrat im Flachmann erlebt. (Allerdings stellte sich durchaus das eine oder andere mal heraus, dass man über Kinder und/oder einen dauerhaften Lebensabschnittsgefährten verfüge)
AntwortenLöschenDieser soziologischen Betrachtung, was denn nun der echte Tango sei, kann ich nicht Substantielles beifügen.
ABER ich darf mir wünschen, die Studie um einen pekuniären Aspekt zu erweitern: in den (netto) drei Jahren, die ich jetzt im Tango weile, nehme ich eine galoppierende Inflation der Preise wahr. Zumindest hierzuland. Inzwischen sind wir bei Preisen angelangt, die ich für schlichtweg gesponnen halte, die sich am Markt allerdings durchsetzen lassen. (Beispiel: Tangofest Dresden - Anderthalb-Stunden-Tarif 29 Euro - multipliziert mit zwei (siehe oben - man plant ja schließlich gemeinsam mit dem Lebensabschnittsgefährten) ergibt 59 Euro) Damit liegen wir in der Nähe einer Handwerkermeisterstunde (abhängig vom Gewerk und der Betriebsgröße des Handwerkers). Mit dem Unterschied, dass eine Handwerkermeisterstunde etwas Substantielles und Dauerhaftes schafft.
Natürlich möchte ich auch etwas Dauerhaftes aus einem Tangoworkshop mitnehmen. Aber wie subjektiv wichtig und ernst auch immer ich den Tango nehme - ich verdiene damit nicht meinen Lebensunterhalt. Und wenn ich Tango und Workshop aus meinem Leben streiche, bringts mich nicht um. Ein nicht reparierter Wasserschaden an meinem Haus oder eine nicht reparierte Bremsleitung am Auto können sich da schon existenzbedrohender auswirken.
Ich gewinne immer mehr den Eindruck, dass der Tango via Eintrittspreise oder Kursgebühren zu einer Elitenbildung führt. Die 'Elite' kann sich Tango leisten, das Prekariat halt nicht. Aber wie schon im Kfz-Bereich nicht jeder der Porsche fährt auch Auto fahren kann, kann auch nicht jeder Tango tanzen, der sich die teuren Workshops leisten kann. Somit ist 'Elite' hier sicherlich eher etwas Gefühltes als ein wirklich objektivierbares Qualitätsmerkmal.
Schade finde ich allemal, dass sich das Tangobiotop immer mehr zu einer Art teurem Golfsport ohne Schläger und ohne Caddies entwickelt. Ob das nun wirklich im Sinne eines 'echten Tango' ist, wage ich zu bezweifeln.
Mit pekuniär-besorgten Grüßen aus Freiburg
Joachim Gutsche
Lieber Joachim Gutsche,
Löschenich dachte eigentlich weniger an „Penner“, sondern an einfache Arbeiter oder Arbeitssuchende. Zudem sind bei Wohnsitzlosen ziemlich alle Gesellschaftsschichten beteiligt – durchaus auch Akademiker. Auch die sind nicht gefeit gegen Schicksalsschläge, die einen aus der Bahn werfen können. „Unterbelichtet“ sind (oder waren) da die wenigsten.
Zum pekuniären Aspekt habe ich schon einen Artikel verfasst:
https://milongafuehrer.blogspot.de/2017/05/die-scheine-trugen.html
Wenn Veranstaltungen wirklich professionell durchgeführt werden (leider im Tango nicht gesagt), halte ich Milonga-Eintritte um die 10 € nicht für übertrieben.
Ich habe mir das Dresdner Programm einmal angesehen: Mit einem „Tango-Pass“ kommt man für je knapp 10 € selbst in die großen Bälle. Diese kosten einzeln um die 30 € mit einem international bekannten Tangoorchester - da zahlt man bei einem Helene-Fischer-Konzert wahrscheinlich mehr für ein Ticket. Ein Workshop kostet pro Person und Stunde knapp 20 €, auch das liegt in der Größenordnung einer Nachhilfestunde bei einem ausgebildeten Lehrer und deutlich unterhalb dessen, was man im Handwerk schon für einen Gesellen verlangt. (Und ob ein Handwerker stets etwas Substanzielles und Dauerhaftes schafft, sei dahingestellt….)
Bis zur „Golf- und Porschegesellschaft“ ist da schon noch ein weiter Weg. Ich habe jedenfalls nicht den Eindruck, dass Menschen sich wieder vom Tango verabschieden, weil er ihnen zu teuer ist. Dann müsste uns bei der „Wohnzimmer-Milonga“ (bei 0 € Eintritt) das Prekariat die Tür einrennen. Habe ich noch nicht feststellen können…
Was man persönlich unbedingt braucht oder nicht, ist individuell verschieden. Ich halte wenig von Workshops oder Festivals, schon gar nicht im tangomäßig vermuffelten Dresden. Stattdessen besuche ich kleine, „unangesagte“ Milongas mit oft sehr anregender Musik, wo mich die „Tango-Highsnobiety“ in Ruhe lässt – zu einem Eintrittspreis von oft nur 5 €. Ich würde für diesen Vorzug allerdings gerne auch das Doppelte zahlen!
„Elite“ bemisst sich für mich an einer offenen, unverkrampften und emotionalen Herangehensweise und nicht an großen Ballsälen plus Showtänzen von Weltstars.
Besten Dank für den Beitrag und herzliche Grüße
Gerhard Riedl
Seit längeren lese ich diesen, in meinen Augen, hochinteressanten Block.
AntwortenLöschenZu der Aussage "...bis jetzt habe ich auf einer Milonga noch keinen unterbelichteten Penner mit Fuselvorrat im Flachmann erlebt...." gebe ich den Vorredner teilweise recht, zumindest was den Fuselvorrat betrifft, bisher ist mir auf den Milongas nichts dergleichen aufgefallen...
Allerdings finde ich den Begriff "unterbelichteten Penner" nicht ganz zutreffend.
Auch wenn ich mich jetzt oute, aber aufgrund meiner Schulbildung (Hauptschule) klassifiziere ich mich als Arbeiter und rutsche in dieser Penner - Klasse.... ;-) .... und kann sehr gut damit leben...
Leider spielen aufgrunddessen die Kosten der Workshop und Milongas für mich eine tragende Rolle, aber seit ca. 7 Jahren konnte dies nicht meine Tanz Leidenschaft schmälern. Denn wie von Hr. Riedl Gehard bereits erwähnt, sind die kleinen, teilweise unbekannten Milongas erfahrungsgemäß auch relativ günstig und abwechslungsreich. Bitte verzeihen Sie die etwas holprige Formulierung...
Viele Grüße aus Dachau mit der einzigartigen "Milonga de 12Tandas"
Also, wenn schon, dann ist für mich "Arbeiter" das Gegenteil von "Penner".
LöschenUnd "unterbelichtet"... da kenne ich auch etliche Akademiker, auf welche diese Beschreibung voll zutrifft.
Ja, es gibt Orte, wo die "Subkultur Tango" noch lebt. Wer es nicht glaubt, der kann sich heute Abend in Dachau davon überzeugen.
Herzlichen Dank für den Beitrag und beste Grüße!
Apropos: Gestern gab es in Dachau einen Überraschungsauftritt der Gruppe „Baldosa Floja“. Wunderschön! Facebook-Kunden können sogar ein kleines Video sehen:
Löschenhttps://www.facebook.com/groups/348666052170764/?multi_permalinks=479482859089082¬if_id=1507072424237844¬if_t=group_activity